molochronik

Molos Übersetzung von Daniel Chandlers: »Eine Einführung in die Genre-Theorie«

Eintrag No. 572 — Vor etwa vier Jahren habe ich angefangen, diesen Text von Daniel Chandler zu übersetzen. Aus verschiedenen Gründen habe ich die Arbeit zur Seite gelegt. Damals hatte ich das Gefühl, noch nicht gut genug zu sein, um so einen ›trockenen‹ literaturtheoretischen Text brauchbar ins Deutsche zu übersetzen. Vergangene Woche aber bin ich in einem meiner Archive wieder wieder über das Dokument gestolpert, habe in den letzten Tage daran herumgefeilt und biete es nun also für deutsche Leser an.

Solch ein einführender Überblick zum Thema Genre hat meiner Meinung nach im deutschen Netzel bisher gefehlt (mir ist zumindest nichts Vergleichbares, frei Zugängliches auf Deutsch bekannt). — Immerhin grassieren die ärgsten Irrungen und Vorurteile. Zum Beispiel, dass sich Genres klar und eindeutig voneinander abgrenzen, bzw. einzelne Texte sich problemlos einem Genre zuordnen lassen, ähnlich der biologischen Unterteilung von Pflanzen und Tieren; oder dass Genres sich durch einen Kriterienkatalog bestimmter inhaltlicher Ein- und Ausschluss-Merkmale definieren lassen.

Hier nun lediglich eine Zusammenfassung. Wenn Ihr den ganzen Text von Daniel Chandlers »Eine Einführung in die Genre-Theorie« lesen mögt, dann klickt oben auf das Bild, oder hierher, um das PDF herunterzuladen.

  • Das Problem der Definition Zweifel — Tradition der Typologie — ›Keine neutrale Angelegenheit‹ — Vier Hauptprobleme (Ausdehnung, Normativismus, monolithische Definitionen, Biologismus) — Konventionen — ›Empiristisches Dilemma‹›keine diskreten Systeme‹ — Familienähnlich- und Prototypenhaftigkeit — Eine Frage der Absicht — Genre sind ›Prozesse der Systematisierung‹ — Machtkämpfe zwischen Genres — A-historische Suche nach ›Idealtypen‹ — Drei Merkmale evolutionärer Genre-Entwicklung (kumulativ, konservativ, Ausdifferenzierung) — Gefahr des Essenzialismus — Genres als Verkörperung bestimmter Werte und Ideologien — Marxistische Sicht auf Genre: Instrument gesellschaftlicher Kontrolle — Absichten von Genres — Die ›rhetorische Dimesion‹ — Mitteilungsmodus und idealer Leser — Gesellschaftliche Prägung — Nutzen von Genres für Massenmedien — Wirtschaftliche Vorteile von Genres — Minderwertigkeit von Genretexten — Intertextualität — Schablonen — ›Kein Text ist ohne Genre‹.
  • Innerhalb von Genres arbeiten Genres als stillschweigende Verträge — Kreative Spannung und Effizienzsteigerung — Genres als Bezugsrahmen und Schablonen — Genrekenntnisse als ›kulturelles Kapital‹ — Studien über Kinder und Genres — Soziale Zugänge zu Genres — Vertrautheit und Abweichung — Arten der Beteiligung — ›Verwendung und Zufriedenstellung‹ — Erkennen von Vertrautem — Hinauszögerung und Vorfreude — ›Kognitive‹ Befriedigung — ›Wiederholung und Variation‹ — Urteile fällen — Austausch mit interpretierender Genre-Gemeinschaft — ›universelle Dilemmas‹ und ›moralische Konflikte‹.
  • Die Konstruktion des Publikums Erschaffung der Leserschaft — Verbreitung hegemonieller Ideologie — Konstruktion von Verschiedenheit und Identität.
  • Vorteile der Genre-Analyse Textualität, Lesart und gesellschaftlicher Zusammenhang — Gleichmacherei entgegenwirken — Historische Perspektive — Routinen und Formeln aufweisen.
  • Hilfreiche Handreiche für eigene Genre-Analysen
    • Allgemein
    • Zum Mitteilungs-Modus
    • Beziehungen zu anderen Texten
  • Appendix 1: Taxonomie von Genres Vier Arten des Handlungsverlaufes (Exposition, Argument, Beschreibung, Erzählung) — Fiktionale und Nicht-fiktionale Genres — Wissen und imaginäres Vergnügen — Hybridformen — Abbildung: TV-Genres.
  • Appendix 2: Textmerkmale von Genre-Film und -Fernsehen Narration — Charakterisierung — Grundthemen — Setting — Ikonographie — Techniken — Stimmung und Tonfall — Thema und Form.
  • Quellen und empfohlene Lektüren

Meine liebste ›Fantasy‹-Mukke: Ralph Vaughan-Williams und seine »Fantasia on a Thema by Thomas Tallis«

(Eintrag No. 471; Musik, ›typisch‹ England, Streichorchester, Renaissance & Moderne, Agnostik) — Heut knall ich Euch mal wieder besten Bildungsbürgerkrempel vor die Füß’. Im Thread »Fantasy und Musik« senfte ich gestern meinen Teil dazu, und bin dann, über welche Google-Pfade genau, weiß ich schon nicht mehr (es hatte aber was mit dem Unterschied / Streit zwischen ›absoluter‹ und / versus ›programmatischer‹ Musik zu tun) bei Ralph Vaughan-Williams (1872 - 1958) gelandet.

Diesen englischen Komponisten des letzten Jahrhunderts habe ich als Teen für mich entdeckt (ich glaub, durch die Life-TV-Übertragung der Eröffnung eines Schleswig Hollstein-Musikfestivals) und bin seitdem ein ›Fan‹ von seinem Zeug. — Bei uns kennt man wohl noch am ehesten seine »Fantasia on Greensleves« und eben das Stück, das auch zu meinen absoluten Favoriten aller Zeiten und Musikrichtungen gehört: die »Fantasia on a Theme by Thomas Tallis«.

Vaughan-Williams machte sich u.a. mit diesem Stück einen Namen als ›verrückter, junger, moderner Komponist‹, denn im Jahr seiner Erstaufführung, 1910, war dieses Stück in der Tat etwas Unerhörtes. — Es freut mich, dass bei lastfm die Möglichkeit besteht, eine komplette Aufnahme in guter Qualität zu hören, eingespielt vom New Zealand Symphony Orchestra unter der Leitung von James Judd (als CD bei Naxos erschienen).

Manche werden das Stück vielleicht wieder erkennen, denn es begleitet sehr effektvoll eine der tragischsten Szenen des brillianten Historienabeneteurfilms »Master and Commander«.

Das von Vaughan-Williams in der Fantasia verarbeitete Thema hat Thomas Tallis (ca. 1505 - 1585) — einer der großen Meister der elizabethanischen ›Golden Age‹ englischer Renaissance-Musik — 1567 für ein Psalter-Gesangsbuch des anglikanischen Erzbischofs von Canterbury geschrieben. Damals, mitten in den Auseinandersetzungen zwischen dem anglikanischen und dem katholischen Fraktionen, haben die Leute zu dieser Melodie folgenden kämpferischen Text gesungen:

Why fum'th in fight the Gentiles spite, in fury raging stout? Why tak'th in hand the people fond, vain things to bring about? The Kings arise, the Lords devise, in counsels met thereto, against the Lord with false accord, against His Christ they go.

Später dann (1906), legte man andere, zahmere Psalm-Verse auf diese im phrygischen Modus gehaltene Melodie.

Wer gut genug Englisch versteht, sollte sich unbedingt die folgenden sechs Teile einer Sendung der Reihe »Discovering Music« von BBC 3 gönnen. Darin wird erfreulich genau die »Fantasia on a Thema by Thomas Tallis« auseinandergenommen und erklärt.

Teil 1 / Teil 2 / Teil 3 / Teil 4 / Teil 5 / Teil 6.

Es gibt mittlerweile viele viele Einspielungen dieses Stückes. Die beste ist für meinen Geschmack (ich mags als durch Leonard Bernstein, Riccardo Muti und Claudio Abbado und Günter Wand Geprägter eben satt, mit wumms und mächtig brazend) die durch das »Orpheus Chamber Orchestra«, aufgenommen für »Deutsche Gramophon«.

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Für alle, die des Englischen nicht so mächtig sind, hier notizenhaft eine Zusammenfassung der Ausführungen au der BBC-Doku »Discovering Music«.

Teil 1 stellt das Stück erstmal als eine Kompositionen vor, die dafür bekannt ist, etwas essentiell ›typisch Englisches‹ auszudrücken, was schon in der Besetzung zum Ausdruck kommt, nur Streicher welche damals, 1910, viele englische Zeitgenossen hingerissen hat. Es folgt ein Beispiel der ursprünglichen Tallis-Hymne für Chor, ganz geprägt von einer ›maskulinen Christlichkeit‹, protestantisch und kämpferisch der ›heidnischen Bedrohung durch die katholischen Spanier‹ entgegentretent, äh, -singend. Vaughan-Williams nimmt dieses Thema und verarbeitet es von Beginn an mit einigen sehr tiefgründigen Strömungen, die auf mehr verweisen als nur ›Englischhaftigkeit‹. — Zuerst wird das Thema von gezupften Cellos und Violas vorgestellt, worauf gestrichene Geigen gesangartig antworten. Mit melancholisch-suchender Geste wird das Thema dann richtig etabliert, mit dunklem Klang aber den hellen, schimmernen Noten der ersten Geigen. Das ist Welten entfernt von der Einfachheit der ursprünglichen Tallis-Fassung. Die schimmernden Harmonien lassen an einen Glorienschein denken. Worauf dieser Schein verweist, zeigen die allerersten fünf getragenen, weitgefächterten Akkorde. Vor allem der erste Akkord klingt besonders gespenstisch, mit einer seltsamen aetherischen Resonanz von ›ursprünglicher Reinheit‹. Auf diesen ersten Klang wird das Stück noch einige Male zurückkommen. Es ist ein G-dur-Akkord, der sich über die gesamte Spannweite des Streichorchesters erstreckt.

