molochronik

Klappentext-Variationen mit Ju Honisch und »Die Quellen der Malicorn«

Mit einiger Verspätung, weil ich in den letzten Wochen vor lauter 200-Stunden-Plus-Brotjob, Angekränkeltsein & ›Nebenbei-Übersetzen‹ von Hellboy-Prosastories zu nix komme (von »GTA V« ganz zu schweigen … hüstel), ist es nun endlich so weit, dass ich folgenden wunderschönen Gastbeitrag von Ju Honisch aufbereiten konnte.

Ju ist nicht ›nur‹ (eine irre gut kochende!) Nachbarin & seit einigen Jahren meist meine Mitfahrgelegenheit zum BuCon im nahen Dreieich, zudem ist sie eine erfahrene Fantasy/SF/Filk-Haudegin (die ganz früher, wie ich auch, bei einem lustigen Fantasy-Verein war, der das »Fest der Fantasy« der Völker Magiras ausrichtet) die u.a. als studierte Anglistin & Historikerin richtig was auf dem Kasten hat, und durch ihre Verbindungen zu Kreativen & Fans des englischsprachigen Raumes über ein erkleckliches Maß an Genre-Weisheit gebietet.

Was mich darüber hinaus auf ganz besondere Weise mit ihr freundschaftlich und literaturleidenschaftlich verbindet, ist der Umstand, dass ich als Beta-Leser ihrer ersten beiden historischen Fantasy-Romane fungieren durfte (»Das Obsidianherz« und »Salzträume« {Band 1 / Band 2}).

Viel Vergnügen mit ihrem Beitrag über Wohl & Weh von Klappentexten. Cheers Alex / molo

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Vielen Dank an Molo, der mich auf sein Blog losgelassen hat, während ich weitere Ecken der Blogosphäre bereise.

Richtig? Falsch? Oder anders?

Klappen- oder Werbetexte sollen Anreize schaffen. Der potentielle Leser soll drauf gucken und sagen: »Ui, das klingt interessant! Das will ich unbedingt lesen!«

Aber Bücher lassen sich nicht gar so einfach in ein paar wenige Sätze zusammenfassen, schon gar nicht, wenn sie über 600 Seiten und mehr als nur einen Handlungsstrang haben. So ist es kaum verwunderlich, dass die meisten Autoren mit den Klappentexten, die die Verlage für verkaufsfördernd halten, oft nicht so ganz hundertprozentig konform gehen. Manchmal liest man sie und erkennt sein Buch nur in Bruchstücken wieder. Dann steht man vor den glatten Worten und möchte sagen: »Aber … aber … aber … es geht doch eigentlich um was ganz anderes?« — »Doch nur so verkauft sich’s«, sagt dann der Verlag. Und das ist schließlich ein Argument.

Ju Honisch: »Die Quellen der Malicorn« bei Heyne Taschebuch. In »Die Quellen der Malicorn« geht es u.a. um Macht und Machtmissbrauch. Damit verkauft man natürlich keine Phantastik. Und es ist ja tatsächlich nicht so, als würde einem irgendeine ›Lehre‹ um die Ohren geschlagen. Das Buch beschreibt ein Abenteuer, das mit wechselnden Personen in zwei verschiedenen Welten stattfindet, in unserer (in der Jetztzeit in Irland) und in Talunys, einem mythischen Reich, zu dem die geheimen Zugänge auf einmal wieder offen sind.

In der Phantastik ist Magie eine feste Größe. Sir Terry Pratchett schreibt

»any sufficiently advanced magic is indistinguishable from technology«.

Anmerk Molo: Auf Deutsch etwa »Jede hinreichend fortschrittliche Magie ist von Technologie nicht zu unterscheiden«, was freilich eine sinnreiche Umkehrung von Arthur ›2001‹ C. Clarkes Gesetzt No. 3 ist: »Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden.«

Damit gibt er dem Möglichen mehr Raum. Und er hat recht. Ein Flugzeug wäre einem Mittelaltermenschen als Magie erschienen. Und was uns magisch anmutet, mag wiederum nur eine Technik / Geistestechnik sein, die wir noch nicht ge- oder erfunden haben.

Was aber, wenn es in einer Welt Wesen gibt, die Magie beherrschen, und solche, die sie nicht beherrschen? Man kann schon davon ausgehen, dass es sehr schnell zu einer Zweiklassengesellschaft käme. Der Konflikt, der daraus entsteht, bietet mannigfaltige Möglichkeiten, ›Abenteuer‹ unterzubringen — auch in Harry Potter wird das schließlich thematisiert. Dennoch steht in keinem Klappentext:

Die Bücher von J.K. Rowling behandeln das Problem von Macht und Machtmissbrauch in einer modernen Gesellschaft, in der unterschiedlichen Menschen sehr unterschiedliche Technologien und Fertigkeiten zur Verfügung stehen, um Macht auszuüben und zu missbrauchen oder ein bestehendes soziales Gefüge so wie es ist zu erhalten, um die Rechte des Einzelnen zu sichern.

Mit dem Klappentext hätte niemand HP gekauft.

Ich mache mir also jetzt den Spaß und poste hier ein paar Klappentexte: alle für das gleiche Buch. Ich sage nicht, welcher es über den Verlag ins Internet geschafft hat, welcher auf dem Buchrücken steht oder welcher (meiner) in der Versenkung verschwunden ist:

Klappentext-Variation #1: »Abiturientin Una ist gerade von ihrem Freund verlassen worden, und statt des Party-Sommers in Spanien ist nun Urlaub mit den Eltern in Irland angesagt. Verständlich, dass sich Unas Begeisterung in Grenzen hält. Doch in Irland, der Insel der Mythen und Sagen, ist nichts unmöglich, und so findet Unas Langeweile bald ein Ende, als sie auf einer ihrer ausgedehnten Radtouren Kanura begegnet, der Una mit in seine Welt nimmt — die Welt der Einhörner und Nymphen. Dort entdecken die beiden nicht nur ihre Gefühle füreinander, sondern kommen auch einer Verschwörung auf die Spur, die beide Welten für immer zerstören könnte …«

Klappentext-Variation #2: »Nach Jahrhunderten bricht in der Welt Talunys erneut Krieg aus. Hier herrschen die friedliebenden Einhörner, das kunstsinnige Gestaltwandler-Volk der Tyrrfholyn. Im Kampf verschlägt es den Fürstensohn in die Menschenwelt, von wo er Una mit zurücknimmt. Una, eine emanzipierte, junge Menschenfrau mit Witz und Verstand, findet sich in einer Welt wieder, in der ein grausames Regime sich anschickt, alles zu unterwerfen, was es für minderwertig hält. Plötzlich geht es in diesem Krieg auch um ihr Leben und nicht nur um das eines Mannes, der sehr viel mehr ist als — einfach nur ein Mann.«

Klappentext-Variation #3: »Einst waren sie ein fester Bestandteil unseres Lebens, weise, friedvoll und verehrt: Einhörner. Doch sie verschwanden und wurden zur Legende. Das dachte auch Una, bis sie eines Tages an einer Quelle in Irland einem jungen Mann begegnet, der von sich behauptet, aus einer anderen Welt zu kommen und ein Einhorn zu sein. Bevor Una weiß, wie ihr geschieht, zieht er sie mit in sein Reich und damit in einen gefährlichen Kampf zwischen der guten Magie der Einhörner und der ihrer dunklen Gegner.«

Klappentext-Variation #4: »Irland hat Hunderte von gut verborgenen ›Heiligen Quellen‹. Seit der Christianisierung sind sie jeweils einem Schutzheiligen zugeordnet. Doch es gab sie schon vorher, und sie galten in jenen altkeltischen Tagen als Übergänge in die Anderwelt. In ›Die Quellen der Malicorn‹ sind sie das auch wieder, und die deutsche Touristin Una wird in eine andere Welt verschleppt, während mythische Wesen von dort nach Irland kommen. Gemeinsam mit Irene, einer irischen Musikerin aus Deutschland, und einer übriggebliebenen Göttergestalt des keltischen Mythos’ suchen sie nach der Lösung des Geheimnisses, das hinter all den rätselhaften und erschreckenden Ereignissen steckt.«

Lesern von 15 bis 95, so hatte der Verlag es sich gewünscht, sollte dieses Buch gefallen. Das ist eine eher weite Kategorisierung des Zielpublikums. Ich würde mich natürlich freuen, wenn ich den Geschmack eines so weiten Feldes getroffen hätte.

Ob das überhaupt geht? Und ob man all diese jungen und nicht ganz so jungen LeserInnen mit ein und demselben Klappentext ›kriegt‹, ist auch noch die Frage. Vermutlich hat der Verlag schon recht, wenn er etwas auf den Buchrücken schreibt, dass der ›großen Masse‹ am ehesten gefallen mag. Doch wer — um Himmels Willen — ist eigentlich diese viel zitierte große Masse?

