molochronik

Schnellschach mit Kopfab: The Last Samurai

Eintrag No. 41 - Zuvörderst: Ohne übergreifende Kenntnis der japanischen Geschichte zu haben, ahne ich doch, daß die Art wie sich dieses Land nach den Kanonaden der amerikanischen Schwarzen Schiffe von Anno-ungefähr 1870 öffnen MUSSTE, nicht okey war. Da teile ich jene vagen Symphatien für ein Land, das sehr schmerzlich die Entwicklung der Moderne vollzogen hat. - Also, mal gucken, wie ein US-Film da bestehen kann, obliegt ihm doch sozusagen die Pflicht, eine Versöhnung anzubieten. So zumindest nahm ich den Nimbus des Filmes vor Betreten des Turm-Kinos wahr.

Dem Japanischen wird in der Tat gehuldigt, angefangen mit der hervorragenden Ausstattung (die Samurai-Rüstungen sind beeindruckend), über die exzellenten Kampfszenen (gut vermittelt, daß Schwertkampf quasi tödliches Schnellschach der Körper ist, bei dem die Klingen Matt setzten) bis zum monatelang blühenden Kirschbaum (wie meine Kino-Begleitung Andrea mäkelnd bemerkt hat; aber auf's Mosern über solche Kleinigkeiten muß man immer röhren: "Eyh, das ist ein Film, noch dazu aus Hollywood". Damit wischt man läppische Einwände vom Tisch und spricht zugleich dem US-Studiobetrieb jede echte Mündigkeit ab). Zu meinem Mißfallen aber war es mit derartiger Respektsbezeugung bei der Musik zuende.

Der eigentlich Besseres zu bieten wissende Hans Zimmer (für Flauberts Wörterbuch der Gemeinplätze: "Unser Mann in Hollywood") hat für den Film nicht tief in seine Trickkiste gegriffen und nur eine recht einfaltslose, sich auf Bombast und Schmissigkeit verlassende Filmmusik geschrieben, in der eine japanische Alibi-Flöte und ein paar Trommler das ganze Lokal-Ambiente stemmen müssen. Leider keine stimmige Arbeit wie bei Gladiator, ehr ein Es muß krachen-Score a la The Rock. Herrgott, selbst der futuristische Akira hat mehr traditionelle japanische Musik als The Last Samurai.

Gut gefallen hat mir: das Spiel von Ken Watanabe als Ober-Samurai-Rebell. DAS ist hier der Schauspieler, wegen dem man sich den Film gönnen sollte. / Tom Cruise Eröffnungsauftritt als Propagandaschreier für Winchester-Knarren. Das kann der Bub. Schöne Variante seiner Gerichtsrede in Eine Frage der Ehre oder seines Sextrainerauftritts in Magnolia / Erster Kampf im Nebelwald bis zum Tod des roten Samurai. Dieser Kampf, bei dem eine berittene Rebellen-Samuraiattacke die schlecht ausgebildeten kaiserlichen Armeen westlichen Stils niedermacht. Cruise verteidigt sich atemberaubend, und ein Bogen wird zur Eröffnungsszene des Films gebildet, in der Watanabe von einem wilden weißen Tiger träumt (so voll auf Zen halt). Diese Kampfsequenz legt es darauf an, daß man einfach nicht fassen kann, wie lange sie dauert, wie sehr sich Cuise verausgabt obwohl er umzingelt und unterlegen ist, wie lange er erbittert den Todesstoß abwendet. Sprich: das Schicksal klopft mächtig an die Zuschauerstirn. Wieder mal versucht ein Film zu veranschaulichen, WIE schwer es ist, einen Menschen zu töten. Und Andreas Deutung ist ganz richtig: Cruise und seine scheinbare Unüberwindlichkeit in seinem Todeskampf ist die Urszene, zu der Monty Pythons Die Ritter der Kokusnuß die Parodie ist. Ha, das ist doch nur eine Fleischwunde. Komm her, ich spuck dir in's Auge und blende dich! / Der Ninjaüberaschungsangriff mit Hausgefecht. Bemerkenswert: kämpfendes Kind. Delikater Topos und - ich prophezeie - wird in den nächsten Jahren vermehrt auftauchen. / Erstes Gespräch zwischen Cruise und Watanabe. / Wetten beim Training. / Cruise bei Flucht von Watanabe als Übersamurai, filmisch gestaltet mit Zen-Schnittfolge.

Einige Handlungsstränge (Watanbes Sohn, die Witwe des roten Samurai) hängen noch lose baumelnd herum, aber ich nehme mal an, daß dieser Film von Beginn dahingehend konzipiert wurde, daß er der durch Peter Jackson losgetretenen Special Extended Edition-Welle folgen kann.

Cruise nimmt als herausgestelter Star dem Film viel Kraft, oder anders: läßt ihn in meinen Augen zumindest arg als einen weiteren "Lektion in großer Geschichte für einfache Amerikaner"-Film erscheinen, von denen Steven Spielberg seit Jahren einen nach dem anderen dreht, mal besser, mal schlechter. (Edward Zwick weiß da auch nix besseres und in mir keimt der Verdacht, daß es nicht Herr Zwicks Produzentenhändchen war, welches für die Gelungenheit von Shakespeare in Love verantwortlich war.) Obwohl: inzwischen habe ich gelernt darüber zu schmunzeln und freu mich halt zur Abwechslung bei Filmen wie Master & Commander. Trotzdem: Cruise leistet seinen Karthasisparkur, den die Drehbuchschreiber ihm da ausgelegt haben, mit nervigen 9,2 in der A- und respektablen 8,0 in der B-Note ab.