Teil 2 lenkt die Aufmerksamkeit auf das Nachhallen dieses ersten Akkordes. Das ist ein sorgfältig eingestzter Effekt, denn die einzelnen Noten des Akkordes (g, b und d) lassen die g- und b-Seiten der Streichinstrumente sympathisch warm mit- und damit nachklingen. Aber was will Vaughan-Williams mit diesem leuchtenden, aetherischen G-dur-Klang darstellen? — Um dem nachzuspühren, werden zwei andere Orchesterstücke erwähnt, die auf überraschend ähnliche Weise diesen Effekt nutzen: Paul Hindemiths Symphonie »Mathis der Maler« von 1938 (übrigens dem »Batman«-Thema von Danny Elfman sehr ähnlich) und Charles Ives »The Unanswered Question« von 1908. Ives trachtet mit seinem Stück die schweigende Transzendenz des (Welt-)Raumes darzustellen, und dessen unerforschliche Geheimnisse. — Vaughan-Williams war aber einer, der es nicht mochte seinen Hörern auszudeuten, was seine Musik genau bedeutet. »Können die Leut’ nicht verstehen, dass ein Mann einfach nur eine Melodie niederschreiben will?«, grummelte er, als Musikkritiker seine 6. Symphonie als »A War Symphony« beschrieben. — Dennoch: der eröffnende G-dur-Akkord gewährt für einen Augenblick die Vision von etwas Überirdischem, die aber dann verblasst und abgelöst wird durch Fragmente der Tallis-Hymne. Um diese Deutung zu untermauern, greift die Dokumentation auf ein früheres Stück von Vaughan-Williams zurück, »Toward the Unknown Region«, nach Versen des amerikanischen Dichters Walt Whitmann. In »Toward the Unknown Region« geht es um den Tod, auf den aber vielleicht eine Wiedergeburt folgt; was aber auch nur im übertragenen Sinne gemeint sein könte (also als ›los- und hinter sich-lassen um sich erneuern zu können‹.) Durchaus plausibel, dass auch die Tallis-Fantasia sich in unbekannte Gefilde aufmachen will.

Teil 3 untersucht nun genauer, wie Vaughan-Williams die Melodie von Tallis entwickelt. Bemerkenswert ist die große rhythmische Ungebundenheit des Tallis-Themas; zwar ist die Melodie in einem langsamen 3/4-Takt notiert, aber sie fließt und wabert mal schneller, mal langsamer. Auch die Harmonik erscheint unstabil, denn sie legt sich nicht auf G-dur oder g-moll fest. Das liegt an der von Tallis verwendeten alten phrygischen Tonart mit ihren verminderten ersten und letzten Intervall. Für an moderne Tonarten (seit der Temperierung der Tonleiter) gewohnte Ohren klingt das eigenartig ruhelos. — Weiter geht’s damit, dass die Cellos wieder nach dem anfänglichen geheimnisvoll-friedlichen Glanz des G-Dur-Akkord streben, jedoch wieder absinken, während die Geigen und Violas die steigende Bewegung aufgreifen und fortsetzten. Das läßt dann an die aufstrebenden Säulen einer alte Kathedrale denken.

Teil 4 setzt dann bei der Stelle ein, als dieses Strecken und Auffächern zu dem G-dur-Akkord gefährdet wird durch eine g-moll-Unterbrechung. Aber gleich macht sich das Streichorchester noch mal auf, zurückkehren zu wollen zur ursprünglichen Glorien-Vision, nach dem Scheitern nun aber mit heftigerer und auch dunklerer Intensität (dies ist auch die Passage, welche in »Master & Commander« verwendet wurde). — Dieser zweite Versuch kommt aber nicht zu einem richtigen Zwischenstop, sondern verliert sich in unheimlichen Wiederholungen, die zudem immer weiter vom G-Dur-Ursprung wegdriften. — Nun macht Vaughan-Williams etwas sehr Ungewöhnliches, indem er das Streichorchester in zwei Teile spleißt: einen großen Hauptkörper und einen entfernteren kleineren Kammerorchester. Ein Dialog beginnt, mit mutig-kräftigen Phrasen des Hauptorchesters und gesangsartigen Erwiderungen des Kammerorchesters. Dieser Gegensatz zwischen dem warm-strebsamen, nahen menschlichen und den körperlos-fernen, überirdischen Klängen wird noch deutlicher werden. Diese Passage ist geprägt vom Umhertasten und der Suche nach den anfänglichen, reichen und schönen G-Dur-Klang. — Hier wird nun auf ein anderes Stück von Thomas Tallis verwiesen, »Spem in alium«, das ebenfalls sehr geschickt raumklanglicher Effekte nutzt. Bemerkenswert auch, dass der Text von »Spem in alium« sich mit der auf Gott vertrauenden Hoffnung beschäftigt. Ist es zu abwegig anzunehmen, dass Vaughan-Williams mit seiner »Fantasia on a Theme by Thomas Tallis« auf eine ähnliche Art und Wiese die Sehnsucht nach spritueller Gewissheit und Hoffnung zum Ausdruck bringen möchte wie Tallis selbst? — Weiter gehts mit einer Solo-Viola, die ein Thema der Tallis-Hymne aufgreift und einen neuen Abschnitt beginnt, fast schon improvisierend, als ob hier ein einzelner Musiker für sich selbst in Gedanken versunken vor sich hin fiedelt. Die beiden Streichorchester erinnern zwischendurch an das Ursprungsthema und wo es herkommt. Weitere Solo-Streicher greifen die Viola-Improvisation auf und entwickeln sie weiter zu einem Streichquartett, das aber überhaupt nicht wie ein ›klassisches‹ Streichquartett klingt. Der Rhythmus ist so ungebunden, dass es schwer ist überhaupt einen festen Takt auszumachen und die Stimmen wogen in einer frei fließenden Polyphonie. Das klingt, als ob vier Folk-Musiker auf der Höhe ungezwungenen Improvisierens miteinander musizieren.

Teil 5 spekuliert nun, ob Vaughan-Williams tatsächlich an Folk-Musiker dachte (= ›Volksmusikanten‹, nicht zu verwechseln mit ›volkstümlichen Musikanten‹), die für eine andere Art von Ursprünglichkeit stehen könnten als die alte Kirchenmusik. Vaughan-Williams war immerhin von Folkmusik fasziniert, machte sich oftmals auf sie zu suchen und aufzuschreiben und sie somit vor dem Vergessen zu bewahren. Auch läßt die Streichquartett-Passage an die Musik von Henry Purcell und William Lawes denken, die ebenfalls zur Zeit, als Vaughan-Willliams seine Tallis-Fantasie schrieb, nach Langem wiederentdeckt wurden. — Markant erwähnt wird nun der Titelbegriff »Fantasia«, als ob Vaughan-Williams damit sagen wollte, dass es sein Ansinnen war, ein Resumme über die ferne musikalische Vergangenheit seines Heimatlandes zu komponieren. »Hier in dieser von uns vergessenen Musik«, scheint Vaughan-Williams sagen, bzw. zeigen und erscheinen lassen zu wollen, ist der Keim zu etwas Neuem, eine Alternative zur von germanischen Moden geprägten Musik, ein frischer, nach vorne blickender nationaler Stil.« — Es es geht aber wohl um mehr als nur musikalische Moden, nämlich zudem auch um die Suche nach spiritueller Identität, um eine transzendente Wahrheit, die vielleicht durch den aetherischen G-dur-Anfangsakkord dargestellt werden soll. Wir haben diese Wahrheit flüchtig in der alten Kirchenmusik und in der Volksmusik gehört, aber wie können wir sie als Heutige wiedererlangen? — In der Klimax wiederholt das ganze Orchester die Improvisation des Quartetts, frei von der Gängelung der 3/4-Takteinteilung, ganz so wie auch Stravinski 3 Jahre später in seiner »Frühlingsweihe«. — Ist es arg übertrieben die Tallis-Fantasia als moderne Musik zu bezeichnen? Eigentlich nicht, denn es ist ein großes Thema der Moderne, die Vergangenheit wiederzuentdecken und wie sich dabei etwas Neues schaffen läßt. Vaughan-Williams’ Tallis-Fantasia ist eine der ersten prächtigen Kompositionen, mit der sich ein moderner Komponist unerschrocken und sehr fruchtbar einer über 1000-jährigen musikalischen Vergangenheit stellt. — Wie aber sieht es mit der ›ursprünglichen Reinheit‹ des anfänglichen G-dur-Akkords aus? Das Orchester hat in der Klimax diese Vision fast erreicht, doch nun beginnt sie wiederum zu verblassen, die Schatten werden länger. Die Reise in die ›unbekannten Gefilde‹ war von Beginn an eine heikle, düstere Sache und die Dunkelheit droht nun wieder überhand zu nehmen. Wieder steiegen als Bass-Pizzicato Fragmente des Tallis-Themas aus den Tiefen hervor.

Teil 6 erzählt, wie zum Ende fast der anfängliche G-Dur-Akkord vollends wiederkehrt, wenn die Violas aufsteigen, begleitet von tremolierenden Geigen und gezupften Cellos und Bässen. — Eine Geige und eine Violine lassen noch mal zusammen das Tallis-Thema erklingen, wobei die Geige ganz dem alten Kirchenlied verpflichtet bleibt, und die Viola es in freier Volksmusikmanier kontrapunktisch umtänzelt. Aber wird der strahlende Anfangsakkord wiederkehren? Langsam trudelt die Musik wieder zurück zu G-Dur und streckt sich nach dem Glanzakkord, das Orchester fächert sich auf und kehrt zu dem reichen, weitgespreizten Anfangsakkord zurück. Oder? Kaum ist der Akkord erklungen, verdunkeln die Bässe, Cellos und Violas die Vision wieder, indem sie ihre Noten mit anschwellender Kraft wiederholen. »Die Suche ist nicht vorbei. Die Vision liegt (immer) etwas jenseits unserer Reichweite. So nah, und doch so fern. Wir wissen, dass diese transzendente Vision möglich ist, wie haben sie gehört, aber nur für einen kurzen Moment. Wir haben sie erspäht, aber nur am Rande unseres Gesichtsfeldes. Sobald wir sie klar zu sehen trachten, verschwindet die Vision.« — Wenn diese Deutung richtig ist, dann spiegelt sich in der Tallis-Fantasia Vaughan-Williams’ eigene Haltung gegenüber transzendenten Angelegenheiten. Als Komponist fühlte er sich sein ganzes Leben lang zu religiösen, spirituellen Texten hinzugezogen. Und dennoch bezeichnete er sich selbst nie als jemanden, der christlichem oder sonstigen religiösem Glauben anhing. Für ihn konnten die Möglichkeit des religösen Glaubens und die Tatsächlichkeit unbeantwortbarer Zweifel nebeneinander bestehen, wie es wohl in seiner Tallis-Fantasia zum Ausdruck kommt. Auch dies ist eine sehr moderne Haltung. — Das bestimmt vielleicht auch die uneindeutige emotionelle Qualität des Endes. Das Stück könnte ja einfach mit dem anfänglichen strahlenden G-Dur-Akkord enden, aber stattdessen erhebt sich mit bedauerndem Tonfall eine Solo-Geige über das Orchester und endlich findet das Orchester zurück zu einem warmen G-Dur-Klang. Dieser Schluss-Akkord unterscheidet sich aber von dem G-Dur-Akkord des Anfangs. Mit seinem strebsameren Klang ist der Schlußakkord weltlicher. Damit verleiht Vaughan-Williams vielleicht musikalisch seiner Ansicht Ausdruck, dass wir nicht in Gott oder etwas Überirdischem Trost und Halt finden können, sondern in den humanistisch-sekulären Ideen vom Mensch-Sein.

