molochronik

Molos Wochenrückblick No. 29

Eintrag No. 677 — Am Samstag zum ersten mal Googles ›Straßenschau‹ ausprobiert. Schon mal 'ne geschmackliche Entgleisung, dass Google als Beispiel auf der ›Wie geht's‹-Seite die olle Siegessäule zeigt. Aber ab nach Frankfurt: Das Haus, in dem die Molochronik entsteht muss freilich verpixelt sein (damit man die Bombenwerkstatt im Hof nicht sieht). Sehr cool, sich wie ein Geist auf Trip die Straßen entlang zu klicken. Überhaupt ist die Straßenschau bemerkenswert gespenstisch: ich nähere mich auf der ›Am Brennhaus‹-Straße dem Südost-Eck des Altgriesheimer Parks, in Klicks von ca. je 5 Metern. Zuerst seh ich nur das Telefonhäuschen und wie ein Kerl mit grauem Pullover und Fahrrad an selbigen vorbeispaziert. Klick. Der Kerl nun im Gespräch mit einem anderen Mann mit scharzem T-Shirt, der auf einer Fahrradabsperrstange sitzt. Klick. Ein dritter Kerl mit rotem Shirt gesellt sich dazu. Klick. Nun ganz nah dran, der Mann in rot ist weg. Die anderen beiden sitzten lässig auf der Stange, der eine mit Fluppe in der Hand. Klick. Ich guck aus westlicher Sicht das Eck an, und holla, da ist der Kerl mit dem rotem Shirt wieder.

Durchaus schön, dass die Straßenschau eine meiner Lieblingsmauern im Viertel konserviert hat. ›Am Gemeindegraben‹, nahe der S-Bahnhaltestelle, gleich gegenüber einer Trinkhalle namens »Die Blechtrommel« ist diese sehr aparte Backsteinmauer, bis auf halbe Höhe aus dunklen Ziegeln gesetzt. Inzwischen wurde sie leider verputzt und sieht entsprechend fad aus.

Höhepunkt der Ironie: guck ich vom Paulsplatz / Braubachstraße in Richtung Südost, sehe ich ein Banner der Schirn Kunsthalle über den Zugang zum Römerberg gespannt. Und was für eine Ausstellung wurde da angepriesen, als der Google-Wagen sein Photo schoss?: »Die Totale Aufklärung«.

<img src="www.antville.org" align="right" style="margin-left:10px; margin--bottom:5px;"alt="Schuberzierbild von Arno Schmidts »Zettel’s Traum«, gesetzte Ausgabe der Arno Schmidt-Stuftung im Suhrkamp Verlag..">Lektüre: Dreissig Seiten weiter mit »Zettel's Traum« und damit jetzt knapp an der 100-er-Marke. Schön langsam beginnt sich ein steter Lesespaß einzustellen. Ich les das Trumm wärend ich Essen warm mache, oder auch auf dem Klo (kleine sportliche Übung in Kniebalance). Auch wenn ich 'ne Zielscheibe abgeben mag, von wegen, die ganzen Sex-Wortspiele von Arno Schmidt sind noch so was von verklemmten Altherrenzoten, yadder yadder yadder … ich steh dazu, dass mir dieses Riesenwerk Vergnügen bereitet. Freilich bin ich nich so begeistert über die ganzen Sigmund Freud-Anteile, aber einige Hypothesen dieser großen Analyse zum Werk und Wesen von Edhar Allan Poe scheinen mir doch plausibel zu sein. — Unbedingt empfehlen kann ich die die ersten ausführlicheren Einträge in Bonaventuras »Zettel's Traum lesen«-Blog, die sich beide lediglich der ersten Seite widmen: Seite 1 (1) und Seite 1 (2). Wenn der in dieser Ausführlichkeit weitermacht, dann stellt dieses Blog nicht weniger als eine echte Sensation dar. — Von der Rezensions-Front lässt sich diese ausführliche TAZ-Besprechung von Stephan Wackwitz vermelden: Neuentdeckung eines Dinosauriers. Wie heißt es dort so schön:

Die Wahrheit über Schmidts Spätwerk besteht wahrscheinlich darin, dass es, viel deutlicher als die meisten anderen inkommensurabel großen Bücher, beides zugleich ist. Große Kunst und kompliziert ausgearbeiteter Dachschaden. Und die Schwierigkeit und vielleicht Unmöglichkeit, sich zwischen diesen beiden Lesarten zu entscheiden, {…}
Und ich mag (unter anderem) genau dieses Flirren.