Ach, und weil ich mit Andrea darüber am meisten diskutiert habe nach dem Film: der schrullige Veteran-Trainer-Offizier der US-Armee zu Beginn war wohl doch nicht John Cleese. Andererseits: selbst bei imdb.com kann ich weder die Rolle noch ihren Darsteller finden und das läßt mich nun wieder glauben, daß dies vielleicht doch ein Cleese-Cameo war.

Molos Wochenrückblick No. 56

Eintrag No. 718 — Welche Gemeinsamkeit haben »Thor«, »Hanna«, »Scream 4«? Sind alles Filme, die ich gerne auf Englisch im Kino sehen würde, aber seit es kein Turm-Kino mehr gibt, ist das frankfurter Angebot englischsprachiger OV-Filme erschreckend zurückgegangen. Ich erlaube mir etwas zu grummeln.

Gibsert Haefs: »Die Rache des Kaisers«, Goldmann Taschenbuch, 2011. Klick auf das Bild führt zu einer Leseprobe der ersten 40 Seiten.Lektüre: Seit ich als Jugendlicher über den Haffmans-Verlag das Schaffen von Gisbert Haefs kennen- & schätzen gelernt habe, gehört er zu den Autoren, deren Bücher mich seit vielen Jahren begleiten. Haefs hat als Krimi- (›Balthasar Matzbach‹-Romane) & HistoAbenteuer-Fabulant (»Hannibal«, »Alexander«), als Übersetzer & Werksausgaben-Herausgeber (Sherlock Holmes, Ambrose Bierce, Rudyard Kipling, Jorge Luis Borges) und als Selbsteinsprecher eines Hörbuches (»Roma. Der erste Tod des Marc Aurel« ist eines meiner Allzeit-Lieblingshörbücher) bewiesen, dass er einer der ganz wenigen hiesigen Gegenwartsautoren ist, die es druffhaben, die Tradition klassischer Unterhaltungs-Genre gekonnt fortzuführen. — Entsprechend habe ich mir die Taschenbuchausgabe der neuesten Unternehmung von Haefs besorgt, »Die Rache des Kaisers«. Der Roman erzählt die Geschichte von Jakob Spengler, der 15 Jahre alt ist, als er Anno 1519 vom Waldrand aus beobachtet, wie eine Schaar Söldner sein Heimatdorf niedermetzelt. Die Gesichter der vier Anführer prägen sich Jakob ein. Einige Jahre begleitet er als ›gefundener Sohn‹ einen orientalischen Diplomaten und dessen beiden Krieger-Diener, dann macht sich Jakob auf, die Schlächter seiner Familie zu suchen. Bisher habe ich das halbe Buch durch und finde es angenehm kurzweilig. Das Chaos und die Grausamkeiten der Bauern- & Söldner-Aufstände & Reformations-Unruhen sind passende Gelegenheiten, um kritische Gedankengänge über Religion, Gott, Abkehr vom Glauben, soziale Ungerechtigkeit und dergleichen einzustreuen. Wie immer versteht es Haefs, knapp und ohne langes Gefasel ein lebendiges Ensemble zu schaffen, Orte zu beschwören, komplexe Zusammenhänge zu erklären. Geschickt werden die ernsteren und abenteuerlichen Passagen abgewechselt durch beispielsweise romantische, zünftige oder alberne Stellen. Wenige Unterhaltungsautoren beherrschen diesen Kniff. — Ich liebe es, wenn plötzlich in einer eigentlich ziemlich harten Rachegeschichte wie hier, solche Sachen abgehen: Jakob und Freund / Waffengefährte Avram verbringen schwermütige Tage in Venedig und verfallen beim Wein in folgenden Dialog (Seite 204). Avram fragt, mit welchem Spitznamen Jakob Venedig bedacht hat:

»Kanalrattenstadt«, knurrte ich, »mit Wänden voller Kanalrattenschatten.« {…} »Schlafen Ratten auf Matten? Werfen dabei Kanalrattenmattenschatten?« Er {= Avram} rülpse leise: »Das will erwogen sein. Wenn sich zwischen platten Schatten satte Ratten matt begatten…«

Meine Freude am neuen Roman von Gisbert Haefs ist eine passende Gelegenheit, einige Erzähl-Tugenden zu benennen, welche »Die Rache des Kaisers« beispielhaft auszeichnen, und die ich allen Genre-Autoren zur inniglichen Beherzigung nahelegen möchte: — 1) Überkandidelte Sprache braucht kein Mensch. Aber es steht auch vornehmlich auf Unterhaltung abziehlenden Reissern gut an, die Prosa (natürlich passend zum jeweiligen Stoff) hie und da mit kleinen Sprachkapriolen zu würzen. — 2) Zeiträume können ruhig übersprungen, die Schilderung von Ereignissen gerafft werden. Haefs führt das glänzend vor. Abenteuerliche Romane werden nicht unbedingt besser, wenn sie aufgebläht werden, weil sie immer eng am Zeitstrahl entlangkriechen. Die Darstellung von Lebensabenteuern werden nicht zwangsweise ergiebiger, wenn man alles was vorfällt ausbreitet. — 3) Ruhig ab und zu einige Originaltöne einflechten. So bringt Haefs seinen Lesern die schreckliche Plünderung Roms durch spanische und deutsche Söldnertruppen durch Ausszüge aus der Chronik eines gewissen Gregorius oder Georgius nahe; zitiert die Nachwehen des Grauens durch die Schriften des Landsknechthauptmanns Sebastian Schertlin von Burtenbach. Früher im Roman listet der Icherzähler Jakob die Forderungen der aufständischen Bauern in deutschen Landen auf. So lassen sich geschickt die Kleinigkeiten von historischen Panoramen auffächern. — 4) Wiegesagt: Keine Angst vor Albernheiten oder ›Sentimentalitäten‹ oder blumigen Sprachbildern. Hier eine für meinen Geschmack besonders gelungene Stelle, wenn Jakob, inzwischen gute 20 Jahre alt, eine letzte Nacht bei seiner Geliebten Laura in der Nähe von Venedig verbringt, bevor er sich wieder auf den Weg macht, sich an den vier Mordbrennern zu rächen:

Für Laura und mich wurde es eine lange weiße Nacht. Zwischendurch gab es etwas, das ich nicht Liebe nennen mag, eher einen verzweifelten gegenseitigen Angriff; der Rest war Reden, Fragen, Nachfragen, Vorwürfe. Und Laura war nie schöner als in jener Morgendämmerung, da sie neben mir lag, auf den rechten Ellenbogen gestüzt, die Honigkaskaden des Haars über Schulter und Brust. Schön wie ein geschliffenes Schwert. Als es mir das Herz schlitzte, als ihre Augen Leid sprühten und dabei trocken blieben, hätte ich gern geweint.

Jakobs Abenteuer werden im Oktober dieses Jahres mit »Das Labyrinth von Ragusa« fortgesetzt.

Netzfunde

  • Reiseberichte sind immer eine gute Lektüre. Ich durfte zuhause in den letzten Tagen schon Andreas Begeisterung für die »Russische Reise« von John Steinbeck & Robert Capa aus dem Jahre 1948 erleben. Ein Hoch auf die Büchergilde Gutenberg und die von Illja Trojanow herausgegebene Reihe ›Weltlese‹. Hier eine ausführliche Empfehlung von Thomas Hummitzsch für das Portal ›Glanz & Elend‹: Menschen wie du und ich.
  • Hatte noch keine Zeit für gründliche Lektüre des Eintrages Imagination im Online-Philosophie-Lexikon der Universität Standford. Wird aber noch erledigt.
  • Es ist mir immmer ein Vergnügen, wenn respektable Literaturkritik sich Sachen vornimmt und zudem lobt, die von feuilletonistischen oder akademischen Kreisen leider allzuoft links liegen gelassen werden. Hier bei ›Literaturkritik.de‹ bricht Ole Petras eine Lanze für DEN Meister der erotisch angereicherten ›langbeinige Grazien‹-Comics: Sex in Zeiten der Anarchie: Zur Milo-Manara-Werkausgabe, am Beispiel des Comics »El Gaucho«.
  • Folgendes ist so irre und doch passend, als ob Metallica Beethoven-Symphonien interpretieren würden. Für die ›Financial Times‹ hat Stephen Fry ein Interview mit Lady Gaga geführt. Atemlos las ich Frys Bericht und lauschte dem Treffen dieser außergewöhmlichen Künstler im kompletten Interview, wenn Fry und Gaga locker mit Oscar Wilde, Bert Brecht und Thomas Mann um sich werfen. — Hier als Zugabe ein Link zum ersten Teil vom HBO Special: Lady Gagas Monster Ball. Und jetzt dürft Ihr Euch aufhören zu wundern, dass ich was mit Lady Gaga anfangen kann. »The Fame Monster« und »Born This Way« sind gloriose Meisterwerke der überproduzierten Popmusik und wie Fry auch, habe ich mir bei den ersten Musik-Videas von ihr gleich »Aha, Verfremdungseffekt! Kabarett!« gedacht und den Wahnsinn für gut beheissen.

(Deutschrachige) Phantastik-Links

  • Ich selber werde wahrscheinlich kaum dazu kommen, an der SF-Challange des Schweizer Anlegestelle für Bibliophile ›raVenport‹ teilzunehmen. Aber die Aktion findet meine Sympathie und ich bin gespannt auf die Beiträge.
  • ›Fictionfantasy‹ und ›Literatopia‹ präsentieren Der Phantast No 2: Dunkle Zeiten, 82 satte Seiten, diesmal mit deutlich verbessertem Layout, feinen Illustrationen von Frank Melech, und lesenswerten Artikeln und Rezensionen. Besonders freuen mich die Besprechungen zu Karl Capeks »Der Krieg mit den Molchen«, zu Paolo Bacigalupis »Biokrieg« und der begonnenen Gesamtausgabe von »Valerian & Vernonique« von Jean-Claude Mézières & Pierre Christin.
  • Das lobe ich mir. ›Deutschland-Radio: Wissen‹ hat ein kurzes Feature über RETRO-FUTURISMUS: Der Steampunk erobert Deutschland gebracht und diesbezüglich jemanden interviewt, der bescheid weiß: Clockworer-Kapitän Serenus Zeitbloom.