Molosovskys Literatur-Würfel

Eintrag No. 332 — Mir z.B. cartesianische Systeme über mögliche Literatur-Räume zu basteln, macht mir ziemlichen Spaß.

Folgendes hab ich mal angedacht, um generelle inhaltliche, stilistische Eigenarten von Texten darzustellen:

  • Harmonisch (Einklang, narrativ gesehen: Plausibel, angenehm, wohlklingend) —Disharmonisch (›Missklang‹, narrativ gesehen: Verrückt, unangenehm, unbehaglich klingend);
  • Homophon (vertikale Ausrichtung mit Melodie oben auf, Rest begleitet drunter gefügt; narrativ gesagt ›Spannungsliteratur‹) —Polyphon (horizontale Ausrichtung mit mehreren selbstständigen Stimmen, narrativ ›Facettenliteratur‹);
  • Objektiv (Orientiert sich ›Weltenbau-mäßig‹ an möglichst allgemeinen, gültigen ›realistischen‹ Konventionen) —Subjektiv (Spiegelt das Weltverständnis- Empfinden von kleineren Gruppen oder Einzelnen wieder).

Es gibt natürlich noch eine große Menge weiterer Gegensatzpaare, die man eigentlich ganz fein zu solchen Koordinatenknäul zusammenknüpfen könnte. Die Art wie Raum (stationär oder mobil) , Zeit (linear oder nonlinear) und Körperlichkeit (Herr/Lust oder Sklave/Leid) behandelt werden.

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Dank an M. im BibPhant-Forum für die Anregung.

Über Anspruch

Eintrag No 324 — SF-Netzwerk-Haberer Michael Schmidt hat im Buchform die Frage »Besser kompliziert oder einfach genial?, Qualität und ihre Stilmittel« gestellt.

Zusammengefasst eröffnet Michael wie folgt: Bei Auseinandersetzung über die Qualität von Medienwerken (Buch, Film, Musik ect) wird oftmals der ›Anspruch‹ ins Feld geführt. Andererseits aber sind die meisten großen Hits, Bestseller eher simpel.

»Ist also weniger mehr? Das einfache Konzept die wahre Geistesleistung? Oder sind doch die komplexen Romane das Maß aller Dinge?«

… fragt Michael also.

Ich hab meine Re-Aktion noch etwas überarbeitet, um es im Folgenden den Molochronik-Lesern als weiteren Beitag meiner losen Reihe »Material zum Kapieren« anzubieten.

Zuerstmal: Was für eine Frage! Ich bin mir gar nicht sicher, wie und ob ich die verstehe. Deshalb formuliere ich mal sachte an die Frage heran. Ein Gegensatz soll angenommen werden. Zwischen ›einfach genial‹ und ›anspruchsvoll kompliziert‹.

Am wichtigsten erscheint mir, dass eine Sortierung in diese beiden Schubladen sehr heikel ist. — Um für sich entscheiden zu können, ob etwas ›mit Anspruch‹ daherkommt oder nicht, muss man diesen Anspruch ja erkennen können. Jeder Text konstruiert einen ›idealen Leser‹ (oder setzt einen solchen voraus). Für gewöhnlich sollen solche Dinge wie Genreschubladen, Aufmachung (Cover), Klappentext usw dabei helfen, sich mit entsprechend fruchtbarer Einstellung eines Werkes anzunehmen. Und in einem z.B. Buch gehts so weiter: Vorwort, Motto und der Einstieg sollten (idealerweise) dem Leser markante Signale dazu vermitteln, worauf er sich einlässt, damit er sich darauf einstellen kann. — (Ganz nebenbei: man beachte diesbezüglich die Landkarten- und Glossar-Begeisterung der Fantasy-Phantastik! Wobei: auch die SF kennt Glossare!)

Wink mit dem Zaunpfahl

Beispiel zweier klassischer Romane: Sowohl »Krieg und Frieden« als auch die »Buddenbrocks« haben zu Beginn einiges an wörtlicher Rede auf Französisch. Wer also so ungebildet ist und das nicht versteht, hat also eine böse Hürde, bzw. Leerstellen vor sich. — Man kennt sowas ja auch von z.B. philosophischen Büchern. Da gibts solche Autoren, welche dem Leser die fremdsprachigen Stellen in Anmerkungen oder Fußnoten aufdröseln, und andere, die meinen, wer das Latein, Griechisch, Englisch usw nicht versteht, ists eh nicht wert das Buch zu lesen (weil eben ein ›Barbar‹, und die sollen lieber Erdlöcher buddeln oder in Schlammgruben herummatschen, statt mit ihren Pranken Gelehrtenwerke anzurühren).

Hier eines meiner Lieblingsbeispiele für einen solchen leserorientierenden Zaunpfahl:

»Nichts geht über ein wenig wohlgedachten Leichtsinn«, sagt Michael Finsbury in der Geschichte; und es gibt auch keine bessere Entschuldigung für das Buch, das der Leser nun in Händen hält. Die Verfasser können dazu lediglich noch bemerken, daß der eine von ihnen alt genug ist, um sich zu schämen, und der andere jung genug, sich zu bessern.

— R. L. Stevenson & L. Osbourne, »Die Falsche Kiste« (1889).

Exemplarisch ›unverschämt‹ ist da auch Mark Twains Klausel zu Beginn von »Huckelberry Finn«:

ZUR BEACHTUNG: Personen, die versuchen, ein Motiv in dieser Erzählung zu finden, werden gerichtlich verfolgt; Personen, die versuchen, eine Moral darin zu finden, werden verbannt; Personen, die versuchen, eine Fabel darin zu finden, werden erschossen.

Auf Befehl des Autors für G.G., Kommandant der Artillerie

… oder Anro Schmidts Variation darauf in »Das Steinerne Herz«:

… Infolgedessen wird, im Auftrag des Autors, wie folgt verfügt:
  • a) Wer in diesem Buch ›Ähnlichkeiten mit Personen und Ortschaften‹ aufzuspüren versucht, wird mit Gefängnis, nicht unter 18 Monaten bestraft.
  • b) Wer ›Beleidigungen, Lästerunen, o.ä.‹ hineinzukonstruieren unternimmt, wird des Landes verwiesen.
  • c) Wer nach ›Handlung‹ und ›tieferem Sinn‹ schnüffeln, oder gar ein ›Kunstwerk‹ darin zu erblicken versuchen sollte, wird erschossen.

Bargfeld, den 10. März 1960 das Individuumsschutzamt (gez. D. Martin Ochs)

Später können sich sich dann z.B. Literaturwissenschaftler (aber auch normale Leser) daranmachen, anhand solcher Eigenheiten Rückschlüsse zu ziehen auf z.B. den Zeitgeist, oder den ›idealen Leser‹ wie er dem Autor vorschwebte.

Kamasutra-, ähh Gebets-, hrm Lese-Haltungen

Wiegesagt: ob man etwas als ›kompliziert anspruchsvoll‹ oder ›simple Unterhaltung‹ nimmt, hängt mindestens so sehr von der Einstellung des Lesers beim Konsum ab, wie von der Einstellung des Autoren beim Produzieren (und die dazwischenfunkenden/vermittelnden Instanzen sorgen für das nette Durcheinander, das wir ›den Medienmarkt‹ nennen). — Da gibt es diese unerhörte Möglichkeit des ›Gegen den Strich lesens‹. Persönliches Beispiel dazu: Im Großen und Ganzen bin ich gegenüber Adornos Zeug sehr skeptisch, aber ich erlaube mir, sein »Minima Moralia« als ein humoristisches Buch zu lesen; sprich: ich bin der Meinung, dass Adorno in diesem Buch mehr Humor an den Tag legt, als man gemeinhin diesem Autor zuschreibt.

Somit ist es also von großer Bedeutung, welche Lesehaltungs-Kenntnisse und Begriffs-Vielfalt dem Konsumenten zuhanden sind. »Was der Bauer net kennt, frista net.« — Oder auch: Wer den Mitteilungs-Modus nicht entschlüsseln kann, wird ein Werk entweder falsch aufnehmen, und/oder nur spärlich bis gar kein erbauliches Leseerlebnis damit haben können.

Hier spielt nun der Gegensatz zwischen ›Konvention‹ und ›Originalität‹ hinein. Konventionen sind wohlbekannte, allgemein akzeptierte Eigenschaften von Werken (Bilder mit Rahmen, Bücher die man von vorne nach hinten ließt, Filme mit Main Titles). Nur vor dem Hintergrund der Konventionen hebt sich das Originelle ab. Aber auch hier gibts keine endgültig verbindlichen Orientierungs-Marken, denn das Verhältnis von Konvention/Originalität (also von ›bestehenden Regeln‹ und ›Regelüberschreitungen‹) wandelt sich mit dem Lauf der Moden, und hängt wiederum sehr vom kulturell-geschmacklichem Gepäck des Konsumenten ab.

Östlich-Westlicher Begriffsrahmen-Diwan

So kennt die europäische Ästhetik solche bis heute einflussreichen Begriffe wie ›das Erhabene‹, ›das Groteske‹ und ›das Pittoreske‹. Die japanische Ästhetik aber ist von Begriffen geprägt wie ›Sabi‹ (›Patina‹, Reife & stille Würde des Alterns & Gerbauchtseins, unaufdringliche Schlichtheit), ›Wabi‹ (mit Bedacht gewählte ›Armut‹, Kargheit, Einfachheit) und ›Yûgen‹ (schwebende Stimmung geheimnisvoller Weite & Tiefe).

Ich bringe diese Gegenüberstellung europäischer und fernöstlicher Grundbegriffe der Ästhetik nicht von ohngefähr an. Immerhin erfährt mit dem Manga/Anime-Boom insbesonders die Science Fiction eine ›Fortbildung in Sachen Weltästhetik‹. — Es ging sicherlich nicht nur mir so, daß Animes anfangs (und teilweise immer noch) meine Erwartungshaltungen ganz schon ins Trudeln bringen. Da gibt es viele Konventionen, die mir erstmal seltsam anmuten. — Einige typische Anime-Merkmale, an die ich mich erst gewöhnen musste:

  • deren Mischung aus Realismus (Technik-Oberflächen) und Cartoon (Rehaugen);
  • die Inszenierung von stillen Momenten (Konvention: Stille und Verharren vor dem Moment der Gewalt, aus der sich die ›Bullet Time‹ entwickelt hat);
  • die für mich als Westler oftmals ›unbekümmert‹ (oder mutig?) anmutende Vermischung von Hard-SF (z.B. gesellschaftlich vergleichsweise harter Cyberpunk) und religiöser Mystik (Lebensstromkräfte und transzendente Essenzen).