Ich erlaube mir also zum Abschluss noch den üblen Streich, hier einen Klappentext zu verfassen, wie er vielleicht dem akademischen Bildungsbürgertum das gleiche Buch näher bringen und ihm gleichzeitig die Angst nehmen könnte, man würde das Abitur aberkannt bekommen, wenn man etwas liest (und auch noch zugibt!), in dem das Sagenhafte eine Rolle spielt. Ich weiß nicht mehr, welche deutsche TV-Liesl es war {Molos Link-Hinweis: ›Hust-hust‹}, die ihr wohlfundiertes Talkshow-Halbwissen dadurch aufwerten wollte, dass sie öffentlich erklärte, sie würde grundsätzlich nichts lesen, in dem so was wie Elfen, Hexen, Dämonen o.ä. vorkommen. Tja, Johann Wolfgang, da hättest du das mit dem Faust wohl besser lassen sollen. Das konnte ja nichts werden.

Klappentext-Variation #5: »Das Sagenhafte ist in uns angelegt. Seine Archetypen leben in unserer Seele und prägen unser Denken und Fühlen. Doch was, wenn sie einer fernen Realität entspringen und plötzlich und unvermutet in unser Leben treten? Die junge Deutsche, Una, macht Urlaub in Irland, als sich die Tore  zur Anderwelt — wie in der keltischen Mythologie — plötzlich öffnen. Das, was auf der anderen Seite ist, ist keine rosa Märchenwelt, sondern ein geteiltes Land, in dem es Krieg gibt, ein Reich mit unterschiedlichen Herrschaftsstrukturen, mit Rassismus, Unterdrückung und einer — ganz wörtlich — schweigenden Minderheit, die ihre Sprachlosigkeit als Rettung vorm Untergang versteht. Von einem Wesen verschleppt, das zugleich Mann und Einhorn ist und das dennoch so gar nicht dem christlichen Symbol für Reinheit entsprechen will, erfährt Una, dass man an seine Grenzen gehen kann und jenseits dieser Grenzen immer noch etwas ist, das schön sein mag oder grausam, das man überwinden oder an dem man zugrunde gehen kann.«

Viel Spaß beim Lesen von »Die Quellen der Malicorn«! Eure Ju Honisch

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Die bisherigen Stationen der Blogtour

Molos Abstimmung beim Deutschen Phantastik Preis 2012

Total peinlich, eigentlich. Beim diesjährigen ›Deutschen Phantastik Preis‹ konnte ich so gut wie keine Titel nennen, weil ich kaum etwas Deutschsprachiges gelesen habe im vergangenen Jahr.

So sieht es also aus bei mir.

  • Bester deutschsprachiger Roman / deutschsprachiges Debüt / deutschsprachige Kurzgeschichte / Anthologie / Serie: Keine Nennung.
  • Bester internationaler Roman (allerdings auf Englisch gelesen): William Gibson, »Systemneustart«.
  • Bester Graphiker: s.BENes von Benswerk Berlin.
  • Beste Website: SF- & Fantasy-Rundschau bei ›Der Standard‹ von Josefson.

Und nochmal: »Das Ende der Science Fiction«

Kleiner Stegreif-Vortrag, der mir gerade aus dem Hirn gepruzelt ist, eigentlich für den entsprechenden Thread im SF-Fan-Forum. Sollen aber die Molochronik-Leser auch was von haben.

Bei der Frage zum »Ende der SF« kommen schnell mal mindestens folgende drei Auffassungen des Genre-Begriffs ›SF‹ einander ins Gehege:

  1. SF, so wie der Handel, das Marketing sie verstehen, aufs Buch pappen (oder auch nicht). So ärgerlich eine Praxis hier zuweilen sein kann, ermuntere ich dazu, mal gelassen zurückzutreten und sich zu besinnen: »Ach ja, hier geht es ums Ansprechen und Zum-Produkt-Lotsen von potentiellen Käufern. Also letztendlich um Aufmerksamkeitsmanagement« (nannte sich früher: Marktschreierei). — Wollen wir also die Zurechnungsfähigkeit dieser Art von ›Deutungshoheit‹ den Genre-Begriff SF betreffend mal mit großer Vorsicht genießen, ohne zu vergessen, jenen Verlagen und Programmgestaltern unseren Respekt und Dank zu zollen, die auf diesem Felde (noch) keinen (kompletten) Schindluder treiben.

    Wenn sich bei den Gepflogenheiten, wie und ob und was als SF etikettiert wird merklich etwas so geändert hat, so dass man von einem »Ende der SF« unken kann, dann liegt das sicher zum einen an einer mutmaßlichen oder gut extrapolierten Sondierung des möglichen gesamten Publikums (vulgo: des Mainstreams oder Ottonormalpublikums); und (bei den umsichtigeren Programmgestaltern) auch an den Stimmungslagen, die dem Fachpublikum (also: SF-Fandom) abgelauscht werden. Also, spielt eine Rolle auch der SF-Genre-Begriff von …

  2. … der Peer-Group, der Leserkreise, die mehr oder minder ausschließlich, oder zumindest mit großem Interesse und einhergehender Leidenschaft ›auch‹ SF lesen und entsprechend in eine vom Fandom gepflegte Diskurs-Tradition eingebunden sind. Wenn ich als Stichpunkte anführen darf, dass …
    • a) durch das Pendeln der Kreativen zwischen Markttauglichkeit (Wiedererkennbarkeit, Genre-Formel) und — man verzeihe mir den hehren Ausdruck — ›künstlerischer Ambition‹ (Originalität, Abweichung) …
    • b) … im Laufe von Jahren eine Genre-Dialektik der Ausreifung, Verfestigung, Hochblüte, Selbstbezüglichkeit, Überstrappazierung, Routinie-Ermüdung, Neulandsuche, Grenzüberschreitung, Abzweigung und Ausdifferzierung stattfindet, und es …
    • c) … deshalb logischerweise viele verschiedene Gruppen gibt, die z.B. einer bestimmten Spielart der SF die Treue halten, so ist es nicht verwunderlich, wenn …
    • d) … die Gespräche der Kenner über SF (und was SF sei) mitunter wie ein babylonisches Gezeter anmutet.
    (Notfalls hier einfach an Morgan Freeman in dem Costerner-»Robin Hood« denken: »Gott liebt die wunderbare Vielfalt.«)

    Schnell vergisst man da die Einigkeit der Liebe für das Genre angesichts der schier unüberschaubaren verschiedenen und teils einander widerstrebenden Sichtweisen. Die Klage der einen über ein »Ende der SF« mag dann durchaus begründet sein, weil eben ihre Variante im Rückgang befindlich ist; während andere, neue Varianten, Wiedergeburten des Genres noch oft genug gedreht, gewendet und von genügend Lesern abgeschmeckt werden müssen, bis sich verfestigt, dass es sich hier ›auch‹ tatsächlich um SF handelt (egal was Gruppe 1) auf den Umschlang etikettiert, oder kritische (oder einfach nur besonders hartnäckige) Mengen von Gruppe 2) noch abschlägig herumdefinieren).

  3. Schließlich der einzelne Leser, bei dem es eben vor allem darauf ankommt, wie seine ureigenste Lesereise sich gestaltet und gestaltet hat, wie der Verlauf dieser Reise wiederum seine Kenntnis, sein Urteilsvermögen, seinen Geschmack geformt hat. Nicht zuletzt hängt die Beantwortung der Frage nach einem »Ende der SF« durch diesen gedachten einzelnen SF-Lesern davon ab, wie seine Kenntnisse des Genre-Begriffes geartet sind, z.B. stur dem folgend, was Gruppe 1) deklariert (wie brunzdumm das auch teilweise sein mag); oder einem essentialistischen Genre-Verständnis folgend mit fixen EIn- und Ausschlusskriterien; … diese beiden Beispiel-SF-Fans werden öfter herbe Enttäuschungen verbuchen müssen angesichts des Wandels der Moden und Begrifflichkeiten als z.B. SF-Fans, die sich lieber pragmatisch mit Einzelfällen auseinandersetzen, denen ein-eindeutige Schubladen-Taxonomien suspekt sind, und die über genug gedankliches Slalom-Geschick verfügen, auch mal etwas als SF zu nehmen, das weder von einer Quelle kommt, die SF-Stallgeruch hat, noch dass SF drauf steht.