Zuckerl

  • ›peacay‹ bietet in seinem erstaunlichen Blog ›BibliOdyssey‹ wieder mal eine Gemme der Illustrationskunst: Peter Pan in Kensington Gardens, mit Arbeiten des unvergleichlichen Arthur Rackham zu James M. Barries Meisterwerk.
  • Der geniale John Coulthart hat für ›Tor:Com‹ eine Übersicht zusammengestellt: H.P. Lovecraft’s Favorite Artists, die solch illustre Meister der graphischen Seltsamkeiten und Extra-Devi-Vaganz wie Heinrich Füssli, Francesco Goya, John Martin, Gustave Doré, Sidney Syme, Nicholaus Roerich, Anthony Angarola und Virgil Finlay, versammelt
  • Sehr appart finde ich gelungene Mischungen aus Horror und Niedlichkeit, wie z.B. das ›2photo‹-Portfolio von Tony Sandoval zeigt. Besonders grauslig-niedlich finde ich diese nackte Schönheit mit Monster-Eingeweiden; — diese im Wasser sich spiegelnde Geistererscheinung; — und diese umschlungenen Skelette, die mich an eines der besten Roman-Enden aller Zeiten erinnern (»Der Glöckner von Notre-Dame« von Victor Hugo).
  • Nostalgie-Anfall! Beim Stöbern in iTunes habe ich entdeckt, dass Nik Kershaw immer noch vor sich hin bosselt. Als Teen war ich ein großer Fan seiner Alben »Human Racing« und »The Riddle«. Inzwischen hat er seine alberne Haarpracht abgelegt und sieht er aus wie ein richtig handfestes englisches Mannsbild. Und ich bin entzückt, über die Akustik-Version seines Hits »Wouldn’t It Be Good«, zu finden auf dem Album »No Frills«.
  • Im ›Ich höre gerade‹-Thread bei SF-Netzwerk bin ich dank eines Tipps von Kopernikus aufmerksam geworden auf Venice Classic Radio.
  • Zum Schluss ein wenig derbe Bildungshuberei. Zu meinen liebsten Musik-Schätzen gehört die »Madrigal History Tour« der King’s Singers (begleitet vom ›Consourt of Musicke‹ unter der Leitung von Anthony Rooley). Unter den aus Deutschland stammenden Liedern der Sammlung befindet sich »Vitrum Nostrum Gloriosum«, und so klingt das schöne lateinische Sauflied in der Aufnahme der King’s Singers selbst (hier in der Fassung der TV-Serie zur geschichtlichen Madrigal-Europareise). Der Text geht so:
    Vitrum nostrum gloriosum, Deo gratissimum. O, vitrum! Levate! Fac, fac, bibe totum extra, ut nihil maneat intra, Depone! Hoc est in visceribus meis. Prosequamur laude!

    Und wenn ich die englische Übersetzung des Beiheftes der CD ins Deutsche übersetzte ergibt sich folgender Inhalt:

    Unser herrlicher Kelch, zum höchsten Gefallen Gottes. Oh Kelch! Hebt ihn hoch! Kommt, trinkt ihn aus bis auf den letzten Tropfen. Hinunter damit! Ich fühle wie es {das Getränk} mich innerlich wärmt. Lasst unser Lob sich ihm anschließen.

    Und es gibt noch Winkel in der Welt (kann jemand das Schild das ab und zu rechts oben im Bild zu sehen ist entziffern?), wo nicht gelehrte Sänger sondern das gewöhnliche Volk rustikal dieses Lied anstimmen: Vitrum nostrum gloriosum.

••••• Flattrn Sie diesen Eintrag, wenn Sie der Meinung sind, dass er etwas wert ist. 

Thomas Pynchon: »Gegen den Tag«, oder: Leinen los, oh Ihr Gefährten der Fährnisse!

{Diese Rezension erschien ursprünglich in »Magira 2009 — Jahrbuch zur Fantasy«, Hrsg. von Michael Scheuch und Hermann Ritter. Hier nun korrigiert und exklusiv um einige weiterführende Links erweitert.

>>>> Hier gehts zum Trailer der Sammelrezi mit Introdubilo und Warentrenn-Überleitungen.}

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Thomas PynchonEintrag No. 614 — Eingedenk meiner eigenen, in der Erschöpfung versackten Ersterfahrung mit Thomas Pynchon (1937) und seines Rufes, ein Autor extrem vertrackter Romane zu sein, bin ich erstaunt, wie leicht es mir gefallen ist, »Gegen den Tag« zu verschlingen. Immerhin brechen sich an Pynchon, genauer gesagt seinem Werk (denn der Mensch Pynchon ist extrem medienscheu und entsprechend wenig greifbar, von Mythen und Kolportagen abgesehen), seit dem Erscheinen der fulminanten Phantasmagorie »Die Enden der Parabel« (Amerikanisch 1973 als »Gravities Rainbow«, deutsch 1981) die Diskurswellen über das, was man ›postmoderne‹ Literatur nennt. Für die einen hat sich Pynchon durch diesen abseitigen und ungestümen Roman, der mit Bananengemansche beginnt, und dann Raketen-Ballistik und Erektionen, Mathematik und Esoterik, Halluzinationen und Rausch vor dem Hintergrund der Kriegsjahre 1944/45 auffährt, als König der versponnenen Großfabulierer etabliert. Für die anderen ist dieser Roman ein Musterexempel verwirrender und sinnloser Geschmacks- & Planlosigkeitszumutungen. Bis dato bin auch ich noch nicht wirklich warm geworden mit »Die Enden der Parabel« und habe das Trumm nach einem Drittel erstmal beiseite gelegt, unter anderem weil mich beispielsweise ein seitenlanges Fäkaldelirium vor den Kopf gestoßen hat, bei dem eine Figur im Tagtraum einen Kloabfluss hinabgespült wird[01], aber vor allem, weil Pynchon hier den Kniff des fließenden Perspektiven- und Ebenenwechsels derart auf die Spitze treibt, dass ich allerweil auf nebenbei gemachte Notizen zurückgreifen musste, um nicht völlig die Übersicht zu verlieren. Klarer Fall: ein Buch für mehrere freie Tage und dann heißt es, mit wenig Schlaf und mit Schmackes einfach durch. Immerhin gibt’s auch fetzige Erzphantastik nach meinem Gusto, zum Beispiel wenn ein Tagtraum äußerst munter schildert, wie eine Riesenamöbe London unsicher macht und wie man ihr vergeblich beizukommen trachtet.