So kann, was für einen japanischen SF-Fan beste Konfektionswahre ist, die sich locker-flockig genießen lässt, für mich als Europäer als ungemein radikal-originelles Werk daherkommen, dass sich originell vom bekannten abhebt (und umgekehrt: für einen Europäer Konventionelles mag einem Japaner ungewöhnlich und neuartig erscheinen).

Glatte und Rauhe Konventionen

Lange Rede kurzer Sinn: {SF-Netzwerk-Kollege} Simifilm bringt es auf den Punkt, wenn er davon schreibt, daß Werke ›in sich koheränt‹ sein müssen. Wobei natürlich wiederum alles davon abhängt, was einem als ›koheränt‹ gilt; denn es gibt z.B. die Möglichkeit, eben die Nichtkoheränz (oder zumindest: eine gehörige Verwirrung) zur prägenden Eigenschaft eines Werkes zu machen (Maximalbeispiel: »Finnegans Wake« oder auch Werke der Dadaisten, des Non-Sense). — Etwas sanfter als solch eine Totalverweigerung von ›Sinn‹ und klarer Entschlüsselbarkeit ist die Möglichkeit der gewollten Mehrdeutigkeit und Offenheit eines Werkes (Paradebeispiel: Kubricks »2001«).

Man denke auch an den Unterschied zwischen Konsumenten-Beruhigung (›Wellness‹-Dienstleisung) und Konsumenten-Verstörung (Provokations-Dienstleistung). Beide Vorgehensweisen haben jeweils ihre Konventionen. Wer sich z.B. mit Horrorsachen wohlfühlt, wird Ekelszenen und Gemetzel kaum als die Provokation nehmen, die solche genre-eigenen Extreme für jemanden darstellen, der mit Horrorkram nicht so gut kann.

Obwohl diese modernen Ästhetiken der Verstörung, Provokation, Mehrdeutigkeit und des gewollten ›Irrationalismus‹ mittlerweile auf eine eigene Tradition zurückblicken können, ist es nicht liederlich, wenn man sie im Gegensatz zu den ›klassischen Formen‹ als anspruchsvoller oder wenigstens als ungewöhnlicher einstuft.

Form und Inhalt

Zuletzt nur noch eine kurze Erwähnung eines weiteren Spannungsfeldes, in dem sich die begriffliche Gegensätzlichkeit zwischen ›anspruchsvoll‹ und ›einfach‹ aufziehen lässt. — Es gibt ›Ansprüche‹ des Inhalts und solche der Form.

Inhaltliche Ansprüche haben mit Themen zu tun. Hier greifen Fragen nach der Zeitgenossenschaft, oder der gesellschaftlichen Relevanz. Themen wie Serienmörder, Verschwörungstheorien, Esokram fallen mir ein, die oftmals als heikel eingestuft werden, und deren bloßes Vorhandensein bald mal Ablehnung für ein Werk zeitigt. — Aber das Thema Serienmörder kann man eher locker anpacken (Jacksons »The Frighteners«) oder auch mit ›ernsthaftem Anspruch‹ (»Der Todmacher«). Komplexität tritt hier zutage mittels der Art und Weise mit der ein Weltenbau, das Geflecht der handelnden Figuren, die Kleinteiligkeit der Vorgänge (die Kausalitäten) entworfen und entwickelt und aufgelöst werden.

Ansprüche der Form lassen sich vielleicht leichter mittels der Pole Komplixät und Schlichheit betrachten. Hier gibt es z.B. solche Konventionen wie sie z.B. durch die ›aristotelische Forderung nach der Einheit von Raum, Zeit und Thematik‹ postuliert werden. Lustigerweise fällt es heutzutage zumeist als origineller Kniff auf, wenn man sich an dieses Programm hält (»Cocktail für eine Leiche«, »Nick of Time«, »Phone Booth«, »24«).

Beispiele einiger Form-Konventionen: Üblicherweise erwartet man, daß eine Geschichte von A nach Z erzählt wird. Stellt man das auf den Kopf (z.B. »Memento«), gilt das dann eher als ungewöhnlich. — Das Publikum will zuvörderst dem Erzähler oder der Erzählperspektive vertrauen. Erzählerfiguren (oder Erzählerstimmen), die den Leser auf eine falsche Fährten lockt gelten eher als kecker Griff in die Trickkiste (»The Usual Suspects«). — Dann: wir leben in den hohen Modetagen des ›Reinspringens in die Handlung‹. Vorspiele (Prologe) oder z.B. panoramische Einstiegssequenzen sind heute eher die Ausnahmen (wenn auch nicht grad super-selten; bei Historienfilmen sind z.B. einleitende Texttafeln etwas durchaus Übliches; so wie bei Märchen zu Beginn noch das große illustrierte Buch aufgeschlagen wird und ein »Es war einmal…« aus dem Off anhebt).

Um Simifilms Argument aufzugreifen: Inhalt und Form eines Werkes sollten soweit zueinander passen (miteinander harmonieren), dass man als Konsument eine faire Chance hat, den Entcodierungs-Schlüssel zu finden. — Alles andere hängt dann wohl eher vom Betachter ab, und ob man eben z.B. eher danach trachtet sich zu ›entspannen‹ oder zu ›bilden‹. Ich setzt ›entspannen‹ und ›bilden‹ deshalb in einfache franz. Anführungszeichen, weil auch hier keine eindeutige Ordnung besteht. — ›Bilden‹ kann Info-Aufsaugen (Fakten, Daten, Zusammenhänge), aber auch Seelen-Bildung (Erweiterung des Empfindungsspektrums, Zornformung, Vorstellungskraft-Training) bedeuten. — Und ›Entspannung‹ mag daherkommen als süß (›Kitsch‹, das Niedliche, Tröstliche, streichelnder Humor) oder scharf (Äktschn, Explosionen, zwickender Humor) oder bitter-sauer (Grauen, Ekel, Tollschocks, ätzender Humor) … usw.

Glückwunsch: Ihr habt das Ende dieses Stegreif-Vortrags erreicht.

»Der Eiserne Rat«: Das Blog-Seminar von Crooked Timber über und mit China Miéville. Deutsche Fassung

Eintrag No. 319 — Nach meiner Übersetzung des Crooked Timber-Seminars zu Susanna Clarkes »Jonathan Strange un Mr. Norrell«, kann ich heute meine deutschsprachige Fassung der sechs Essays über China Miévilles »Der Eiserne Rat«, sowie Chinas Reaktion darauf anbieten. Das PDF hat 72 Seiten und ist 1,4 MB groß, und gedacht für alle, die lieber in Ruhe soviel Text aufm Papier lesen. — (Tausend Dank von Herzem dem phantastischen TeichDrachen für seine Servergastfreundschaft.)

Falls der PDF-Link Probleme bereitet, schicke ich es auf Anfrage gern per eMail zu. Zwecks Kontakt: siehe Ende dieses Eintrages (oder auch mein Impressum).

Damals, im Januar 2005 bin durch das Seminar zu »Der Eiserne Rat« auf Crooked Timber aufmerksam geworden und seitdem von diesem wunderbaren Akademiker-Gruppenblog hellauf begeistert. Ich will nicht am Niveau der deutschsprachigen Beschäftigung mit Genre-Werken herumnörgeln (denn soooo seicht ist das gar nicht; man klicke sich entsprechend durch meine Linkliste), hoffe aber doch, daß allen, die sich gerne ausführlicher und ›tiefer‹ mit Phantastik, Literatur und der Beziehungen zwischen Ästheteik und Engagement beschäftigen, hiermit ein weiteres sattes Bonbon geboten wird. — Auch wenn es vermessen klingen mag: Ich fände es superb, wenn dieses Format eines Blog-Seminars mit Beteiligung des Autoren vielleicht auch bei uns Schule macht. Ich würde mir dafür gern einen Haxen ausreißen (mit dem Zaunpfahl wink).

Hier Henry Farrells einleitende Worte vom Januar 2005.

Die Namen-Links der einzelnen Autoren und Autorinnen führen zu den englischen Originalfassungen bei Crooked Timber, die Essay-Titel-Links zu den hier in den Kommentaren gelieferten deutschen Fassungen.

Einleitung

China Miéville ist einer der interessantesten Autoren auf den Gebieten der Science Fiction und Fantasy. Sein erster Roman König Ratte[1] greift Drum'n'Bass, Max Ernst[2], Robert Irwin[3] auf und ist im zeitgenössischen London angesiedelt. Sein zweites Buch Perdido Street Station[4], ein von Kraft, Witz und grimmiger Wildheit erfüllter urbaner Phantastikroman, hat das Genre im Sturm erobert, und wurde mit dem Arthur C. Clarke Award[5] ausgezeichnet. Wie Michael Swanwick[6] 2002 in der Washington Post schrieb, ist es »ein bischen frech von mir, ein Buch das erst vor zwei Jahren erschienen ist, als Klassiker zu bezeichnen. Doch ich denke, ich befinde mich mit dieser Behauptung auf sicherem Boden.« Sein dritter Roman Die Narbe[7] erhielt vergleichbares Lob. China Miéville gehört zur offiziellen Auswahl Beste Junge Britische Autoren 2003 von Grantas salon de refusés. Zudem engagiert sich China für sozialistische Politik — er kandidierte für das Parlament bei den letzten Wahlen. Das auf seiner Ph.D.-These basierende Buch Between Equal Right: A Marxist Theory Of International Law[8] wird diesen Monat bei Brill Publishers verlegt.

Im August 2004 erschien Der Eiserne Rat[9], Chinas jüngster Roman. Michael Dirda[10] von der Washington Post beschreibt ihn »als ein Werk, daß sich sowohl durch leidenschaftliche Überzeugung als auch höchste Künstlerschaft auszeichnet.« Vor ein par Monaten hat die Miéville-Fraktion von Crooked Timber beschlossen, daß es Spaß machen könnte ein kleines Mini-Seminar über Der Eiserne Rat zusammenzustellen und China zu fragen, ob er darauf reagieren möchte. Äußerst entgegenkommend sagte er zu und das Ergebnis liegt Ihnen hiermit vor. Wir haben zwei regelmäßige Gastautoren eingeladen an diesem Mini-Seminar teilzunehmen. Matt Cheney blogt über Literatur und Science Fiction bei The Mumpsimus und schreibt darüber hinaus für das Locus Magazin[11] und die SFSite[12]. Miriam Elizabeth Burstein blogt unter The Little Professor, unterrichtet über Viktorianische Literatur an der Suny Brockport Universität von New York. Miriam hat im fortgeschrittenen Verlauf dieser Unternehmung freundlicherweise zugestimmt, sich anzuschließen und eine bereits geschriebene lange Besprechung (auf die China sich unabhängig bereits bezogen hat) zu überarbeiten.