Ich persönlich z.B. kann durchaus der Aussage zustimmen, dass ›SF‹ als Marktschreier-Anpreisungs-Schlagwort in den letzten Jahren von bestimmten Verwerten gemieden wird, sich de facto aber die SF als Ganzes, mit mannigfachen verschiedenen Erscheinungsformen tummelt und sprießt wie Bolle. — Oder, wie auch schon mal gesagt wurde, nicht nur von mir: SF hat gewonnen, sie wird deshalb seltener augenfällig ausgeschildert, weil man stillschweigend davon ausgeht, dass die SF-Zeit schon da ist (nur eben — William Gibson folgend — nicht gleichmäßig verteilt, und sicher nicht mehr so optimistisch Pfadfinder-fröhlich zu haben wie in manchen vergangenen Segmenten des Annodunnemals).

Undisziplinierter Schwall zum Ende oder Nicht-Ende der SF

Da haben sich in den letzten Wochen einige Leuz auf den Seiten von Telepolis Gedanken über den Stand der Science-Fiction gemacht.

Und dann kamen die Reaktionen in den Telepolis-Kommentaren (okey, die lese ich eh mit einem Strahlenschutzanzug) diversen Foren, vor allem aber bei SF-Fan hat sich ein lebhafterer Strang entwickelt, und Herr van den Boom hat einen Blogeintrag aus dem Rohr geschossen.

Vielleicht mache ich dieser Tage eine entsprechend empfindliche Phase durch, aber mich nerven diese Verlautbarungen von Genre-Freunden, dass ihr geliebtes Genre ›nur‹ Unterhaltungskram ist. Mir erscheint diese Haltung wie ein aggressives Beharren auf dem Spielplatz bleiben zu wollen, weil sich ins Labor, oder die Werkstatt, oder den Trainingsraum (oder eben woanders hin als einen Spielplatz oder ins Nichtschwimmerbecken) zu begeben, dummerweise bedeutet, ein bischen darauf zu achten, dass einem die Affekte nicht auf dem Kopf rumtanzen.

Darauf zu bestehen, dass man in seiner knappen Freizeit, in der man ja viel Stressabbauarbeit als Ausgleich zur Lebenserhaltungskostenverdienstarbeit leisten muss, gefälligst Spaß und Entspannung und ein wenig stoß- und unfallsicheren ›Sense of Wonder‹ konsumieren möchte, ist eine Sache, die ich niemanden zum Vorwurf mache. Allerdings finde ich es empörend (wie ich meine zurecht), wenn dem Verlautbaren eben dieses frommen Wunsches oftmals sogleich als Rattenschwanz folgt, wie man offenkundig jeden zarten Anflug ernsthafter Gedanken, den andere sich zum geliebten Genre-Feld machen, als Bedrohung missversteht, wogegen man sich nur mit antiintellektuellen Gefühlsrülpsern zu erwehren weiß.

Natürlich ist nichts dagegen einzuwenden, wenn man als Leser seinen Stoff vor allem als Unterhaltung begreift. Andererseits: wer ließt schon Bücher mit dem eisernen Vorsatz, sich zu quälen, zu langweilen und selbst in den Wahnsinn zu treiben! — (Obwohl, wenn ich bedenke, dass es Leute gibt, die ›gerne‹ Ulla Hahn oder Peter Handke lesen …)

Kurz: kein Genre (und das, was im Feuilleton als ›Hochliteratur‹ bezeichnet wird, ist auch ›nur‹ ein Genre von vielen) ist davor gefeit, dass sich unter seinem Schirm Werke finden lassen, die gehaltvoll, ausgeklügelt, relevant und herausfordernd sind UND SICH VON LESERN (nicht allen, aber schon so manchen) SOGAR ALS UNTERHALTUNG GENOSSEN WERDEN KÖNNEN!

Science Fiction ist ein Genre, dass sicherlich nicht jedermanns Sache ist, aber der von mir (und so manchem klugen Kopf wie z.B. William Gibson oder dem oben schon erwähnten Dirk van den Boom) hie und da im Internet diagnostizierte Sieg, die Entgrenzung der SF hinein in andere Genre-Felder, ist doch wohl ein Zeichen dafür, dass die Gegenwart aufgeschlossener ist für Gedanken über Zukunft, Technik, Wissenschaft und entsprechende phantastische (ernste) Späße, die man damit haben kann, als berechtigte Klagen über den von der Kulturindustrie ausgespuckten Einheitsbrei befürchten lassen. Die Lage ist weder schwarz (= »Alles Mist«) noch weiß (= »Alles toffte«), sondern eben irgendwo dazwischen (= »S’hat Aprilwetter«). — (Halt! Moment! Ich mag Aprilwetter, und wenn ich mich umgucke, was größtenteils pupliziert, gefilmt, gesendet und gedaddelt wird, dann hats in Sachen Science Fiction für meinen Geschmack kein Aprilwetter, eher Mongrovenwaldsommer. Doch es gibt genug gute Sachen, die sich finden lassen, wenn auch nicht immer ein großes leuchtendes ›SF‹-Genre-Ettikett draufpappt.)

Molos Wochenrückblick No. 45

Eintrag No. 707 — Ohne much ado, hier die Links.

Netzfunde

(Deutschsprachige) Phantastik-Funde

  • Marcus Hammerschmitt schrieb für ›Telepolis‹ einige launische aber (meiner Ansicht nach) treffliche Gedanken zur jüngsten Welle von Alien- und Römer-Filmen: Die Träume des Empires.
  • Und auch diese Woche glänzt das Blog der ›Bibliotheka Phantastika‹ mit neuen, guten Beiträgen! Moyashi schrieb ein Portrait über die Autorin Diana W. Jones (siehe auch meine Rezi zu »Tough Guide to Fantasyland«) und Elora portraitiert den Künstler Charles Vess.
  • Wir dürfen uns freuen, denn es gibt ein neues PDF-Fanzine, das noch dazu den schönen Namen »Der Phantast« trägt. Erstellt wird es von einem Team der Web-Portale ›Fictionfantasy‹ und ›Literatopia‹. Ausgabe 1 ist dem Thema Science Fantasy gewidmet. — Forums-Threads zum Debüt finden sich bei SF-Fan und SF-Netzwerkdort habe ich auch einige Kritik zu dem Leitartikel von Rupert Schwarz angebracht … ziemlich oft, wenn ich hierzulande Fandom-Texte über Genre-›Theorie‹ zur Kenntnis nehme, finde ich was zum mäkeln.

    Das Gute daran: ich habe mir gedacht »Keine Kritik ohne Andeutung einer Hilfe« und die englischsprachigen Wiki-Einträge sind für Einsteiger in geschicktere Genre-Theorie und Handhabung von Genre-Begriffen meistens gar nicht so schlecht. Also habe ich einen mir besonders geistreich dünkenden Absatz aus dem englischen Eintrag zu ›Science Fantasy‹ übersetzt:

    For many users of the term, however, ›science fantasy‹ is either a science fiction story that has drifted far enough from reality to ›feel‹ like a fantasy, or a fantasy story that is attempting to be science fiction. While these are in theory classifiable as different approaches, and thus different genres (fantastic science fiction vs. scientific fantasy), the end products are sometimes indistinguishable.
    Schnellübersetzung Molo: Der Begriff ›science fantasy‹ bezeichnet für viele entweder eine Science Fiction-Geschichte, die stark genug von der Wirklichkeit abweicht um wie Fantasy zu ›erscheinen‹, oder eine Fantasy-Geschichte, die bestrebt ist Science Fiction zu sein. Auch wenn das in der Theorie voneinander unterscheidbare Vorgehensweisen und folglich verschiedene Genres sind (fantasyhafte Science Fiction vs. wissenschaftliche Fantasy), lassen sich die Ergebnisse manchmal nur schwer voneinander abgrenzen.
  • John Coulthart widmet in seinem ›{feuilleton}‹-Blog Alfred Kubins »Die Andere Seite« einen Eintrag; mit sehr feinen Bildern (u.a. von der Ausgabe, die meine erste war, die ich als Reprint von dem Buch erstanden habe) und Links. — Vielleicht täusche ich mich, aber kann es sein, dass im englischsprachigen Internet die Kubin-Renaissance inzwischen stärker ist, als im deutschsprachigen? Wenn ja, ist das eine kuriose Schande.
Zur Erinnerung: Hinweise auf bemerkenswerte deutschsprachige Internet-Beiträge zum Thema Phantastik (in allen ihren U- & E-Spielarten) bitte per eMail an …

molosovsky {ät} yahoo {punkt} de

… schicken. — Willkommen sind vor allem Hinweise zu Texten, die wenig beachtete Phantastikwerke behandeln (z.B. also Einzelwerke statt Seriensachen), oder die über Autoren, Theorie und Traditionsentwicklungen berichten.