Ganz anders der Riesenroman »Gegen den Tag«, der mich von der ersten bis zur letzten Seite derart heftig mitgenommen und für Pynchon eingenommen hat, dass ich in rascher Folge seine beiden ersten Romane »V.« (1961, dt. 1968) und »Die Versteigerung von No. 49« (1966, dt. 1973) las, und siehe: vor allem zweiterer ist alles andere als sperrig.[02]

Einige Leserstimmen intonierten den vertrauten Klagegesang über den zerfaserten Handlungsverlauf von »Gegen den Tag«, vermissen einen klar ersichtlichen Hauptplot der einen bei der Stange hält. Zudem tummeln sich in dem dicken Ding etwa eineinhalb Dutzend Hauptfiguren und zig Neben- und Randfiguren, und die Pausen zwischen Absetzten und Wiederaufnehmen eines Hauptfigurenstranges können bei diesem Übertausendseiter schon mal hundert Seiten und länger sein. Mit der Erwartungshaltung »Ich will einen klar verständlichen Plot!« wird man hier sicher nicht froh, und ich verweise daher auf dessen ausgeprägten Panorama-Charakter. — Kurzer Geschichtsausflug: als Panorama wurden im 19. und 20. Jahrhundert jene begehbaren, mit allen Tricks der illusionserzeugenden Theatermalerei- und Kulissenkunst ausgestatteten 360°-Rauminsterllationen bezeichnet, in denen sich das wunderschausüchtige Publikum in den wuchernden Großstädten der ersten Welt vergnügen konnte. In solchen Panoramahäusern konnten zuhause gebliebene Ottonormalverbraucher sich einen Eindruck verschaffen von Eiswüstenein, neuweltlichen Pionierlandschaften, oder Schlachtengetümmel.[03] — Nun sind Romane zwar keine überdimensionierten Wimmelbilder, über die der Blick der Betrachter frei schweifen kann, denn Leser sind genötigt, sich linear von der ersten bis zur letzten Seite durchzufräsen. Jedoch ermuntern gelungene Romane dazu, nachdem man alles gelesen hat, die Gesamtschau im eigenen Kopf zu veranstalten. Einerseits ist die bildnerische Gesamtschau von »Gegen den Tag« episch, enorm detailreich, und die Art, wie die thematischen Felder und Spannungen kombiniert oder auf- und gegeneinander gewichtet sind, scheint mir vom technisch-mathemathischen Verständnis des gelernten Ingenieurs Pynchon geprägt zu sein. Der Zwang zum linearen Erlesen lässt es andererseits zu, dass man Romanen eine gewisse Verwandtschaft mit den musikalischen Künsten andichten kann, und Pynchon ist nun ein Musikfan, vor allem ein Jazzfan, aber statt klarer Entwicklung bekommt man virtuoses Improvisieren geboten, mit allem, was zu dieser Kunst gehört, vom blödelnden Variieren der Situationskomik bis hin zur meditativen Versenkung in Stimmungen.

Auf welches Hauptthema man »Gegen den Tag« auch verkürzen will, man kann diesem Riesenschinken dabei nicht gerecht werden. Forsch drauf los behauptet, schlage ich vor, dass die große Themenlandschaft von »Gegen den Tag« aufgefaltet wird durch Fragen über die, und Zweifeln an der (Un-)Zielgerichtetheit der Geschichte der modernen Welt und ihrer Individuen. Dazu spannt das Buch einen Zeitbogen von der Großen Weltausstellung in Chicago 1893, bis knapp nach Ende des Ersten Weltkrieges. Eine ungeheure Milieu- und Umgebungs-Vielfalt wird aufgeboten um zu illustrieren, wie sich damals die Weltläufte beschleunigt und sich zerfasernd in jene unheilvollen Strudelbewegungen bezogen wurden, die zu den großen (größtenteils menschengemachten) Katastrophen des 20. Jahrhunderts führten. Den Reigen der Bösewichter führt dabei der vulgärkapitalistische Industriekapitän Scarsdale Vibe an, der seine gewissenlosen Handlanger unter anderem ausschickt, um unbequeme Bergarbeiter-Sozialisten zu meucheln. Von den gegen solche wie Vibe revoluzzenden Verkündern des Evangeliums des Sabotage-Dynamits bringt einer, Moss Gatling, den »Gegen den Tag« und gegen die Kontroll- und Unterwerfungsabsichten gerichteten Impuls des Widerstands mit folgenden Worten auf den Punkt:

Aber wenn ihr einen Punkt in eurem Leben erreicht, wo ihr begreift, wer wen bescheißt – vergib mir, Herr –, wer nimmt und wer nicht, dann seid ihr verpflichtet, euch zu entscheiden, mit wie viel ihr euch einverstanden erklärt. Wenn ihr nicht jeden Atemzug eines jeden Tages, ob im Wachen oder im Schlafen, an die Vernichtung jener wendet, welche die Unschuldigen so leichthin schlachten, wie sie einen Scheck unterschreiben, wie unschuldig wollt ihr euch dann nennen? Dieser Frage müsst ihr euch jeden Tag neu stellen und zwar in dieser Absolutheit.[04]