Die Essays hier sind in der Reihenfolge angeordnet, in der China auf sie in seiner Antwort eingeht (wer Der Eiserne Rat noch nicht gelesen hat, sollte wissen, daß vom Inhalt einiges verraten wird).

John Holbo beginnt in seinem Aufsatz Für ein einziges Wort… mit Anmerkungen zur Beziehung zwischen Miéville und Tolkien; dann greift er die Auseinandersetzung von Bruno Schulz über Eskapismus und die Fruchbarkeit unbelebter Materie auf, um dargzulegen, daß China sich bei seinem Mitteilungsmodus nicht zwischen politischer Ökonomie und expressionistischen Puppentheater entscheiden kann.

Belle Waring beschwert sich in New Crobuzon: Wenn du es hier um-modeln kannst…, daß die unerbittliche Grimmigkeit von Miévilles urbanen Schauplätzen und das Schicksal seiner Figuren etwas formelhaft sind; er sollte seine Charaktere vorankommen und vielleicht sogar Erfolg haben lassen.

Matt Cheney hat mit Ausgleichende Traditionen… teilweise eine alte Besprechung überarbeitet, in der er meinte, daß Miéville seine Bösewichter etwas realistischer darstellen sollte; er legt seine Gründe dar, warum Miéville das hätte tun sollen, und beschreibt, wie Miéville Pulp- und Avantgarde-Literatur in seinen Werken miteinander versöhnt.

Mein Essay Ein Argument in der Zeit vergleicht Miévilles Neubearbeitung von Historie, Mythos un Revolution mit Walter Benjamins Thesen zur Philosophie des Geschichsbegriffes.

Miriam Elizabeth Burstein untersucht in Aufhebung von Messiasfiguren, wie Miéville Ideen des Märtyrertums und des Messianismus mit der Figur des Judah Low umarbeitet.

Schließlich schreibt John Quiggin mit Vergangenheit (und Zukunft) um-modeln über Der Eiserne Rat im historischen Zusammenhang, und legt dar, wie der titelgebene Zug des Romans sich zu einem Mythos entwickelt der wiederkehrt um uns zu ›retten‹, so wie auch die revolutionären Traditionen des neunzehnten Jahrhunderts die in Der Eiserne Rat gefeiert werden, weiterhin als Quellen der Inspiration dienen.

Auf all das Vorgebrachte und mehr antwortet China mit seiner Erwiderung Mit einem Sprung sind wir frei….

Dieses Seminar wird unter den Bedingungen einer Creative Common Lizenz 2.0 zugänglich gemacht, wobei gemäß der Gepflogenheiten der angemessenen Verwendung von zitierten Material, die jeweiligen Urheberrechte von Der Eiserne Rat und anderer Werke, nicht verletzt werden.

Dieses Seminar ist auf englisch als PDF verfügbar, für alle, die Texte lieber ausdrucken und auf Papier lesen.

— Henry Farrell, Januar 2005.

Zur Übersetzung des Seminars

Wie schon bei meiner Übersetzung des Crooked Timber-Seminars zu Susanna Clarkes »Jonathan Srange & Mr. Norrell«, finden sich die Quellenangaben der angeführten Zitate in den Fußnoten dieser Übersetzung. Zudem habe mir erlaubt, in den Fußnoten diese Übersetzung um hilfreiche Handreiche für deutsche Leser zu ergänzen. Ich hoffe, daß die wenigen Fußnoten der Autoren sich leicht von den Quellenangaben und meinen Handreichungen unterscheiden lassen.

Alle ursprünglichen Fußnoten der Autoren sind wie der Haupttext in normaler Größe wiedergegeben, meine Anmerkungen dagegen wie diese Anmerkung zur Übersetzung in kleinerer Schrift formatiert.

Da ich kein ausgebildeter, professioneller, sondern nur ein (hoffentlich im positiven Sinne des Wortes) ›dilettantischer‹ Hobbyübersetzer und ›Edel-Phantastik-Fachdepp‹ bin, bitte ich etwaige Fehler und Ungereimtheiten, die Ihnen auffallen mögen nicht allzu Übel zu nehmen.

Über entsprechende Korrekturmeldungen würde ich mich freuen und bin im Voraus dankbar dafür.

— Alex Müller / molosovsky, Dezember 2006. Korrekturmeldungen bitte per eMail an *molosovsky*@*yahoo*.de richten (Sternchen weglassen)

Beginn der Arbeit an dieser Übersetzung: 17. November 2006.

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1 King Rat (1998): König Ratte, übers. von Eva Bauche-Eppers, Bastei 2003. ••• Zurück
2 Max Ernst (1891-1976): Deutscher Maler und Bildhauer, Surrealist und Dadaist. ••• Zurück
3 Robert Irwin (1928): Amerikanischer Insterlationskünstler. ••• Zurück
4 Perdido Street Station (2000): dt. in zwei Bänden als Die Falter und Der Weber, übers. von Eva Bauche-Eppers, Bastei 2002; sowie als einbändige Sonderausgabe bei Amazon, 2004. ••• Zurück
5 Arthur C. Clarke Award: Seit 1987 verliehener, nach dem Autor von 2001 – Odysse im Weltraum benannter, Preis für den den besten in England erschienenen Science Fiction-Roman des jeweiligen Vorjahres. ••• Zurück
6 Michael Swanwick (1950): Amerikanischer SF-Autor. Miéville hat desöfteren Swanwicks ungewöhnlichen Fantasyroman Die Tochter des stählernen Drachens gelobt (The Iron Dragon’s Daughter, 1993; dt. Heyne 1996). ••• Zurück
7 The Scar (2002): dt. in zwei Bänden als Die Narbe und Leviathan, übers. von Eva Bauche-Eppers, Bastei 2004. ••• Zurück
8 Between Equal Right: A Marxist Theory Of International Law (2005). Liegt (noch) nicht auf Deutsch vor. ••• Zurück
9 Iron Council, 2004: Der Eiserne Rat, übers. von Eva Bauche-Eppers, Bastei 2005. Desweiteren dER. ••• Zurück
10 Michael Dirda (1948): Amerikanischer Literaturkritiker. ••• Zurück
11 Locus – The Magazine Of The Science Fiction & Fantasy Field: Seit 1968 monatlich erscheinendes Fachblatt der SF & Fantasy-Literatur mit Sitz in Kalifornien. ••• Zurück
12 SFSite: Angesehene Kanadische Website die sich seit 1996 der Genre-Phanatstik widmet. ••• Zurück

»Jonathan Strange & Mr. Norrell«: Das Blog-Seminar von Crooked Timber über und mit Susanna Clarke. Deutsche Fassung

Eintrag No. 309 — Was macht Molo der Phantast in seiner Freizeit? Dicke Bücher zweigleisig auf Englisch und Deutsch lesen, und vor lauter Begeisterung für die Materie dazu passende Sachtexte übersetzten. Nun konnte ich endlich wieder einmal eine bei meinem Vormichhinbosseln für die Sache der Phantastik gezüchtete größere Frucht ernten, und gönne mir also, mit ein wenig Stolz und der für einen (und erst recht Möchtergern)-›Privatgelehrten‹ angebrachten Bescheidenheit, eine anregende Sammlung mit fünf Essays über den exzellenten Fantasy-Roman »Jonathan Strange und Mr. Norrell« (2004) von Susanna Clarke, sowie die Antwort der Autorin darauf, dem deutschen Literaturpublikum anbieten zu können.

Klick auf das Bild, um PDF-Version herunterzuladen.Vielend Dank an den Malzan'schen Freund und Retter, den TeichDragon aus dem BibPhant-Forum. (Ich bin im Augenblick ganz feierlich vor lauter Phantastik-Internet-Kammeraderie).

Ich hoffe, die gegebenen PDF-Links zur deutschen Fassung funktionieren. Falls es Probleme gibt, schick ich das ca. 1MB größe Dokument auch gern per eMail. Zwecks Kontakt, siehe unten. — Die einzelnen Seminarbeiträge habe ich auch als Kommentare zu diesem Molochronik-Eintrag hier eingepflegt, für die ganz Harten, die so viel Text am Bildschirm lesen mögen. Es sind 53 PDF-Seiten mit 103 Fußnoten. Falls also Ihr Browser mit diesem Molochronikeintrag inkl. seiner Kommentare etwas lahmen sollte, wundern sie sich nicht.

Auf das hervorragende englische Gruppenblog Crooked Timber habe ich in der Molochronik schon einige Male verwiesen. Ein Jahr ist's her, daß die akademischen Freunde der Phantastik dort ein Seminar zu dem voluminösen Roman von Susanna Clarka veranstaltet haben.

Hier Henry Farrells einleitende Worte vom November 2005.

Die Namen-Links der einzelnen Autoren und Autorinnen führen zu den englischen Originalfassungen bei Crooked Timber, die Essay-Titel-Links zu den hier in den Kommentaren gelieferten deutschen Fassungen.