Zuckerl

  • Das ›Superpunch‹-Blog zeigt uns einige Gemmen der Gallery 1988 Inle Show. Thema: Hasen. Aber was für welche! Ich mag den mit Zylinder und Wumme von Chet Zar am liebsten.
  • In Pupping hat ein kleiner Tornado die Planen eines Erdbeerfeldes abgedeckt und mit ihnen herumgespielt. etschi123 hat dieses anmutige und ehrfuchtsgebietende Natur-Wind-Spiel ins Netz gestellt.
  • Das Kunst-Blog ›Colossal‹ stellt die Arbeiten des Japaners Sagaki Keita vor. Was für ein Gefizzel. Mir wird ganz schwummerig. Hier geht es zur Website von Sagaki Keita.
  • Für ›Tumblr‹ wurde eine Auswahl der Werke von Zdzislaw Beksinski zusammengestellt. Kaum zu glauben, dass dieser polnische Künstler bisher an mir komplett vorbeiging. Trau mich jetzt schon sagen, dass dieser 2005 ermorderte Maler einen merklichen Einfluss auf die finstereren und wirrereren Bereiche der Phantastik hatte. Muss dem mal nachgehen.
  • Ward Shelly hat eine große Mind Map zur Geschichte der Science Fiction gemalt, die auch schon in deutschen Internet-Kreisen entdekct wurde. Hier geht es weiter zur Website von Ward Shelly, wo es weitere (Un)Ordnungswahnsinnsfrüchte zu sehen gibt, u. a. zur Frage, wer die Avantgarde erfunden hat (riesige Bild-Datei!!!), Rollenvorbildern in den Medien (riesige Bild-Datei!!!) und und und gibt.

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Joe R. Lansdale: »Kahlschlag«, oder: Finde deine Mitte (Plus: einem Gedankensprung zum Fantasy-Genre)

Joe R. LansdaleEintrag No. 681 — Ein wunderbarer Stolz wärmt mich dieser Tage, der Stolz, einen (wenn auch kleinen) Teil zu einem richtig guten Buch beigetragen zu haben. Wie bereits hier berichtet, habe ich Joe R. Lansdales Roman »Kahlschlag« (neben Tobias O. Meißners »HalbEngel«) als Belegexemplar vom Golkonda-Verlag erhalten, weil die hintere Broschurklappe ein von mir erstelltes Autorenportrait ziert.

Der Roman kam mir gerade recht, denn ich habe schon lange nichts mehr von Lansdale gelesen. Dass der Mann richtig was auf dem Kasten hat, weiß ich durch seine »Jonah Hex«-Miniserien (den vielleicht besten Stories über diesem unheimlichen Western›helden‹: hier gibts mehr über »Two Gun Mojo« und »Riders of the Worm and Such«); seinen Kurzgeschichten in den ersten beiden Ausgaben der »Borderlands«-Anthos von Thomas F. Monteleone; seiner (Robert E. Howard-Homage-)Story »Jiving with Shadows & Dragons & Long, Black Trains« aus dem dritten Band mit Hellboy-Kurzgeschichten »Oddest Jobs«; sowie (last but not least) seiner Drehbucharbeit für den grandiosen ›Elvis & JFK als alte Knacker im Kampf gegen einen miesen Mumien-Motz‹-Film »Bubba Ho-tep«.

Außerdem bot sich »Kahlschlag« als Kontrastprogramm zu meiner derzeitigen Großlektüre von Arno Schmidts »Zettel's Traum« an, a) weil ich den Lansdale-Roman (anders als das A3 große »Zettel's Trumm«) unterwegs lesen kann; b) weil »Kahlschlag« flott und grad heraus erzählt, während das Großwerk von Schmidt schon auf unverschämte Weise höchste Konzentration einfordert.

Jon R. Lansdale: »Kahlschlag«, Golkonda Verlag.Worum es geht: »Kahlschlag« spielt ›nur‹ in einer kleinen Welt, der Sägewerksiedlung Camp Rapture und dem boomenden Ölfeld-Ort Holiday, irgendwo im Ost-Texas der 1930-Jahre. Äktschn-mäßig passiert zwar viel, und Lansdale versteht es, mit einem abwechslungsreichen & starken Figuren-Ensemble aufzuwarten, aber die Handlung dreht sich eben ›lediglich‹ darum, dass Menschen mit den harschen Bedingungen des ländlichen Lebens und den Widrigkeiten, die sie sich einander antun, zurande kommen müssen und versuchen, so gut es geht Recht und Ordnung zu wahren. Die provinziellen Lebensumstände und die von ihnen geprägten Leut sind bisweilen drastisch, was das erste Kapitel bereits verdeutlicht: Gerade als ein Frösche regnen lassender Tornado übers Land fegt und das Haus der Jones abträgt, will der in seiner Trunkenheit grobe Deputy Jones mit Gewalt seine Frau Sunset gegen deren Willen besteigen, die im Handgemenge den Revolver ihres Mannes zu fassen bekommt. Blam! Gattentod durch Selbstverteidigung bei versuchter Vergewaltigung, was einiges in Bewegung und das Machtgefüge im Bezirk Camp Rapture in Unruhe ver-setzt. Zu den unmittelbaren Folgen gehört, dass Marilyn, die Mutter von Deputy Jones, seine Teenager-Tocher Karen und der Ort damit zurecht kommen müssen, dass ihr Sohn, Vater und Deputy tot ist.

Gedankenspiel: Als in sich abgeschlossene Einheiten stehen Bücher nur im Regal schön brav nebeneinander. Im Kopf von Lesern, vor allem in einem solchen Flipperkasten, zu dem mein Schädel zuweilen wird, kommen Bücher miteinander ins Gespräch, kommentieren und bespiegeln sich gegenseitig. — »Kahlschlag« hat mir wieder Mal deutlich vor Augen geführt, was mir bei vielen Fantasy- und SF-Genrestoffen prinzipiell missfällt: nämlich, dass phantastische Genre-Stoffe allzuflott mit der großen Schicksalskeule aufwarten und sich bei ihnen die Handlung mindestens um die Rettung der Welt und den Kampf gegen das absolute Böse dreht. Ich finde, dass die Genre-Phantastik viel von ihrem Potential verschenkt, wenn sie thematisch so hoch pokert. Wie ich in »Abenteuer Phantastik« schrieb, machen uns alle Romane, egal ob realistischer oder phantastischer Weltenbau, das Angebot, uns aus dem eigenen Alltag auf eine Reise in andere Welten aufzumachen. Ich halte es bei dabei für nebensächlich, ob diese ›entführende Verzauberung durch Sprache & Handlung‹ uns nun in phantastische oder realistische Gefilde versetzt. — Die Tugenden, mit denen mich ein realistischer Genre-Roman wie »Kahlschlag« (oder auch »Mitten in Amerika« von Annie E. Proulx, »Manituana« von Wu Ming oder »Sunnyside« von Glenn David Gold) begeistert, sind, sei's Zufall oder tieferes Sinnmuster, genau die, welche ich bei Genre-SF & -Fantasy oftmals vermisse oder eben als Un-Tugenden wahrnehme:

  1. Die Details des AlltagsLebens, die vielleicht auch, vor allem was Landschaft und Wetter angeht, in vorsichtiger aber athmosphärisch kraftvoller Dosierung mit einer Priese Poesie dargestellt werden;
  2. Figuren, die erst in zweiter Instanz Funktionen erfüllen um eine (spannende, romantische, komische ect.) Handlung voranzutreiben, sondern die vor allem erst mal eben Charaktere, Typen, Personen sind die sich eben durch ihr jeweiliges Leben wurschteln. — Gerade die konservativ-naive Einfallslosigkeit, der folgend viel Genre-Phantastik (vor allem Fantasy & Space Opera) durch stark kontrastierte Gut- & Böse-Verteilungen geprägt wird, muss mit funktionalen Figuren operieren und es ist kein Wunder, wenn zumindest ich das dann meist unglaubwürdig finde und/oder mich schnell langweile.

»Kahlschlag« sei also sowieso allen empfohlen, die Lust auf ein kurzweiliges gutes Buch haben, dass sich durch seinen makellosen Stil, glaubwürdige & überraschende Figuren und eine spannende Handlung auszeichnet; ganz besonders aber möchte ich es Freunden der Genre-Phantastik zur inniglichen Beherzigung anraten, damit sie ein Gespür für Dinge entwickeln können, deren Mangel viele (Epic) Fantasy & Space Opera zu einer mauen Lektüre macht.

Zudem sei hervorgehoben, wie wunderschön diese broschierte Ausgabe geworden ist, abgefangen vom schönen Satz, über den Buchschmuck, bis hin zur sauberen Bindung und Verarbeitung.