Egal, wie sehr man sich nun dafür ins Zeug legt, Pynchon zum Großmeister der engagierten, modernen Anspruchsliteratur zu stilisieren, man mindert den Status dieses Autor keineswegs, wenn man ihn ›nur‹ als Lieferanten ausufernder Abenteuerlichkeiten und Blödeleien nimmt (inklusive alberner und zotiger Lieder, die von den Figuren immer wieder angestimmt werden). Die für die E-Literaturmedien schreibenden Rezensenten drücken sich nicht selten davor, auf die ausgesprochen heftigen Phantastikstrahlung von »Gegen den Tag«hinzuweisen, doch hier, in einem Phantasten-Blog, ist dieser Aspekt des Buches natürlich besonders zu betonen.

Den deutlichsten roten Phantastikfaden liefern die an die ›scientific romances‹ von H. G. Wells und die ›voyages fantastique‹ von Jules Verne erinnernden Luftschiffabenteuer der ›Gefährten der Fährnisse‹[05] (deren Vornamen — Chick, Miles, Lindsay, Randolph und Darby — alle von Größen des Jazz entliehen sind; außerdem gehört noch der intelligente Hund Pugnax zur Crew). Da wird die Hohlwelt durchquert, oder sich so weit in astrale Höhen vorgewagt, bis man in Gegen- und Nebenwelten wieder runterkommt. Auch wühlt man sich in einem Land-U-Boot unter der asiatische Wüste hindurch, um in Städten, die schon vor langen Zeiten vom Sand verschluckt wurden anzudocken.

Geisterhafte Erscheinungen treten regelmäßig auf, mal in Gestalt einer jungen Frau (Yashmeen Halfcourt), die so grazil und anmutig ist, dass zuweilen das Licht durch sie hindurchscheint; mal als Vatergeist, der bevorzugterweise bei Eisenbahnfahrten oder im Traum einem seiner Söhne als anspornender Rachemahner erscheint; mal als grausamer österreichischer Offizier, der aufgrund seines Sadismus als Vampir gilt; ein andermal treibt ein gutbetuchter englischer Dandy seine nocturale Empfindsamkeit soweit, dass er vorzieht wie eine Fledermaus im Keller kopfüber schlafend zu verbringen. – Verschiedene nach der Weltherrschaft strebende Mächte strecken ihre Hand nach dem geheimnisvollen Islandspat aus, das die Eigenschaft besitzt, Dinge die man durch ihn sieht zu verdoppeln. Das Motiv der Verdoppelung wird weitergetrieben zur Bifuraktion, was einige Figuren bis hin zur Kunst bringen, zugleich an zwei Orten zu sein, zum Beispiel, wenn jemand bequem im Sessel liest, und sich zugleich in der Arktis befindet. — Auf Konferenzen beschäftigen sich Wissenschaftler seltsamer Disziplinen mit den Möglichkeiten der Zeitreise und den Geheimnissen des Aethers, oder trachten danach, die Turbulenzen und Vibrationen von Tornados in Sprache zu übersetzten, um im entsprechenden Code mit den schicksalsmächtigen Wirbelwinden kommunizieren zu können. — Ein indischer Yoga-Wissenschaftler, beherrscht die Kunst, durch komplizierte Verrenkungen (sprich: dimensionale Krümmungen des Raumes) sein körperliches Aussehen (bis hin zum Geschlecht) zu verändern, so wie unsereins mittels Fernbedienung den Sender wechselt. — Zeitreisende aus der Zukunft, und Flüchtende von den Massakern der kommenden Weltkriege und womöglich auch der ihnen folgenden Stellvertreterkriege des Kalten Krieges und des Krieges gegen den Terror schleichen durch die Welthintertüren. — Ein sprechender, gutmütiger Kugelblitz, begleitet kurz eine Familie. — Ein den Atlantik überquerendes Passagierschiff verwandelt sich gleitend in ein Schlachtschiff. — Mit einem raffinierten Lichtspielapperat kann man nicht nur aus einem beliebigen Photo die Vergangenheit wieder erscheinen lassen, sondern bei entsprechender Manipulation der analysierten Lichtkonserve lassen sich auch alternative Seitenpfade des Möglichkeitsgeflechts ersehen.

Das größte phantastische Ereignis wird in »Gegen den Tag« von einer Katastrophe verursacht, die nur zu deutlich zeigt, was die tatsächlichen kosmischen Bedrohungen aus der Wirklichkeit für alle menschengemachten Pläne sind: Naturkatastrophen, hier der Meteoreinschlag Tungkuska vom 30. Juni 1908. Es folgt eine kurze Kostprobe der Kapriolen, die in Pynchons Welt dem Kosmosschlag auf den Percussionskörper Erde folgen:

Noch eine Weile nach dem Ereignis liefen verrückt gewordene Raskolniki in den Wäldern umher, geißelten sich und gelegentliche Gaffer, die zu nahe kamen, und delirierten von Tschernobyl, dem zerstörten Stern namens Wermut aus der Offenbarung. Rentiere entdeckten ihre uralten Flugfähigkeiten wieder, die im Laufe der Jahrhunderte seit dem Eindringen von Menschen in den Norden verloren gegangen waren. Bei manchem regte die Begleitstrahlung die Epidermis insbesondere im Nasenbereich zu einem Leuchten am Rotende des Spektrums an. Stechmücken büßten ihre Vorliebe für Blut ein, eigneten sich stattdessen eine Vorliebe für Wodka an und wurden beobachtet, wie sie sich in großen Schwärmen in einheimischen Kneipen zusammenfanden. Uhren, auch Armbanduhren, gingen rückwärts. {…} Sibirische Wölfe kamen mitten im Gottesdienst in Kirchen, zitierten in fließendem Altslowanisch Stellen aus der Heiligen Schrift und gingen friedlich wieder hinaus. {…} Ganze Dörfer kamen zu dem Schluss, dass sie sich nicht dort befanden, wo sie sein müssten, worauf die Einwohner ohne große Vorausplanung schlicht zusammenpackten, was sie besaßen, zurückließen, was sie nicht tragen konnten, und sich gemeinsam in den Busch aufmachten, wo sie kurz darauf Dörfer errichteten, die niemand sonst sehen konnte. Jedenfalls nicht sehr deutlich.[06]

Ebenso reichlich geboten wird prickelnde Situationskomik (wenn ein kauziger Wild West-Fuzzi sich auf eine sinnliche Eskapade mit einem Schoßhündchen einlässt), haarsträubende Äktschn (wenn ein Abenteurer in einer Lebensmittelfabrik vom schrecklichen Tod durch Mayonnaise bedroht wird), bezaubernde Liebes- und Erotikabenteuer, Einblicke in Elends- und Luxuswelten mit all ihren durch von ideologischen, politischen, spirituellen und transzendenten Verblendungen befeuerten Intrigen. Zwar mag »Gegen den Tag« unverschämt vollgestopft mit Details und ausufernd bei seiner Weltenwanderei sein, aber folgt man den Rat von Pynchon-Veteranen, und schert sich (beim ersten Mal) einfach nicht um Fragen aufwerfende Stolperstellen, sondern liest mit gebotener Sturheit weiter, dann kann man wahrlich etwas erleben.

SERVICE:

Ausführliches Inhaltsverzeichnis zu »Against the Day«

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Thomas Pynchon: »Against the Day«, (2006); 70 Kapitel in 5 Teilen auf 1220 Seiten; Vintage Taschenbuch (Yuko Kondo-Cover Edition) , 2007; ISBN: 978-0-099-51233-2.

Thomas Pynchon: »Gegen den Tag«; Deutsch von Nikolaus Stingl und Dirk van Gunsteren; 1596 Seiten. Gebundene Ausgabe: Rowohlt Verlag 2008; ISBN: 978-3-498-05306-2. Taschenbuch: Rowohlt Verlag, 2010; ISBN: 978-3-499-24609-8:

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ANMERKUNGEN:

[01] Auch wenn dieser Passage in »Trainspotting« von Irving Welsh und seinem Verfilmer Danny Boyle Tribut gezollt wurde, ich fands sie nur grenzenlos unappetitlich. ••• Zurück

[02] Der Griff zu »Die Versteigerung von No. 49«, dem kürzesten Roman von Pynchon, sei als Einsteig für Neugierige angeraten, die bezweifeln die Ausdauer/Konzentration für seine dicken Romane aufbringen zu können. Am erstaunlichsten ist, wie dieser von Verschwörungsunsicherheiten gesättigte Roman trotz, oder gerade wegen seiner Kürze durch Ideenfülle und Quadruppel-Bödigkeit brilliert.

Auch »V.« ist reizvoll facettenreich, wenn auch schon formal schwerer, da sich hier verschiedenste Handlungsfäden und Episoden lange Zeit nur auf äußerst vage Art aufeinander beziehen. Doch auch bei V. macht die kunterbunte, humorige, manchmal sogar deftige Mischung aus Fabublödelei und hochtrabender Spekulation Laune. ••• Zurück

[03] Ein modern-einheimisches Anschauungsexempel bietet das thüringische Panorama Museum nahe Bad Frankenhausen, in dem ein zylindrisches Ölgemälde von Werner Tübke, im Format 14 x 112 Meter, mit über 3000 dargestellten Figuren, die Bauernkriege von 1524 in einer prächtigen Rundschaukunde präsentiert. ••• Zurück

[04] »Gegen den Tag«, Seite 133/134. ••• Zurück

[05] Im Original tragen sie den schmissigen Namen ›Chums of Chance‹, was auch als ›Kumpel des Glücks‹ übersetzbar wäre. ••• Zurück

[06] »Gegen den Tag«, Seite 1157 f. ••• Zurück

Michael Chabon: »Gentlemen of the Road«, oder: Juden mit Schwertern im Reich der Chasaren.

Eintrag No. 580 — Vier Tage frei. Da kann ich nicht die ganze Zeit mit dummen »GTA IV«-Multiplayergedaddel vertändeln oder mich mit der Übersetzung der Annotationen zum vierten »Sandman«-Sammelband abrackern (die übrigens in den nächsten Tagen folgt, hurrah!). Heute also eine Empfehlung zu ‘nem kurzweiligen (wenn auch sprachlich durchaus anspruchsvollem) Abenteuerroman des Amerikaners Michael Chabon (*1963), den ich im Laufe der vergangenen Woche als Arbeitsweglektüre fertiggelesen habe.