Mervyn Peake »Der Juge Titus«, erster Band der ›Gormenghast‹-Bücher. Neuausgabe bei Klett Cotta.Unterwegs verköstige ich derweil das erste der »Titus«-Bücher von Mervyn Peake in der Neuausgabe, »Gormenghast: Der junge Titus«. Ich habe »Gormenghast« vor ca. 15 Jahren schon einmal auf Deutsch, und vor ca. vier Jahren dann endlich mal auf Englisch gelesen. Weiterhin bin ich fasziniert davon, wie ungewöhnlich dieses Werk, wie spannend und bezaubernd es ist, obwohl (vor allem auf den ersten 200 Seiten) eigentlich ziemlich wenig geschieht. — Aber: desto länger ich die Umschlaggestaltung der neuen Ausgabe anguck, um so mehr enttäuscht sie mich. Immerhin ist der neue Schriftsatz nun sehr angenehm zu lesen. Die deutsche Erstaushabe war diesbezüglich ein Graus (aus einer Zeit, in der die Hobbittpresse viele schräcklich gesetzte Bücher produziert hat). — Und ich bin enttäuscht und somit grummelig auf die deutsche phantastische Internetgemeinde, denn bisher sind nirgendwo besprechende Rezis, Blog- oder Forumbeiträge zu der Neuausgabe aufgetaucht (wenn, dann hab ich sie übersehen, und will nichts gesagt haben).

Ansonsten: Hatte mal wieder drei Tage am Stück frei und mehr oder minder durchgemacht um ordentlich voranzukommen mit einem Übersetzungsprojekt (sehr feine SF- & Phantastik-Kurzgeschichten). — Zur Entspannung habe ich mir Folgen der zweiten Staffel von »Star Wars: The Clone Wars« gegönnt, der, wie ich ketzerisch juble, besten Inkarnation von ›Star Wars‹ für meinen Geschmack. Hier passen Anspruch, Form, Inhalt und Stil endlich kongenial zusammen.

Netzfunde

(Deutschsprachige) Phantastik-Funde

  • ›PhantaNews‹ hat ein ausführliches Interview mit der von mir sehr geschätzten Ju Honisch geführt: »Das was man selbst am meisten mag, macht man auch am besten«. Nicht nur, weil ich die ersten beiden Bände ihrer historischen Fantasyromane der (ich nenn die mal so) ›Fay-Welt‹-Romane probegelesen habe, lobpreise ich diese bei ›Feder & Schwert‹ erschienenen Bücher. Sie stellen in meiner Lektüreauswahl eine Ausnahme dar, da ich Reihen ja eher scheue. Aber die Mischung, die Ju da mit kurzweiligen Stil zusammenzaubert überzeugt mich (siehe meine Rezension zu »Das Obsidianherz«).
  • Catherynne Valente, Autorin von »Palimpsest« (würd ich gern testen, kam aber noch nicht dazu) zeigt sympathischerweise, dass man keineswegs auf andere Menschen angewiesen ist, um eine fetzige Diskussion zu führen. Man Frau alleine reicht. Zuerst lässt sie diese lange Uffregung vom Stapel, warum ihr die große Steampunk-Welle auf den Geist geht: Here I Stand, With Steam Coming Out of My Ears, rudert aber etwas erschrocken über die Heftigkeit ihres Zeterns mit Steampunk Reloaded zurück, und zählt dann schließlich auf, was sie asn Steampunk doch mag: 10 Things I Actually Do Love About Steampunk.
Zur Erinnerung: Hinweise auf bemerkenswerte deutschsprachige Internet-Beiträge zum Thema Phantastik (in allen ihren U- & E-Spielarten) bitte per eMail an …

molosovsky {ät} yahoo {punkt} de

… schicken. — Willkommen sind vor allem Hinweise zu Texten, die wenig beachtete Phantastikwerke behandeln (z.B. also Einzelwerke statt Seriensachen), oder die über Autoren, Theorie und Traditionsentwicklungen berichten.

Zuckerl

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Flix: »Faust. Der Tragödie erster Teil« als Comic, oder: Ramazotti! Denn GOtt hat Kreislauf.