Link-Service: Es freut mich ganz besonders, dass »Kahlschlag« von ausgewiesenen Kennern mit großem Lob bedacht wurde.

Christian Koch von der Krimibuchhandlung Hammett jubelt:

Trotz aller seiner "kleinen Schicksale" und Lebensgeschichten spannt "Kahlschlag" so insgesamt doch einen sehr weiten Bogen. Für nachfühlende Leser/innen reicht die Bandbreite der Emotionen dann auch von Staunen bis Lachen, man fiebert förmlich mit und erschauert, es kommen einem manchmal sogar fast die Tränen. – Wer einen derart in ein Wechselbad der Gefühle versetzen kann, der muss eigentlich schon der höheren Erzählkunst befähigt sein ...

Und Dieter Paul Rudolph schreibt für die Krimi-Couch:

Lansdale nimmt das Triviale ernst, degradiert es nicht zum neckischen Beiwerk für »Kunstkrimis«, die sich krampfhaft darum bemühen, gestenreich an die Kolportage- und Pulpwurzeln des Genres zu erinnern, und in aller Lächerlichkeit scheitern. Bei Lansdale bedeutet trivial nicht minderwertig, sondern steht für die künstlerische Rückführung eines an sich sehr komplexen Stoffes auf seine populären Wurzeln.

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Joe R. Lansdale: »Kahlschlag« (»Sunset and Sawdust«, 2004); aus dem Amerikanischen von Katrin Mrugalla; 37 Kapitel auf 361 Seiten; Golkonda Verlag 2010; ISBN: 978-3-942396-01-1.

»Das Abenteuer Phantastik« aus »Kritische Ausgabe« (Sommer 2008)

Eintrag No. 558

VORBEMERKUNG: Dieser Beitrag erschien in »Kritische Ausgabe 01/2008: Abenteuer« und ich kann Marcel Diel gar nicht genug danken für sein enorm hilfreiches Lektorat. Noch immer bin ich ganz baff, dass dieser Text in so einem feinem Umfeld veröffentlicht wurde und ich habe hier zum Erscheinen der »Abenteuer«-Nummer meine Freude und Begeisterung über einige der Beträge des Heftes mitgeteilt.
Um nun, ein Jahr nach Erscheinen des Textes, Euch Molochronik-Lesern (exklusiv) mehr bieten zu können, habe ich im Folgenden den Text um Fußnoten-Anmerkungen ergänzt. Es geht mir der Redlichkeit halber darum, meine Quellen zu offenbaren und um die These zu illustrieren, dass alle Texte immer auch ein Gespräch mit anderen Texten darstellen. Ich möchte nicht den Verdacht auf mich ziehen, ein originellerer Denker zu sein als ich bin.
Wer so viel Text nicht am Bildschirm lesen mag, der kann sich mit dieser PDF-Version vergnügen.

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DAS ABENTEUER PHANTASTIK

Alle Leseerlebnisse reißen uns aus dem Fortlauf des Alltags. Wir treten heraus aus dem Zusammenhang des Hier und Jetzt und seiner Praxis-Zwänge und lassen uns auf eine zwischen Buchdeckel gebundene ›kleine Welt‹ ein, die nur mittels der magischen Kraft der Sprache in unserer Vorstellungskraft Gestalt annimmt. Dabei spielt es erstmal keine besondere Rolle, welches ›Wo‹ oder ›Wann‹ eine Geschichte beschwört: Ob man Kemal Kayankaya im zeitgenössischen Frankfurt bei seinen Detektivgängen begleitet oder mit Leopold und Stephen durch das Dublin des 16. Juno 1904 spaziert, ob man Quasimodos, Frollos, Pierres und Esmeraldas Schicksalswege im mittelalterlichen Paris verfolgt, ob man mit Frodo und Sam nach Mordor wandert, ob man die Marter von Winston Smith im Folterzimmer 101 des Ministeriums für Liebe miterleidet oder mit Hans Castorp bei seinem Sanatoriumsaufenthalt Ski fahren geht, niemals befindet man sich in der tatsächlichen Wirklichkeit, sondern immer tritt man durch einen Zauberspiegel in eine Welt der Sprache.[01] Die Leser entscheiden selber, ob sie die jeweiligen Angebote des Übertritts in eine narrative Welt als Ex-und-Hopp-Vergnügen nutzen, als Streichholz oder Fahrkarte die nach einmaligem Gebrauch weggeworfen werden, oder ob sie im Laufe der Zeit immer wieder zu bestimmten Schatzkästlein des Erzählens zurückkehren, um sich einen gediegenen eigenen Erinnerungspalast der Imagination einzurichten, den man als privates Hobby oder zum geselligen Austausch pflegt.[02] Grenzen zu verwischen scheint deshalb erstmal nötig, soll ein umfassender Blick auf das Abenteuer der Phantastik gewagt werden.

Immerhin herrscht einige Verwirrung zu dieser facettenreichen und umstrittenen Spielart der Literatur, was wohl schon darin gründet, dass ›phantastisch‹ und ›Phantastik‹ mit vielerlei Bedeutungen belegt werden, sich aber kaum jemals auf die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs besonnen wird. Etymologisch steckt nichts anderes hinter diesen Wörtern, als der Vorgang und die Gabe, Dinge ›sichtbar zu machen‹, ›sehen zu lassen‹, vor dem geistigen Auge der Vorstellungskraft ›erscheinen zu lassen‹. Durchaus nachvollziehbar sind dabei sowohl das Misstrauen und die Zurückhaltung, mit der Phantastik von den Kreisen der so genannten ernsten, hohen, relevanten Literatur beäugt wird, als auch die leidenschaftliche Begeisterung, mit der sich viele, darunter vor allem viele junge Leser des breiten Publikums willig auf die Abenteuer der Phantastik einlassen. Richtet man sein Augenmerk auf den Umstand, dass bei der Phantastik immer schon der Weltenbau selbst zum Gegenstand kreativer Machenschaften wird, ahnt man, dass diese seltsamen Fiktionen der Phantastik unerhörter- oder bezaubernderweise mehr zu leisten vermögen als die realistischen Erzählweisen der mimetischen Fiktionen. Die realistischen Modi mäßigen sich freiwillig dazu, lediglich zu erzählen, was ›geschehen ist‹ oder ›so hätte geschehen können‹. Jegliches Enerzählen, besonders aber die Phantastik nimmt sich außerdem heraus, von Dingen und Geschehnissen zu handeln, die so ›nie hätten geschehen können‹ oder die ›geschehen könnten, wenn …‹ oder reichert den Wirklichkeitsbau ihrer Fiktionen darüber hinaus merklich an mit Auswirkungen ästhetisch-ethischer Prämissen dazu, wie die Welt ›sein sollte‹ oder ›nicht sein sollte‹.[03]

Das Unternehmen, Phantastik kristallklar zu bestimmen mag löbliche Aspekte haben, und so berechtigt oder verständlich verschiedene Strömungen der entsprechenden Versuche scheinen, so beengend geraten dann am Ende die meisten ihrer Ergebnisse. Die sogenannten minimalistischen Definitionen ermöglichen zwar auf den ersten Blick die schlüssigere Handhabe, wenn sie einerseits eine tatsächliche, objektive ›die Welt ist, was der Fall ist‹-Wirklichkeit annehmen, um dann solche Fiktionen den phantastischen Gattungen zuzuordnen, in denen Unwirkliches, Irrationales, Wundersames, kurz: ›von der objektiven Faktenwirklichkeit abweichende‹-Seltsamkeiten ungestüm herumtollen.[04] Doch dieses Sprechen über Phantastik gerät schnell zu einer heiklen Angelegenheit, denn schenkt man der beunruhigenden Feststellung Glauben, dass vor allem die kulturellen, politischen, gesellschaftlichen und historischen Wahrheiten immer und überall gleich, nämlich unbekannt sind, tritt die Phantastik eher früher als später als mächtigstes, zugleich aber zwielichtiges Fundament all unseres Wünschens und (Ver-)Handelns zu Tage. Deutlich zu kurzsichtig ist es nämlich, Fiktionen nur auf ihr Verhältnis zur objektiven Tatsächlichkeit der äußeren Welt abzuklopfen, und die trügerischen Sphären der ideologischen, kulturellen und inneren Erlebniswelten zu vernachlässigen. Für den jeweiligen Leser ist es erkenntnistheoretisch zweitrangig, ob die Protagonisten einer abenteuerlichen Geschichte auf Drachen und Einhörnern durch exotische Arkadien- und Inferno-Gefilde reisen oder ob der Weg des Helden in vermeintlich realistischen Abenteuern durch die Graubereiche führt, welche die himmlischen Luxus-Milieus der Reichen und Schönen mit denen der kriminellen Unterwelt verbinden.