Einleitung Susanna Clarkes Roman Jonathan Strange und Mr. Norrell ist mit außerordentlich großem Erfolg angenommen worden, mit gutem Grund. Der Roman wurde mit dem Hugo und dem World Fantasy Award[1] ausgezeichnet, hat aber auch viele Leser für sich gewinnen können, die sich gewöhnlicherweise nicht für Fantasy interessieren. Einserseits meint Neil Gaiman[2] über das Buch, es sei »ohne Zweifel der gelungenste Roman englischer Phantastik, der in den letzten siebzig Jahren geschrieben wurde« (zu dem betonenden Adjektiv ›englisch‹ folgt später noch mehr), auf der anderen Seite beschreibt Charles Palliser, Autor des wunderbaren Historienromans Quincunx. Das Geheimnis der fünf Rosen, es als »völlig fesselnd« und als »eine erstaunliche Leistung.« Wir hier von Crooked Timber sind seit dem das Buch erschienen ist Fans — nicht zuletzt wegen seiner lustigen, umfangreichen und abschweifenden Fußnoten, die den Eindruck erwecken mit nahezu vollkommenen Kalkül dafür gemacht worden zu sein, um einem gewissen akademischen Typus zu gefallen.
{…}
John Quiggin behauptet in Die Magisch-Industrielle Revolution, daß der Roman zu den Ursprüngen der Science Fiction zurückkehrt, weil er sich mit den Auswirkungen der Industriellen Revolution auseinandersetzt.
Maria Farrell legt in Die Schürfgründe der Historie dar, wie der Roman geprägt ist vom Aufeinanderprallen zweier Welten: auf der einen Seite ein Regency England wie man es sich entsprechend der Romane von Jane Austen und anderen ›romance novels‹ vorstellt, und dem tatsächlichen Regency Engand auf der anderen Seite.
Belle Waring fragt in sich Wer erzählt Jonathan Strage & Mr. Norrell, und sind die Zauberinnen geblieben?, wer die Erzählstimme des Buches ist, und wo die Zauberinnen geblieben sind (und sie mutmaßt, daß beide Frage zur selben Antwort führen).
John Holbo richtet in Zwei Geddanken (Über christliche Zauberer und Zwei Städte) seine Aufmerksamkeit auf Zauberei, Ironie und die Darstellung von Dienern durch Clarke.
Henry Farrell ist in Rückkehr des Königs der Ansicht, daß eine Kritik an der englischen Gesellschaft die versteckte Geschichte von Jonathan Strange und Mr. Norrell ist.
Auf all das antwortet zuletzt Susanna Clarke mit Frauen und Männer; Diener und Herren; England und die Engländer.
Wie schon frühere CT-Seminare wird dieses hier unter den Creative Commons Lizenz-Bedingungen veröffentlicht (Namensnennung-NichtKommerziell 2.5). Das Copyright der zitierten Passagen aus Jonathan Stange und Mr Norrell oder anderer Texte wird gemäß der Gepflogenheiten redlicher Verwendung nicht beeinträchtigt.
Die Kommentarfunktion zu den einzelnen englischen Seminarbeirägen sind im Crooked Timber-Blog freigeschaltet. Wir möchten dazu ermuntern, allgemeine Kommentare bei Susannas Beitrag zu platzieren, denn dort wird die Hauptdiskussion geführt; wer spezielle Anmerkungen zu einem der Seminarbeitäge anbringen möchte, kann das in den Kommentaren zum jeweiligen Beitrag machen.
Dieses Seminar ist auf englisch als PDF verfügbar, für alle, die Texte lieber ausdrucken und auf Papier lesen.

Henry Farrell, November 2005.

Zur Übersetzung des Seminars

Anders als in der englischen Originalfassung, habe ich die Quellenangaben der Zitate in dieser Übersetzung als Fußnoten formatiert. Zudem habe mir erlaubt, die Fußnoten um hilfreiche Fußnoten für die deutschen Leser zu ergänzen. Da ich kein ausgebildeter, professioneller, sondern nur ein (hoffentlich im positiven Sinne des Wortes) ›dilettantischer‹ Hobbyübersetzer und ›Edel-Phantastik-Fachdepp‹ bin, bitte ich etwaige Fehler und Ungereimtheiten, die Ihnen auffallen mögen nicht allzu Übel zu nehmen.

Über entsprechende Korrekturmeldungen würde ich mich freuen und bin im Voraus dankbar dafür. Auch den Damen und Herren der JvG-Universitätsbibliothek, sowie der Deutschen Bibliothek zu Frankfurt/M bin ich für ihr freundliches Entgegenkommen zu Dank verpflichtet.

— Alex Müller / molosovsky, November 2006.

Korrekturmeldungen bitte per eMail an molosovsky@yahoo.de richten (Sternchen weglassen)

Beginn der Arbeit an dieser Übersetzung: 16. Oktober '06.

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1 Hugo Award: Ein seit 1953 jährlich durch die Teilnehmer der SF-World-Con verliehener SF-Preis; benannt nach dem SF-Pionier Hugo Greensback. –/– World Fantasy Award: Wird jährlich auf der World Fantasy Convention seit 1975 verliehen. ••• Zurück
2 Neil Gaiman (1960): Englischer Phantastik-, Jugendbuch- und Drehbuchautor. Bekannt geworden in den Neunzigerjahren mit dem Comic-Epos The Sandman, sowie einer Biographie über den Per Anhalter durch die Galaxis-Schöpfer Douglas Adams; Autor der Romane Niemalsland, American Gods und Anansi Boys. ••• Zurück

Doppler-Effekt und Phantastik

Eintrag No. 150 – 1842 hat der österreichische Physiker Christian Johann Doppler den Tonhöhenwechsel bewegter Schallquellen erklärt.

Dopplereffekt, akkustisch34

Der französische Physiker Armand Fizeau hat dann 1848 darauf hingewiesen, daß so eine Verschiebung auch bei den Spraktrallinien von Lichtwellen vorkommt. Stammen die Lichtwellen von einer sich vom Beobachter entfernenden Lichtquelle, werden sie gedehnt (Rotverschiedung), und entsprechend bei sich dem Beobachter nähernden Lichtquellen gestaucht (Violettverschiebung).

Solche harten wissenschaftlichen Erklärungen und Modelle von physikalischen Phänomenen übertrage ich gerne auf Gebiete der Kunst und Kultur. Zum Beispiel die fiktionale Literatur {also alle ausgedachte Geschichten, Romane, Erzählungen, Epen ect.} ist da erstmal der Schall, oder das Licht, und wirkt komprimiert oder ausgewalzt, je nachdem ob sie sich auf den Leser zubewegt oder sich von ihm entfernt. ––– Dabei gibt es immer noch genug Bestandteile von fiktionalen Texten, die man im Gedankenspiel durch die Doppler-Effekt-Brille betrachten kann …

  • sprachlich: harter oder fließender Rhythmus … harmonische oder disharmonische Melodik … einfacher oder erweiterter Wortschatz;
  • räumlich: Innenwelt oder Aussenwelt … verharrend oder reisend;
  • zeitlich: chronologisch oder durcheinander … Zeitlupe (ein Augenblick umfaßt zehn Seiten) oder Zeitraffer (zehn Jahre in zwei Absätzen);
  • psychohygienisch: herausfordernd oder entspannend … tröstend oder ängstigend … erziehend oder verführend; usw usf.

Mein liebstes Gedankenspiel ist derzeit folgender Übertragungsversuch des Doppler-Effektes:

Realistische Literatur ist vielleicht vergleichbar mit den ruhenden Licht- oder Schallquellen, deren jeweilige Wellen unverzerrt den Betrachter/Höhrer erreichen. Jede ausgedachte Geschichte ist ja in einer ausgedachten Welt angesiedelt und als realistisch bezeichnet man ausgedachte (fiktionale) Welten, die sich möglichst wenig von der faktischen Welt der Tatsachen unterscheiden.

Phantastische Literatur findet aber in ausgedachten Welten statt, die sich von der faktischen Wirklichkeit zum Teil erheblich unterscheiden. Wie aber soll hier ein Doppler-Effekt aussehen?

Eine Möglichkeiten skizziert Jürgen Mittelstrass in seinem Artikel »Sonderwelten und sonderbare Welten – Eine Kritik der virtuellen Vernunft« (NZZ vom 16. Oktober 2004) – Hervorgebungen von Molosovsky:

Alles Esoterische ist schliesslich Ausdruck von Weltflucht und des Unvermögens, sich mit dem, was ist, kritisch und produktiv auseinanderzusetzen. Die Flucht nach vorne, in Form von Science-Fiction, könnte dazu ebenso gehören wie die Flucht zurück, z. B. in die wiederentdeckten Mysterien des Mittelalters. Allerdings lässt sich hier auch ganz anders, nämlich gutwillig argumentieren: »Star Trek«, das ist die moderne Welt, wenn sie neugierig träumt, und Harry Potter, das ist der ewige Kampf des Guten gegen das Böse. Ausserdem bleibt die Welt, wie sie ist, immer die Folie, auf der sich andere Welten spiegeln: U.S.S. Enterprise hat ständig Probleme mit dem Antrieb, und in der Welt Harry Potters ist Fussball in der Muggelwelt ebenso beliebt wie Quidditch, der Sport der Zauberwelt, den man auf fliegenden Besen betreibt. Hier geht es nicht, wie in allem Esoterischen und Sektenhaften, um die Flucht aus der eigenen Identität, sondern um die spielerische, fabulierende Erweiterung einer Welt, in der sich neue Identitäten bilden. Das aber ist allemal die Leistung einer sehr weltlichen, diesseitigen Phantasie, einer Virtualität, die uns nicht vernichtet, sondern unsere Subjektivität atmet.

Ich gebe zu, daß ist alles ziemlich musenvolles Wischiwaschidenken, sowohl von Herrn Mittelstrass, als auch von mir. Mittelstrass versucht auf die Bedeutung von Vernunft auch für das Virtuelle hinzuweisen und schimpft ansonsten über Computerspinner und Modephilosophen, die von der Magie des Virtuellen faseln und dies offensichtlich nicht evangelisch-christlich genug tun für Mittelstrasses Geschmack.

Immerhin: Überraschend plausibel kann man die (entgegenkommende) auf den Leser zu- oder (ausweichende) vom Leser weg-Bewegung von Phantastik ganz platt beschreiben als triviale oder hermeneutische Verschiebung. Wobei ich trivial pfui und hermeneutisch huii nicht wertend verstanden haben möchte, sondern im Sinne von allgemein (allen Menschen im öffentlichen Raum) zugänglich und verschlüsselt, nur für Code-Initiierte verständlich. Hermeneutik ist in meiner Hau-Ruck-Ästheteik lediglich der antiquierte Ausdruck für Insider joke.

Kapitelstruktur der Bas Lag-Romane von China Miéville

Eintrag No. 136 – Hier Spektrogramme der Kapitelstruktur der drei Bas Lag-Romane von China Miéville. Diese Bücher sind Avantgarde, nicht nur als Vertreter der Phantastik (Miéville bezeichnet sich selbst gerne als ›Wierd Fiction‹-Autor), sie behaupten sich auch auf dem Turnier der großen Literatur als souverän, gewichtig und vielfältig. Anempfohlen allen, die bisweilen gerne mal ein außergewöhnliches Buch zur Hand nehmen, egal aus welchem Leserbiotop man kommt. Diese drei Bas Lag-Romane bieten für den Genre-Leser eben soviel, wie dem Verköstiger postmoderner Anspruchsunterhaltung. Die ›verdrehte‹ und groteske Phantastik von China Miéville ist Metaliteratur ex Cornucopia vom Feinsten.