Eintrag No. 612 — Goethes »Faust« ist für alle leidenschaftlichen Exklusivfreunde klassischer, ernster Geschichten — die jedoch mit misstrauischem und gramvollem Blick die phantastischen Fabulationen beäugen — ein mitunter peinliches Prunkstück, denn die moralische, allegorische, romantische, tragische und zuweilen tollkühn burleske Mär über die Wette zwischen GOtt und Mephisopheles um eine treue aber zweifelnde Seele ist und bleibt trotz all ihrer wahren, guten und schönen Eigenschaften ein Glanzstück deutscher Phantastik.

Mit großer Freude habe ich letztes Jahr auf den Webseiten der F.A.Z. die in täglichen Fortsetzungen erstveröffentliche modernisierte Fassung dieser Geschichte durch Meisterfeder Flix genossen. Flix hat mich schwer beeindruckt mit seinem autobiographisch angehauchten Band »held«, indem unter anderem Monster und Ängste auf wunderbare Art mit den veranschaulichenden Kniffen, die dem Erzählen in Comicform zuhanden sind, auftreten.

»Faust« von Flix holt den hehren, für heutige Gemüter stellenweise schwer verdaubaren Stoff des Olympiers herab von den Säulen marmorner und äääääärrrrrnster Schwere und macht daraus ein Slapstick-Bravourstück, löblicherweise ohne die nachdenklichen Nuancen vollends einzubüßen. Die Götter werkeln in einem Bürokomplex, GOtt-Vater ist wegen seines mauen Kreislaufs ein Ramazotti-Dauerschlürfer; Gutelaune-Profi Mephistopheles ein Denglisch radebrechender Lifestyle-Coach; Softie Faust ein gutmütiger Taxifahrer in Nöten; Wagner ist ein nerviger Rollstuhl-Neger und das Gretchen eine von ihrer konservativen türkischen Familie drangsalierte Biokost-Verkäuferin. — Hilfreichere Orientierung als ich bieten könnte liefert die Inokulierung von Andreas Platthaus anlässlich der F.A.Z.-Fassung: »Quadratnase für Faust«.

Diese schnelle Empfehlung will ich auf den Punk bringen, indem ich meine absolute Lieblingsszene nachzuerzählen versuche:

(Seite 35): {Zusammenhang, in den weiteren Klammern folgt die Kästchen-Nummerierung} Mephisopheles, kurz: Meph, hat Faust betüdelt einen Vertrag mit ›Happy Life‹ zu unterschreiben. Leistung soll sein: Faust glücklich zu machen, was Goethe mit »Augenblick verweile doch, Du bist so schön« umschrieb. Gegenleistung: ›Happy Life‹ soll die exklusiven Nutzungsrechte an Fausts Seele nach dessen Abbleben erhalten. Nun soll es ans Unterschreiben gehen.

{Zwölfer-Gitter mit 3 Kästchen pro Zeile: 1} Fausts Hand führt einen Stift zur Linie für die Unterschrift. {2} Faust und Meph (mit Kaffee) erschrecken, denn der Papierblock des Pakt-Vertragswerks steht plötzlich in Flammen. {3} Meph zückt ein zweites Pakt-Werk. »Das passiert manchmal«, meint er fidel, »Zum Glück habe ich noch ein feuerfestes Exemplar dabei.«

{4} Himmel: GOtt, so ein blonder Pferdeschwanz- und Schnauzbarttyp in hellgrauem Anzug mit Krawatte, überm Kopf schwebt das ›Auge im Dreieck›-Symbol, steht am Himmelsgeländer ›snippt‹ mit den Fingern. Hinter ihm fliegt sein kleiner Sekretärs-Engel, feister Baseballkappen-Typ mit Zigarette und Headphone. {5} Bei Faust und Meph flattern nun auf einmal die Seiten des Paktes herum. {6} Himmel: Headphone des Sekretärs klingelt. »Käpt’n! Ein interner Anruf.«