Schließlich können sich alle Fiktionen, alle Erzählungen, seien sie realistisch-tatsächlichkeitsnah oder wundersam-seltsamkeitssüchtig, nur Fragmenten der sogenannten Wirklichkeit widmen und vermögen den Effekt einer mit Absolutheitsanspruch auftretenden Welterfahrung lediglich durch Tricks zu beschwören, und egal, ob sie mehr in den geplant konstruierten Häfen der Ratio und des Logos ankern oder frei in den Gewässern der Affekte und des Mythos flottieren, die individuellen Horizonte bleiben immer begrenzt und endlich. Damit sollen die mehr oder minder strengen strukturalistischen Erkenntnissätze der minimalistischen Sichtweise nicht komplett verschmäht werden, denn erst, indem sie konsequent die Belange existentialistischer Probleme verfehlen und die Flexibilität von Leserhaltungen übersehen, vermögen sie eben auf die blinden Flecken der Erkenntnisfähigkeit selbst aufmerksam zu machen. Die Redlichkeit der minimalistischen Definitionsmissionen gründet auf der Ernsthaftigkeit, die bei ihnen zu Tage tritt, wenn zugegeben werden muss, dass es zwar in der Vorstellung und Sehnsucht unzählige, ja unendlich viele Möglichkeiten gibt, aber eben nur so lange, wie man keine konkreten Entscheidungen treffen muss.

Der sogenannte maximalistische Ansatz zur Beschreibung dessen, was Phantastik ist, erkennt das Dilemma an, dass der Horizont des als gesichert gewähnten Wissens wenig stabil ist, und bietet eine größere Auswahl an locker verhandelbaren Schubladen zum Sortieren der phantastischen Erzählweisen an. Legt man zur groben Orientierung eine historische Zeitachse an das Spektrum der Phantastik, bietet sich die vertraute Fächer-Trias der Science-Fiction (Zukunftswelten), des Horrors (beängstigende Welten) und der Fantasy (Vergangenheitswelten) an, und bei allem, was sich nicht eins-zwei-drei dort einordnen lässt, kann man getrost den Schirmbegriff Phantastik anwenden. Der maximalistische Ansatz versucht also oft gar nicht erst, eine fitzelige Hierarchie anzubieten, dergemäß verschiedene Erzählweisen der Phantastik in unterschiedlicher Nähe oder Ferne zu der ziemlich abstrakten Idee eines Konsens-Realismus liegen. Der Preis, den der maximalistische Ansatz dabei entrichten muss, ist der Makel des Schwurbelns. Kein Zweifel: Beide Ideenschulen der Phantastik, minimalistische und maximalistische, kneten zurecht und vereinfachen dabei, aber letztere springt wenigstens beherzt ins lebhafte Fruchtwasser der erzählenden und bilderschaffenden, kurz: der mythischen Kreativität. Und mythisch wird es, sobald Menschen so unbescheiden sind und zur Sprache zu bringen trachten, was jenseits der Sprache liegt. Wenn also nicht geschwiegen wird, wovon sich nicht klar und wohldefiniert kommunizieren lässt. Egal, ob dabei als Mittel des Erzählens eine biegsame und registerreiche Sprache, das Über- und Untertreiben und Neuerfinden von Eigenschaften und Kausalitäten oder die metaphorische Transformation und Übertragung angewendet wird, im Grunde kommt am Ende immer Phantastik heraus. Ob es sich dabei im Speziellen um Grotesken, Satiren, Weltraumopern, heroische Romanzen, düstere Intrigen-Thriller oder historische Konspirationsstoffe handelt, mag eine reizvolle Denksportaufgabe sein, aber ernsthaftes Interesse daran, dass möglichst enge Genre-Eingrenzungen gelten, können nur Vermarkter stromlinienförmiger Formel-Fiktionen sowie jene haben, deren bevorzugte Nischen-Stoffe ohne Nobilitierungsstützen in der globalen Narrationskonkurrenz in die Stillstandszonen abgedrängt werden.

Soweit es sich übers Knie brechen lässt, kommt das gemeine Publikum besser mit dem maximalistischen Ansatz zurecht, denn es kann im Großen und Ganzen wohl unterscheiden zwischen den beunruhigenden Herausforderungen des in der politischen Wirklichkeit stattfindenden Zwistes der konkurrierenden ideologischen Phantasmen und der eigenen Wohlfühlpraxis, sich mit Hilfe einer erzählenten Fiktion vom Alltag zurückzuziehen, um neue Kraft zu schöpfen oder überschüssige Energien abzufackeln. Das Publikum ist gemeinhin zufrieden damit, sich bei der Lektüreauswahl zu orientieren an der groben Unterscheidung zwischen den realistischen Fiktionen, die auf dem Boden des gegeben Möglichen bleiben, und den phantastischen, die mit kräftigeren Prisen des Seltsamen das Staunen und Träumen im großen Maßstab ermöglichen.

Phantastik und Pathos haben dabei viel miteinander gemein, da beide mit ihrer Faszinationskraft die Gefühle und Leidenschaften in ihren Bann zu ziehen verstehen, und beide können dazu dienen, alte oder neue Gemeinschaftswelten zu propagieren.[05] Wie gesagt, ist es verständlich, wenn jene, die das Privileg genießen, als Sachwalter und Priester der Literatur zu agieren, aufgrund der mit dem Geschichtenerzählen einhergehenden Verantwortung dazu neigen, vor allzu heftigen Fiktionsmodi zu warnen. Natürlich wäre es eine feine, jegliche Gesellschaft von ziellosen Trieben entgiftende Angelegenheit, wenn alle Leser sich darauf beschränkten und Geschichten nur deshalb läsen, um in narrativen Imitationen des Lebens verstehen zu lernen, welche Ursachen und Folgen verschiedene Erfahrungen, Meinungen, Affekte und Handlungen haben.[06] Aber der distanzierte Blick auf die Figuren einer Erzählbühne allein ist eben nur wenigen genug, und so verlangt auf vielfache Weise auch das Bedürfnis nach Identifikation und Miterleben nach Befriedigung. Doch damit nicht genug, locken eben doch auch ganze Welten und warten darauf, durchwandert, gelesen erkundet, erobert zu werden, ohne dass man sich mit großen Aufwand äußerlich einem Lifestyle anpassen, geschweige denn, sich wirklich als Abenteurer in die Wildnis aufmachen muss. Lesend begibt man sich als modernes Langeweilopfer eben gern in Gefahr.

Leben findet immer nur im Moment des Jetzt und Hier statt, in einem auf dem Wirbel aus Zeit und Raum treibenden Augenblick, einer kleinen Welt der intimen, intensiveren Bande, durch welche die eigene Person mit der sie umfassenden Gruppe und Kultur verkettet ist. Hier teilt man Werte der überschaubaren Gemeinschaft, des Stammes, Clans, der Familie, der Arbeitskollegen, der Nachbarschaft. Hier herrschen die tribalistischen Werte, mit denen diese Untergruppen sich stabilisieren gegenüber den überwältigenden und unübersichtlichen Faktenstrudeln und Meinungsstürmen. Die entsprechenden Zusammengehörigkeitsmythen werden oftmals als spießig, altmodisch, beschränkt und einengend bezeichnet oder empfunden, wenn die ständige Beäugung durch die eigene ›Peer Group‹, durch den eigenen Stamm die Luft zum Atmen abschnürt, wenn Rücksichten in Belastungsprüfungen umschlagen, wenn die Vergleichs-Animositäten und wilden Gerüchte zu ›Bei uns hat man das immer schon so gemacht‹- und ›Wo kämen wir denn da hin‹-Kerkern werden. Hier drohen Puristen unterschiedlichster Couleur für ihre Zwecke das Individuum einzuspannen und gemäß ihren Prämissen organisieren und formatieren zu wollen.[07]

Glücklich in dem einbettenden Gefäß ihrer kleinen Welten bleiben jene, die niemals auszubrechen trachten aus ihrem Milieus. Wenn niemals Not und Mangel oder die Verführungen des Übermutes und des Leichtsinns sie nach eigenen kräftigen Sinnes- und Tatleistungen streben lassen, können sie ebenso gut bequem Hause bleiben im Nahen und Bekannten. Ja, gesegnet sind sie, wenn niemals der Hunger nach Abenteuer oder eine Gefahr sie aus dem übersichtlichen Gehege treibt und das Vertraute immerdar genug Sicherheit, Erfüllung und Kurzweil liefert.