Natürlich könnten die drei Kapitel-Spektrograme unterschiedlich lang sein, und damit die Seitenanzahl der Bücher wiederspiegeln. Tun sie aber nicht, und man möge somit den entsprechenden Längenvergleich also selbst im Kopf erledigen.

Was sich sehen läßt, ist der ungewöhnliche Aufbau des dritten Romans »Iron Council«.

Legende Legende für Diagramme der Kapitelstruktur / Legend of Chapterogram

»Perdido Street Station« (2000), 867 Seiten als Panmacmillan-Taschebuch; Deutsch aufgeteilt in zwei Bücher: »Die Falter« und »Der Weber« Kapitelstruktur von »Die Falter« & »Der Weber« / Chapterogram of »Perdido Street Station«

»Perdido Street Station« (2000), 867 pages, Panmacmillan.

»The Scar« (2002), 795 Seiten als Panmacmillan-Taschebuch; Deutsch aufgeteilt in zwei Bücher: »Die Narbe« und »Leviathan« Kapitelstruktur »Die Narbe« & »Leviathan« / Chapterogram of »The Scar«

»The Scar« (2002), 795 pages, Panmacmillan.

»Iron Council« (2004), 471 Seiten als Panmacmillan-Buch; Deutsch angekündigt, noch nicht erschienen. Chapterogram of »Iron Council«

»Iron Council« (2004), 471 pages, Panmacmillan.
---------- Chapterograms of the Bas Lag-Novells by China Miéville (Grafimente, Dossier for Getting It, Literature) – One of my stranger hobbies is making diagrams while reading books. These images show the chapter-structure of the novells by China Miéville set on the world Bas Lag. These books are not only avantgarde among the fantastic terrain … they also joust very well on the tournament of all great literature. Recommended to everyone who likes to read one of those extraodinary books once a while, regardless from which specific bibliothop the reader comes. The wierd and grotesque imagination of China Miéville delivers metalitereture ex cornucopia of the finest.

Note that the diagrams are not analog to the length of the books. And »Iron Council« really is the odd one.


Weitere Beiträge zu China Miéville: • Tolkien als Bilbo; • Portrait; • Hurrah, der zweite Roman aus der Welt Bas-Lag ist da.

Tolkien schrieb: »Selbstverständlich ist ›Der Herr der Ringe‹ ein durch und durch religiöses und katholisches Werk…«

ERGÄNZ — 24. Juli 2014: Einige Links führten mittlerweile ins Nichts und ich habe sie geändert oder rausgeschmissen.

Unbedingte Leseempfehlung spreche ich für die in der Zeit seit Erstbloggens dieses Eintrags erschienenen Aufsätze von Peter ›raskolnik‹ Schmidt aus, der in seinem grandiosem Blog ›Skalpell & Katzenklaue‹ einige sehr klar argumentierte, klug belegte Texte über Tolkien und sein Werk veröffentlicht hat. Näheres ganz am Ende bei den ›Woanders‹-Links.

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Eintrag No. 127 – Wie sehr wurde »Der Herr der Ringe« {desweiteren LOTR genannt} und die gesamte Mittelerde-Schöpfung beeinflusst durch den Umstand, daß Tolkien ein tiefgläubiger katholischer Christ war? Für die Anregung zu dieser Frage bin ich den Teilnehmern eines Thread bei SF-Fan zu Dank verpflichtet. Ein Beiträger meinte, daß Tolkiens Gesamtwerk nichts mit Religion zu tun habe, und J.R.R. lediglich einen Mythos bzw. eine Sagenwelt für England erschaffen wollte, weil es dort so etwas wie zum Beispiel die deutschen Heldensagen, die nordischen Sagas usw. nicht gäbe.

Also was nun?

Der Mehrheit des Lese- (& Kino-, DVD-) Publikums ist es sicherlich ziemlich schnurz, ob Tolkien mit LOTR nun eine zutiefst heidnisch/sagenhafte oder eine innig christlich-katholisches Zweitschöpfung gestalten wollte.

Mit dem folgenden, lockeren Durcheinander an Belegen für Einflüsse des katholischen Glaubens auf die Gestaltung von Mittelerde, will ich niemandem seinen/ihren heidnischen, atheistischen, oder einfach-so-Spaß an LOTR vergällen, sondern lediglich darauf aufmerksam machen, welche tieferen Schichten sich offenlegen lassen, wenn man sich auf so was wie eine ›Intention Auctoris‹ (= Absicht des Autoren) einzulassen gewillt ist.

Hobby-Exerzitien eines Hobbit-Erfinders

Mir ist schon klar, daß man LOTR und Mitterlerde von zumindest diesen drei Seiten abklopfen muß, wenn man gerecht sein will:

  • Als persönlichen Ausdruck einer ausgeprägten katholischen Frömmigkeit;
  • Als Neu-Aneignung alt-europäischer (vor allem nordischer) Mythen;
  • Als linguistische, geographische und genealogische Laubsägefrickelei (siehe Schlüsseltext »Leaf by Niggle«).

Es ist kein Geheimnis, daß Tolkien ein überaus hingebungsvoller Katholik war, der sich die heilige Kommunion versagte, wenn er nicht zuvor gebeichtet hatte; — der als Apostel seinen Freund und Kollegen C.S. Lewis zu missionieren trachtete (und sehr enttäuscht war, als dieser sich dann für den anglikanischen Glauben entschied); — dessen Frau vom Protestantismus zum Katholizismus konvertieren musste, um den strenggläubigen Tolkien heiraten zu können (ein Thema, daß sich womöglich z.B. in der Beziehung Arwen und Aragorn, und anderen Beziehungen von Sterblich-Unsterblichen wiederspiegelt).

In der Tolkien-Biographie (Klett-Cotta/Ullstein; 1983) von Humphrey Carpenter begann ich meine Spurensuche:

Seite 111: »Mittelerde ist unsere Welt«, schrieb er {Tolkien}, mit dem Zusatz: »Ich habe (natürlich) die Handlung in eine rein imaginäre (wenn auch nicht ganz unmögliche) Periode des Altertums gerückt, in der die Kontinente eine andere Form hatten.«

Kurz darauf resümiert Carpenter {Hervorhebung von mir}:

Seite 111: Es {Tolkiens Mittelerde-Werk} widerspricht nicht dem Christentum, sondern ergänzt es. In den Legenden wird Gott nicht angebetet, und doch ist er da, und im Silmarillion wird er ausdrücklicher genannt als in dem Werk, das daraus erwuchs, dem Herrn der Ringe. Tolkiens Universum wird von Gott »dem Einen«, regiert. Unter Ihm in der Hierarchie stehen die »Valar«, die Hüter der Welt, die keine Götter, sondern engelhafte Mächte sind, ihrerseits heilig und Gott untertan; {…} Tolkien gab seiner Mythologie diese Form, weil er wünschte, daß sie fern und fremd, zugleich aber keine Lüge sei. Er wollte, daß die mythologischen und legendären Erzählungen seine eigene moralische Sicht der Welt aussprechen sollten, und als Christ konnte er sie dann nicht in einem Kosmos ohne Gott stellen, den er verehrte. {…}

Seite 112: Als er das Silmarillion schrieb, glaubte Tolkien in gewissem Sinne, die Wahrheit zu schreiben. Er nahm nicht an, daß genau die Völker, die er beschrieb {…} auf Erden gelebt und getan hätten, was er berichtete. Doch fühlte oder hoffte er, daß seine Geschichten in gewisser Hinsicht eine starke Wahrheit verkörpern.

Und gemeint ist religiöse, genauer: Tolkiens individuelle christlich-katholische Wahrheit, nicht die Art von belegbarer Fakten-Evidenz, die unseren modernen Wahrheitsbegriff prägt.

Weiter bei Carpenter:

Seite 113: Tolkien glaubte fest daran, daß es einmal ein Eden auf Erden gegeben habe und daß die Ursünde des Menschen und seine Verstoßung aus dem Paradies an den Übeln der Welt schuld sei.

••• Nebenbei: Eden weiß ich jetzt nicht genau, aber Paradies kommt aus dem Persischen und bedeutet ungefähr »(künstlicher) Garten mit Zaun drum herrum«. •••

Die entscheidenden Wendepunkte der Mittelerde-Historie werden bestimmt von selbstsüchtiger Eigenwilligkeit oder direktem Widerspruch gegen den Schöpfergott-Willen, beginnend mit Melkors aufsässigem Gesang als (luziferisches) Gegenthema zur Musik der Ainur; — über den Mord von Smeagol an Deagol, der sich wie die verschiedenen Geschwisterkämpfe der Elben als Vor-Echo von Kain und Abel lesen läßt; — bis zu den verschiedenen Gelegenheiten, bei denen menschliche Könige oder kleine Hobbits sich weigern, den Einen Ring zu zerstören.

Bei all diesen Gelegenheiten finden sich starke Anklänge auf die katholischen Melodien von der Vorhersehung Gottes, der gnadenreichen Erlösungsgeschichte, jedoch eingedenk der Notwendigkeit des freien Willens, durch den zwar das Böse in die Welt kam, welches sich aber als notwenige Stimme im (für die Geschöpfe undurchschaubaren) großen Heilsplan Gottes entpuppt.

»Wie das?«, mag der unbedarfte Mittelerde-Tourist berechtigt fragen.

»Zum Beispiel beim LOTR-Showdown«, ist ein Gedanke den ich anbieten mag.

ACHTUNG SPOILER! Frodo und Gollum sind bei ihrem finalem Ringen um den Ring beide dem Bösen verfallen, doch aus dem Kampf von zweien in diesem Moment bösen Figuren, fügt sich eine völlig unvorhersehbare (stolpernde) Zufallsbefreiung von einem großem Übel. Gollums Purzler in die Lava lässt sich mit den selben Worten begründen, mit denen Gandalf erklärt, warum Bilbo damals unter den Nebelbergen im Dunkeln kriechend den Einen Ring fand, welcher seinerseits Sauron-willig den deformierten Fischmampfer verlassen hatte:

Seite 74: »Dahinter war noch etwas anderes am Werk, unabhängig von allen Plänen des Ringschmieds. Ich kann es nur so ausdrücken, daß es Bilbo beschieden war, den Ring zu finden – und zwar nicht von dem Schmied.« ••• Einbändige Klett-Cotta Ausgabe; Übers.: Wolfgang Krege.

Seite 69: »Behind that there was something else at work, beyond any design of the Ring-maker. I can put it no plainer than by saying that Bilbo was meant to find the Ring, and not by its maker.« ••• Unwin/Unicorn one volume edition

SPOILER ENDE!