{7} Chaos aus durcheinander fliegendem Papier bei Faust und Meph. Zweiterer versucht hektisch die herumschwirrenden Blätter einzufangen. »Ups! Da ist wohl … irgendwo … ein … Fenster … auf.« {8} Himmel: GOtt snippt und fragt: »Wer ist dran?«. Der Sekretäts-Engel hält immer, wenn jemand anruft, eine Stellvertreterhandpuppe des Anrufers hoch, diesmal einen kleinen Papst. »Kollege Benedikt. Wann Sie Zeit hätten, mit ihm vor seinen Vortrag für die Präsentation am Sonntag durchzugehen.« — »Morgen. Morgen früh«, antwortet GOtt. {9} Faust beim Versuch zu unterschreiben meint nun: »Hm. Schreibt nicht«, und Meph hält schon einen Füller hoch: »Der vielleicht.«

{10} Himmel: GOtt, hochkonzentriert, snippt und snippt. {11} Faust unterschreibt mit dem Füller, hat dabei einen Indianerkopfschmuck auf und Meph trägt einen Cowboyhut. {12} Himmel: GOtt sagt bedröppelt: »Mist« und sein Sekretät kommentiert trocken: »Versnippt.« — Voila!

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Flix: »Faust. Der Tragödie erster Teil« (2009 als Serie in F.A.Z.; 2010 in Buchform); Mit einem Vorwort von Andreas Platthaus; S/W und Grau, 96 Seiten; Gebunden, Carlen Verlag; ISBN: 978-3-551-78977-8.

Heute ist es soweit: 258 Jahre Goethe

(Eintrag No. 403; Olympierrückkehr) — Heit, anläschlich desch Gebuttstages, und der vorörtlichen Feschtlichkeit der Änthüllung des frisch rennofierten Dänkmals gehts natärrlich um njemands annasch als den gutn altn …

Die Namensplakette des Goethedenkmals

Ein Hoch auf ihn, auch mir ist er ein Wetzstein sondergleichen, und da wollt ich a mal gucken, wie das so zugeht, wenn man einen Klassiker wieder auf den Sockel hebt. Schon mal reingefallen: die Denkmalsenthüllung hab ich prall verpasst, denn ich trudelte erst um 13 Uhr am Rossmarkt ein, und das Hinfortreissen der Verhüllung soll dem Vernehmen nach pünktlich zur Geburtsstunde Schlag 12 Uhr stattgefunden haben.

So konnte ich aber staunen, wie der Platz sich binnen einen Stunde füllte, derweil »Die Dramatische Bühne« wie immer köstlich und lebendig einen gerafften »Faust« aufführte. Umsonstversorgung mit Apfelschorle und süßen Gespritzen wurde ausgeschenkt (weil der Frankfurter ja sonst nicht weiß, daß es was zum Stehenbleiben gibt). Herr Bürgermeisterin Petra Roth sprach Punkt 14 Uhr die lässlichen offiziösen Feiertagsworte und sodann stiegen die Dramatiker richtig ins Eisen. Ja doch, das Volk klatschte, als in Goethes Worten das buckelnde Untertanentum gescholten wurde; jedoch, als Bauernaufstandsmob gab man nur lasch Getön (wohl schon zuviel vom guten Äpfelbräu intus), da half es auch nichts, die wohlroutinierten Aversionen zwischen Offenbachern und Frankfurtern zu beschwören. Wer so mau revoluzzt, stört nicht mal den Nachbarn beim glotzen der großen Samstagabendshow (für die ganze Familie).

Dennoch: auch mir wurd warm ums Poetenherz. Immerhin, soviele Leute waren da:

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Und wirklich schön buzzzt hamm'se das Denkmal, wie man den klassichen Sockelbasreliefs erkennen kann, die bekannte Stücke des Meisters zum Thema haben (ich glaube Ariadne auf Naxos und den Faust'schen Doktor mit Einflüster-Deifi erkennen zu können):

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Mal schaun, zu welchen nun in den nächsten zwei Wochen stattfindenden Goethefestivalsveranstaltungen ich meinen Kadaver schleppen kann. Derweil hab ich schon mal einen kleinen Johann Wolfang-Stapel in meiner (gothischen) Leseklause aufgetürmt; natürlich die sechsbändige Inselkassette, der Inselband mit den Gedichten komplettamente, mit »Unser Goethe« von Bernstein und Henscheid, mit Nicholas Boyle prächtiger zweibändiger Biographie und als mir wertestes Gemmchen: »Gute Güte, Goethe – Bizarres und Behämmertes aus 250 Jahren deutschen Goethetums« von Oliver Maria Schmitt & J.W. Jonas. — Soviel von nem Bild der Welt, die man für die beste hält, amici.

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