Doch auf der begrenzten Kugeloberfläche des Planeten Erde mit seiner dünnen menschenfreundlichen Schicht wird der Platz immer enger, und die gegenseitige Umzingelung des Menschen durch den Menschen[08] bei seiner Suche nach Sicherheit und Innigkeit wird von Spannungen und Gefahren begleitet, erschüttert mit Konflikten die immer nur vorübergehenden Sicherheiten der kleinen Gemeinschaften und zwingt sie dazu, ihre Perspektiven, ihre kleinen Erzählungen anzupassen. Kein Wachstum ohne Schmerzen, keine Neuformungen und Verschmelzungen ohne Auflösung der althergebrachten Formen, und die damit einhergehenden Belastungsprüfungen lassen die Einfassungen der kleinen Gruppen undicht werden. Der hereinbrausende bedrohliche Sturm der Außenwelt zwingt die Aufmerksamkeit dazu, anzuerkennen, wie gering die Kontrolle über das tatsächliche Tohuwabohu ist.

Jenseits der Ränder der Nestgemeinschaft und noch vor der Wahnsinn evozierenden Unwirtlichkeit des kosmischen Grauens aber betritt man erst einmal die konfusere, relativierende Ebene des Gewirrs von Gruppen, einem Durch- und Mit- und Gegeneinander von vielen Untergruppen mit ihren jeweiligen Traditionen, Geschichten und Interessen. Die entsprechenden, arg in Verhandlung und deshalb Wandlung befindlichen Globalmythen werden von den Kleingruppen oftmals als flach, beliebig, leer degradiert. Da erklingen dann die Vorwürfe gegenüber der Moderne oder Postmoderne, nur substanzloses Einerlei zu bieten, man schreckt zurück vor den Gefahren des Nihilismus, der Entmutigung angesichts von Entfremdung durch zweckrationalistische Machenschaften. Betrachtet man von diesem wuseligen Bazaar des Pluralismus aus die kleinen Nischen-Welten der Untergruppen, erscheinen letztere bei all dem Halt, den sie zu bieten vermögen, schlimmstenfalls als engstirnig, bestenfalls als unterhaltsam schrullig.[09]

Zwischen den verschiedenen eng und weit gefassten Wirklichkeitsperspektiven stößt man auf zig Grenz- und Übergangsbereiche, die mal als firmere Barrieren, mal als fließendere Passagen erlebt werden, und alle Menschen sind mehr oder weniger ständig unterwegs auf einer ›Queste‹, um in eigener oder gemeinschaftlicher Ambition symbiontische, mutualistische und parasitäre Arrangements zwischen verschiedensten Hübens und Drübens zu etablieren. Das intimste ›Hier‹ und ›Drinnen‹, in dem wir sind, stellt der eigene Körper dar, das klar gefasste Ich der eigenen Person. Das größte ›Drüben‹ oder ›Draußen‹, dem wir gegenüberstehen, ist der endliche Planet, den wir miteinander teilen, und das Universum, durch den dieser kreist. Beide Welten können wir mit Hilfe der Phantasie ergründen. Die Geheimnisse der äußeren Welt mühen wir uns mit Hilfe der objektiven Phantasie zu lüften, und der Aufstieg dessen, was man moderne Zivilisation nennt, legt umfassend Zeugnis davon ab, wie erfolgreich hier die Mächte des ›Sehenlassens‹ sind, wenn es gelingt sie in offenen und zugleich strengen Prozessen aufeinander abzustimmen und auszudifferenzieren. Doch wo einerseits die objektive Phantasie über die Materie triumphiert und einer sagenhaften Vermehrung des Komforts förderlich ist, haben andererseits die allzu separatistischen Terrains der subjektiven Befindlichkeitsphantasie, vor allem ihre anthropozentrischen und elitaristischen Seiten, Demütigung und Erschütterungen erlitten.

So pokern bei dem ›Ideenkrieg um das Sein‹[10], wenn sich widersprechende Ansichten und Ambitionen aufeinanderprallen, Gesellschaften vor allem um die Deutungs- und Gestaltungshoheitsposten, wie denn mit der brodelnden und wilden Phantasie-Fähigkeit der Menschen umgegangen werden soll und wie sich Ordnung schaffen lässt in diesem Dschungel aus verführerischen Hirngespinsten, faszinierenden Seltsamkeiten und erhellenden Veranschaulichungen. Die Phantasie und die mit ihr fabrizierte Phantastik sind immerhin schillernde, trügerische Angelegenheiten und deshalb oftmals scheel beäugt, zum einen, weil sie das irre Lodern des Aberglaubens anfachen und Blicke irreleiten können, zum anderen, weil sie die Aufmerksamkeit des Möglichkeitsdenkens auf Dinge zu lenken vermögen, welche von den Betreibern umfassender Projekte und Missionen im Geheimen oder in Verkleidung reibungsloser bewerkstelligt werden können. Bevor man gemeinschaftlichte Tatanstrengen angepacken kann, müssen Visionen geteilt und Träume aufeinander abgestimmt werden, und so tasten sich Leseabenteurer mit Hilfe von Geschichten an Ideale heran oder lernen ihnen zu misstrauen — Ideale die zum Beispiel bestimmen (wollen), was Elite, was das Wahre, Schöne, Gute sei, die Geschlechter- und Klassenrollen beschreiben, wie auch Körper-, Kindheits-, Jugend- und Partnerschaftswelten und Tausenderlei mehr.

Platon schrieb zwar, dass die Götter mit ihren Zeichen, die sie erscheinen lassen, nicht lügen, aber dennoch trennte er z.B. mittels seines Höhlen- und Sonnengleichnisses zwischen dem Wissen für die Masse (d.h. diejenigen, die nur die in einer Höhle aufgeführten Schattenspiele deuten können) und dem für die Eliten (die sich in Zwiebelschalen-Hierarchie um eine Wahrheitssonne tummeln). Der Ernstfall gewährt zuallermeist weder genug Zeit noch Ressourcen, um Entscheidungen friedlich auszudiskutieren, oder um eine musikalische Metapher zu bemühen: das freie Improvisieren ist das Privileg des Einzelnen oder einer kleinen Gruppe virtuoser Könner, vielköpfige Symphonik aber braucht erste Geiger und Dirigenten. Kein Wunder also, dass sich im Zentrum des Meinens und Streitens über Wert und Unwert der Phantastik immer wieder Fragen zu der Verantwortung gegenüber der Wirklichkeit und der Flucht vor derselben finden lassen.

Bei diesem ›Ideenkrieg um das Sein‹ geht es um nichts weniger als die konkret miteinander konkurrierenden Projekte der Gestaltung der Wirklichkeit, es geht darum, wer Architekt von Fundamenten und Navigator von Zielen sein darf, wer welche Stücke vom gebackenen oder erbeuteten Kuchen bekommt, und nicht zuletzt darum an wem die Drecksarbeit hängen bleibt von der zu sprechen oft schon genügt, um den Geistern des Unfriedens Tür und Tor zu öffnen. Die Konvention der guten Botschaften über gloriose Vergangenheiten oder edle Zukunftsprojekte verlangt, dass man die unangenehmen Facetten der eigenen Ambitionen unter den Teppich kehrt oder wiederum umgewendet als etwas Edles, Supremes postuliert. Doch der Globus ist lange schon vernetzt genug, als dass sich Rückmeldungen über die Folgen der miteinander konkurrierenden Exklusivitätsbestrebungen längerfristig unterdrücken oder ausblenden ließen, und so strebt die Schwarmintelligenz Menschheit danach ihre bellezistischen, elitären und pofitmaximierenden Tatunholde, ihre schauerlichen Unterweltmonster und die beschähmenden Opferkrüppel zu integrieren in der moderaten Masse des Allerweltstages. Solange ein Mensch nicht fix darauf programmiert ist, freiwillig und wissend wie ein Apostel oder unfreiwillig und blind wie ein Golem der weisenden Stimme seiner Herren zu folgen, solange genießt der Einzelne das Privileg bzw. muss mit der Zumutung zurechtkommen, selbstständig auf diesem Ozean der Überlieferungen, Meinungen, Visionen und Missionen zu navigieren. Wir alle sind dabei weniger vereinzelte Inseln als vielmehr Schiffe mitsamt ihrer Besatzung, oder um ein klassisches Fabelwesen als Metapher zu bemühen: wir alle sind Zentauren, eine Verschmelzung von Reittier und Reiter, und können nur dann mächtige Jäger, fähige Heiler und findige Spurenleser sein, wenn Tier und Mensch als Einheit miteinander auskommen, oder um diesen Gedanken durch die futuristische Metaphernmangel zu drehen: die Verschmelzungen von Mensch und Technik werden schon lange so heftig herbeigesehent, dass moderne Personen zu Cyborgs mutieren (wer dies nicht gleich radikal am eigenen Körper tut, ist durch die modernen Lebensumstände doch angehalten, sich als zumindest als organischer Teil einer Maschine-Mensch-, Computer-Person-, Fahrzeug-Lenker-Zwei-Einheit zur Verfügung zu halten).