Um sich schnell zu orientieren, was »Gentlemen of the Road« bietet, reicht der Arbeitstitel (»Juden mit Schwerten«) und die vorangestellte Widmung (»Für Michael Moorcock«). — Juden mit Schwerter deshalb, weil der Roman etwa 950 n.d.Z. im Reich der zum Judentum konvertierten Chasaren, an der Westküste des Kaspischen Meeres, angesiedelt ist. Die Chasaren, ursprünglich ein nomadisch/halbnomadisches Turkvolk, hatten für einige Jahrhunderte eines dieser aus den Nebeln der Geschichte kommendes und wieder verschwindendes Königreich. Wenig ist bekannt. Sie kloppten sich mit den Arabern, pflegte ganz gute Beziehungen mit Byzanz, etwas heiklere Beziehungen mit den Rus von Novgorod und profitierten vom Vielvölkergewusel der Seidenstraße. Im 8. oder 9. Jahrhundert nahm die adelige Elite die jüdische Religion an (ob das Volk auch wechselte ist umstritten) und kannte eine Kaiser-(Bek) und Papst-(Khagan)artige Trennung von weltlicher und geistlicher Autorität. — Wie die Faust aufs Aug passt es, dass Chabon diesen Roman Michael Moorcock widmete. Ist doch Moorcock ein Großmeister der Schwert & Magie-Fantasy (egal, ob diese nun in magischen Zweitweltschöpfungen angesiedelt ist, oder in abenteuerlich aufgebrezelten historischen Epochen). Allein schon die beiden Helden von Chabon gemahnen an das Vorbild: da ist einmal der (schwarze), bärengroße, geselligere Amram aus Abyssinien, der eine runengeschmückte, langstielige Wikingeraxt genauso kunstvoll führt, wie die Figuren des Schatrandsch-Bretts (einem Vorläufer des heutigen Schach); und zweitens der hagere, bleiche Zelikman, letzter Überlebender einer bei einem Progrom getöteten jüdischen Arztfamilie aus dem (dunklen, nebligen, kalten, waldreichen und unkomfortablen) fränkischen Reich, der mit einer Aderlassklinge (sozusagen als Rapier-Vorläufer) ficht, mit seinen Pharmakas Heilung, Betäubung und Tod herbeizaubern kann und zwischen der Äktschn düster brütend an seiner Bhang(=Hasch)-Pfeiffe zuzelt.

Ohne festes Ziel, außer der Flucht vor den sie plagenden Traumata ihrer unglücklichen Vergangenheiten, sind sie als Trickbetrüger im Chasarenreich unterwegs und geraten dort in vertrackte Machtkampf- und Rachewirren. Da sollen Amram und Zelikman als Leibwache die Vergeltungsabsichten eines durch den Ursurpator Buljan gestürzten Chasarenprinzen, Alp, und dessen Schwester, Filaq, unterstützen. Trotz der Kürze geht es abwechslungsreich rund: es gibt unter anderem plündernde und mordende Rus-›Wikinger‹, Flüchtlingsströme, Pestkranke, Entführungen und nächtliche Befreiungen, Untertauchen und Erholung in einem Hurenhaus, Brettspielpartien um Leben und Tod, weit herumgekommende Kriegselephanten (mal nett, mal brutal), Vierteilungsvorbereitungen, nächtliches Eindringen in heilige Bibliotheken, Verkleidungstricksereien und Männer, die sich als Frauen entpuppen, Gebetsrunden für für dahinsiechende Kranke und Lagerfeuergastfreundschaft. Kurz: alles was ein ordentlicher Abenteuergarn braucht.

Krass (im, für mich, angenehm-erstaublichen Sinne) fand ich Chabons sprachliche Überinstrumentierung, die allerdings für einen kurzen Roman, der ja ein exotisches Flair haben soll, passt. Da strickt Chabon schon mal so lange Sätze mit vielen (für mich zumindest) seltsamen Vokabeln, dass mir ganz Lovecraft’isch zumute wurde und ich mich nebenbei ein wenig um Kulturgeschichte kümmern musste. Aber Chabons rüschenreicher Sti bringt auch süffige Dialoge hervor, so zum Beispiel (Seite 155):

»We’re glad to hear it {that Filaq is healed and only in want of a sword}«, Amram said, »but Zelikman and I have talked it over and come to the conclusion that you can’t possibly kill Buljan in his present estate. He is too powerful, too strong, too well protected and too well armed. I understand that you want revenge, Filaq. It is an impulse I know and respect. But it must not be heeded. It must be deferred. Now I can see that you’re about to open that big mouth of yours and pronounce the word ›coward‹, and so I have to warn you that if you offer such mistaken analysis of my character und that of my friend, who though admittedly prone to brooding and self-doubt is braver than any man I have ever known, excepting myself, I will be under an immediate obligation to kick your narrow pink ass.«

Gerade wegen der arabesken und zisilierten Sprache bin ich gespannt, wann dieses Büchlein (endlich) auf Deutsch erscheint, und wie es sich dann macht. Und freilich noch gespannter bin ich, ob die sehr gelungenen Zeichnungen von Meister Gary Gianni für die deutsche Ausgabe übernommen werden (ich prophezeie mal pessimistisch: werden sie nicht).

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Michael Chabon: »Gentlemen of the Road« mit einer Karte, Illustrationen von Gary Gianni; einem Nachwort des Autoren & Anmerkung zu den Chasaren; 15 Kapitel auf 196 Seiten; Del Rey Taschenbuch 2008; ISBN: 978-0-345-50850-8.
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