Ginge es bei Phantastik nur um Kinkerlitzchen der Ästhetik, nur um harmlosen Kokolores des Geschmacks, würden sich die Gemüter beim Austausch ihrer Pro- und Contra-Argumente zur Phantastik kaum so erhitzen. Sorge ist durchaus angebracht, wenn Phantastik durch Kulturindustrie- oder Kulturestablishment-Routinen zu Schablonen-Fiktionen ausartet, die, statt zur Aufmerksamkeit und Reflexion zu ermuntern, Passivität und Gleichgültigkeit befördern, wenn Leser sich nicht lustvoll und erkenntnishungrig in einem aus Sprache hingezauberten Bedeutungslabyrinth verirren sollen, sondern eben Reizformeln zur Anwendung gelangen, die als Erwartunghaltungs- und Vorurteilskristalle gehandelt und als Vorstellungscrack konsumiert werden. Die hierbei durchschimmernde Rivalität ist alt, die Reibungen zwischen den Anhängern des Realismus und der Phantastik sind nur ein modenes Echo des Stampfens und Klatschens des alten Watschentanzes der Parteigänger von Logos und Mythos, derjenigen, die für möglichst viele einsehbar im Offenen die gemeinsamen Angelegenheiten verhandeln wollen, und jenen, die mit Blendwerken unhinterfragter Zauberspektakel von ihren hinter den Kulissen ablaufenden Klüngeleien abzulenken gedenken. Gesellschaften funktionieren nur, wenn es gelingt, die Unruhe des diskursiven Verhandelns und die Stabilität von ›Basta!‹-Tabus ins Gleichgewicht zu bringen; und dazu braucht es Individuen die sowohl ihre objektive als auch ihre subjektive Phantasie anhand von Geschichten schärfen können, sodass es möglichst vielen gelingt, zusammen eine große Geschichte miteinander zu fabulieren. Das bedeutet nichts weniger, als eine hinter vorgehaltener Hand geteilte Erkenntnis der Alten zum Allgemeingut zu erheben: dass Phantastik nicht zuletzt das Prinzip der Politik ist.

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ANMERKUNGEN:

[01] Die genannten Protagonisten treten auf in folgenden Romanen: Kemal Kayankaya in den Krimis von Jakob Arjouni »Happy Birthday, Türke« (1985), »Mehr Bier« (1987), »Ein Mann ein Mord« (1991), »Kismet« (2001), alle erschienen im Diogenes Verlag. —/— Leopold Bloom und Stephen Dedalus sind die beiden mänlichen Helden in »Ulysses« (engl. 1921 / dt. von Hans Wollschläger 1975) von James Joyce, deutsch erschienen im Suhrkamp Verlag. —/— Quasimodo, Claude Frollo, Pierre Gringoire und Esmeralda sind Figuren aus dem Roman »Der Glöckner von Notre Dame« (franz. 1831 / dt. von Hugo Meier 1986) von Victor Hugo. Ich bevorzuge die Ausgabe bei Manesse Bibliothek der Weltliteratur. —/— Frodo Beutlin und Sam Gamschie sind die Hobbit-Helden in »Der Herr der Ringe« (engl. 1954/55) von J. R. R. Tolkien, Deutsch erschienen bei Klett-Cotta. Ich vevorzuge die alte Übersetzung von Margaret Carroux die 1980 erschien. —/— Winston Smith ist die arme Sau in »Neunzehnhundertvierundachtzig« (engl. 1948) von Geroge Orwell. Ich bevorzuge die Übersetzung von Kurt Wagenseil, die 1983 bei Diogenes erschien. —/— Hans Castorp ist die Hauptfigur in »Der Zauberberg« (1924) von Thomas Mann, erhältlich als Fischer Taschenbuch. ••• Zurück
[02] Die Metapher von Lektüren als (entweder) Fahrkarte & Streichholz (oder) Einrichtung & Inventar eines Gedankenhauses- bzw. Schatzkistchens habe ich von »An Experiment in Criticism« (engl. 1961) Clive Stapelton Lewis entliehen. Deutsch 1966 als »Über das Lesen von Büchern – Literaturkritik ganz anders« in der Herder-Bücherei erschienen, übersetzt von Hans Schmidthüs. ••• Zurück
[03] Bei der Aufzählung verschiedener Modi von Fiktionen bezüglich ihrer Haltung zur ›tatsächlichen‹ Wirklichkeit folge ich dem enormen Blogeintrag »Narrative Grammars« von Hal Duncan, Autor von »DAS EWIGE STUNDENBUCH«; Band 1: »Vellum« (engl. 2005 / dt. 2008), Band 2: »Signum« (engl. 2007 / dt. 2009), kongenial übersetzt von Hannes Riffel. ••• Zurück
[04] Die Umschreibung ›die Welt ist was der Fall ist‹-Wirklichkeit fusst natürlich auf Ludwig Wittgensteins »Tractatus Logicus Philosophicus« (1921). —/— Die dann beschriebene Trennung ist eine heftige Zusammendampfung der Thesen von Tzetvan Todorovs in »Einführung in die Fantastische Literatur« (franz. 1970; dt. 1972). ••• Zurück
[05] Auf diese Gemeinsamkeiten zwischen Phantastik und Pathos wurde ich aufmerksam, durch Kaya Pressers Notizen im Blog »Die Sprachspielerin« zur dreiteiligen Poetikvorlesung von Helmut Krausser an der Ludiwig-Maximilians-Universität in München im November 2007. Hier zu den Protokollen: Krausser eins / Krausser zwei / Krausser drei. ••• Zurück
[06] Zur Aufgabe von Drama und Fiktion habe ich mich leiten lassen von den Ausführugen über den ersten bekannten Literaturtheoretiker & -Kritiker, den Inder Bhamaha, in Peter Watsons »Ideen – Eine Kulturgeschichte von der Entdeckung des Feuers bis zur Moderne« (engl. 2005 / dt. von Yvonne Badal 2006), C. Bertelsmann Verlag, Seite 466. ••• Zurück
[07] Reichlich flappsige Paraphrase von Ausführungen, die ich entliehen habe aus Ted Hughes Aufsatz »Mythen und Erziehung« (»Myth and Education«, 1976) aus dem Essay-Band »Wie Dichtung entsteht« (ausgewählt und übersetzt von Jutta Kaußen, Wolfgang Kaußen und Claas Bazzer), Insel Verlag 2001, Seite 76ff. ••• Zurück
[08] Diese wundervolle Formulierung habe ich von Peter Sloterdijk. Das Zitat lautet im Ganzen:
All diese Ideen {Vorstellungen von einer Aufhebung & Überwindung des Weltzustandes mittels Erlöserreligion, Weltflucht, Nihilsmus und Utopismus} bezeugen durch ihr Alter und ihre beharrliche Wiederkehr ein Kontinuum revolutionärer Spannungen: seit mehr als zweitausend Jahren erzeugt die Umzingelung des Menschen durch den Menschen heftige Brüche mit den Zwangssystemen mythischen Herkunftsdenkens.
in: »Weltfremdheit« (Suhrkamp 1993), Seite 55 (Erster Aufsatz »Warum trifft es mich?«, Kapitel 3: »Das umzingelte, das harte, das deprimierte Selbst«). ••• Zurück
[09] Wie Fussnote 07. ••• Zurück
[10] Die Phrase vom ›Ideenkrieg um das Sein‹ beruht auf einer (durch Gedächtisschlamperei verursachten) Variation einer Stelle aus Peter Sloterdijks Werk »Sphären II: Globen – Makrosphärologie« (Suhrkamp 1999). Der mich angeregt habende Abschnitt lautet:
Die gedachte wahre Welt wirft der bloß wahrgenommenen wirklichen Welt den Handschuh hin. {…} Von ihm {Platons Text »Timaios«} her beginnt der ideologische und technische Umbau des Seienden. Es ist offenkundig geworden, daß die Welt selbst nicht eine differenzlos einfache und einstimmige ist und daß, wer Welt sagt, wissenschaftlich oder nicht immer schon Welt-Unterscheidung oder Welt-Krieg meint. Der schon von Platon völlig realistisch als »Gedankenkrieg um das Sein« charakterisierte Urstreit, einmal ausgebrochen, erlaubt es niemanden, sich zum Nicht-Kombattanten zu erklären; in diesem Krieg sind alle Partei, auch jene Naiven, die vorgeben, nicht zu wissen, worum es geht.
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