Desweiteren lassen sich die Frauenfiguren bei Tolkien — allen voran Lichtlady und Wasserkraft-Ringhüterin Galadriel — als frühes Erklingen eines Marienmotivs deuten. Maria selbst wird, vor allem im Mittelmeerraum und bei zur See fahrenden Völkern, in einen starken Bezug zum Abendstern gesetzt. Das ließt sich dann in einem altem englischen Lied so:

Hail, Queen of Heaven, the ocean star, Guide of the wand’rer here below: Thrown on life’s surge, we claim thy care — Save us from peril and from woe. Mother of Christ, star of the sea, Pray for the wanderer, pray for me.

Bei Tolkien kann daraus folgendes werden:

Snow-white! Snow-white! O Lady clear! O Queen beyond the Western seas! O light to us that wander here Amid the world of woven trees!… O Elbereth! Gilthoniel! We still remember, we who dwell In this far land beneath the trees, Thy starlight on the Western seas.

Eucharistische Obertöne lässt das wundersame und Lebensmut spendende Lembas-Brot vermuten. Gut, es ist nicht eins zu eins vergleichbar mit dem Fleisch und Blut des Erlösers, welches sich zu Brot und Wein verwandelte. Wie sehen aber solche Übertragbarkeiten aus?

Da sind die Namen für die heilige Speise. In Quenya ›coimas‹ (= life-bread, Lebensbrot) und in Sindarin ›Lemmas‹ oder ›lenn-mbass‹ (= journey-bread, Pilgerzehrung).

Dann auch: Lembas wird behütet von Yavanna, die Königin, die höchste und herrlichste aller Elbenfrauen oder überhaupt Personen, ob groß oder klein. Entsprechend übersetzten sich ihre Beinamen ›massànie‹ oder ›besann‹ als die ›Herrin‹ oder ›Brotgeberin‹. Frucht Deines Leibes … ick hör dir trapsen.

Diese Brotzeit-Informationen sind der »History of Middle-Erath XII: The Peoples of Middle-Earth« entnommen, Seite 403ff. Auch klingt in der Beschreibung des Anbaus des Lembas-Korns das Samen-Motiv aus der Bergpredigt des Neuen Testaments an. ••• Schade, daß die Bände III bis XIII nicht mehr ins Deutsche übersetzt werden. Zumindest die wohl auch für eine größere Mittelerdeleserschaft interessantesten Texte sollten in ein oder zwei Auswahlbänden übersetzt zugänglich gemacht werden, wie zum Beipiel ein früh aufgegebener Ansatz eines Verschwörungsthrillers im jungen Vierten Zeitalter (kurz nach Aragorns Tod, ca. 115 Jahre nach den Ereignissen im LOTR.) •••

Deutlich Anspielung auf die Bibel (Genesis) liefert auch die Wortkunde zu ›Sauron‹. Das mag im fiktiven Quenya ›der Grausame‹ heißen, doch Tolkien plünderte alle möglichen realen Sprachen und so überrascht es wenig, daß der Name dem griechischen ›sauros‹ (= Echse, Schlange) abgeguckt wurde. Dino›saurier‹ leitet sich auch aus dieser Wurzel ab. ••• Munition für die fragwürdigeren, zumindest heikel-unangenehmen Theorien zu ›Tolkien als Nordherrenmensch-Idealisierer und Russenverachter‹, lässt sich aus mannigfachen Entlehnungen osteuropäischen Wortguts für Begriffe der bösen Mordor- und Orksprache schmieden. •••

Frodo, Gandalf und Aragorn erleben alle drei ihren Tod und darauffolgende Auferstehung. Gandalf in Moria (als ganzes ein Friedhof und Totenreich); — Aragorn auf dem Pfad der Toten (Fegefeuer-Thema; die Sünde des Verrats der Dagorlandschlacht-Kneifer erweißt sich als heilbar); — und Frodo am getreusten nach den Evangelien. Am dritten Tage nach Kankras Lauer findet Sam ihn wieder. Zwischendurch lag Frodo wegen der Spinne Stich in totengleicher Starre.

Der 25. März ist nach christlicher Tradition nicht nur der Tag der Kreuzigung von Jesus, sondern auch der Tag der Verkündigung (also Maria-Befruchtung). An genau diesem Tag des Auenlandkalenders wird der Ring zerstört. Wenn man bedenkt, daß Tolkien seine Welt ja frei erfunden hat (und die Monate und Zeitläufte-Unterteilung auch ganz anders hätte gestalten können), kann man dies wirklich nicht als Leichtfertigkeits-Zufall deuten. Das ist glaubensschwere Absicht.

Spuren verwischen

Tolkiens Glaube ging einher mit einer großen Bescheidenheit. Deshalb lag es ihm fern, deutliche, ins Auge springende Hinweise auf seinen katholischen Glauben zu liefern. Deswegen verachtete er auch ›Allegorie‹ so sehr, denn diese ist eine Zeichen- und Bedeutungsgrammatik, die kein Deuteln zulässt. Eine Frau mit Augenbinde, Schwert und Waagschalen ist immer »Die Gerechtigkeit« und abweichende Sinnbelegungen nur bei Regelverstoß möglich. Theologisch gesehen vollzieht Tolkien also einen Umgang mit Symbolen und Bedeutungen, der konträr zu dem von Bilderstürmen der Reformation oder den byzantinischen Iconoklasten ist. Statt Bilddarstellungen von Gott und Jesus usw. abzulehnen, hat er, beflügelt durch seine Begeisterung für (heidinisch-nordeuropäische) Mytholgien, den Bilderschatz seines Glaubens zu erweitern verstanden.

Als Prosa- und Romanautor finde ich ihn größtenteils lächerlich (Ausnahme: »Silmarillion« Kinderbücher & Kurzgeschichten), als Lyriker schrecklich altbacken lieblich, aber ich verneige mich vor ihm als großen Brückenbauer zwischen katholisch-christlicher und heidnisch-vorchristlicher Religion. Er mag bekehrend auf seine Umwelt eingewirkt und dabei zuweilen ein schwieriger Mensch gewesen sein, aber im Mythenverschmelzen zeigt er sich bewundernswert tolerant … auch wenn er sonst gegenüber Dingen wie der Moderne und der Demokratie ziemlich engstirnig ablehnend sein konnte.

Zu der zweifelnden Gegenfrage, warum einem denn die katholischen Bezüge bei einer LOTR-Lektüre nicht mit den Füßen voran ins Gesicht springen, bin ich im Netz bei »Lord of the Imagination« (in etwa: »Herr/Meister der Vorstellungskraft/Phantasie«) fündig geworden. Dort zitiert ›The Irish Family‹ nach Humphrey Carpenter: »Letters of J.R.R. Tolkien«:

Tolkien selbst schreibt in Brief No. 142 an Robert Murray, S.J.: »The Lord of the Rings is of course a fundamentally religious and Catholic work, unconsciously so at first, but consciously in the revision. That is why I have not put in, or have cut out, practically all references to anything like "religion", to cults or practices, in the Imaginary world. For the religious element is absorbed into the story and the symbolism.«

»Selbstverständlich ist »Der Herr der Ringe« ein durch und durch {grundsätzlich} religiöses und katholisches Werk, unbewußt zu Beginn, doch bewußt bei der Überarbeitung. Alle Verweise {Bezüge} zu Dingen wie »Religion«, auf Kulte und {religiöse} Praktiken in der vorgestellten {ausgedachten} Welt habe ich deshalb weggelassen oder entfernt. Denn das religiöse Element {man beachte den Singular} ist in die Geschichte {Handlung} und die Symbolbedeutungen eingegangen.«

Insofern ist LOTR in Bezug auf katholischen Glauben grob vergleichbar mit L. Ron Hubbards »Battlefield Earth« und Scientology. Und mich jetzt bitte nicht den haun, ich weiß, daß dieser Vergleich hinkt und unfair ist. Aber Molosovsky findet’s lustig.

Der musizierende Gott

Religion braucht erst in zweiter Linie Gläubige. Zuerst sind Propheten, Priester und Apostel, die eine Religion ersinnen, leiten und verbreiten nötig. Tolkien ist kein Neu-Schöpfer einer Religion, sondern im innigsten Sinne des Wortes ein Mystiker und um-zwei-Ecken-Verkünder einer, sprich: seiner katholischen Frömmigkeit. Man muß sich halt ein wenig mit frühchristlichen Theologien auskennen, um das so erkennen zu können.

Tolkiens Selbstaussagen mögen wohl denen unangenehm dünken, die sich LOTR zu einem Klangraum z.B. für ihre neu-heidnischen Sehnsuchtsseufzer zurechtdeuten wollen. Dabei darf man nicht übersehen, daß Tolkien sehr schockiert und angewidert von seinen Fans in den Sechzigerjahren als »langhaarige Irre« gesprochen hat. Du liebe Güte, ich wollte hiermit niemanden als irre oder langhaarig zeihen, nur darauf hinweisen, daß man vielleicht hie und da den Wirrnissen der Flower-Power-Leserschaft aufsitzt. Ich sag nur: Pfeiffenkraut entspricht nicht Marihuana.

Interessant ist, daß Tolkien — so eigen seine Schreibe ist — immer wieder Überraschendes bietet. So nimmt er heutige christliche Strömungen, wie die von formulierte Matthew Fox vorweg, die den Gedanken der Bewahrung der Vielfalt Schöpfung wieder in den Mittelpunkt des christlichen Glaubens rücken. Innovativ erscheint mir Tolkiens Motiv, die Schöpfung als Klangzauber zu verstehen, und überreich sind demgemäß auch in LOTR Stellen zu finden, an denen akustische Signale tiefere Wahrheiten und höhere Bedeutungen markieren.

Von Arwens Gesang der Aragron bezaubert; — über Boromiers Aufbruchs-Tuten in Bruchtal, als Ausdruck der aufrichtigen Absichten des Ringentsorgungs-Squats; — bis zum — durch das Plappern von Merry und Pippin — milde gestimmten Baumbart, der, hätte er die beiden Hobbits zuerst gesehen statt gehört, sie für kleine Orks gehalten und zertrampelt hätte … um nur drei subtilere Beispiele anzuführen, von Sarumans Stimmenzauber ganz zu schweigen. Tolkien bezieht damit eine nicht zu unterschätzende Gegenposition zur Substanz-, Optik-, Imago-, und Objekt-Fixierung heutiger Psychologie-Mythen. Tolkien nimmt damit neuere Seelentheorien vorweg, die sich Gedanken machen, wo man sich sphärologisch eigentlich befindet, wenn man Musik hört; und daß, bevor man von visuellen Spiegel-Erfahrungen und visuellen Aneignung der Welt sprechen kann, erstmal akustische Sirenen-Erfahrung und -Verführungen stattfinden. ••• Siehe Peter Sloterdijk »Weltfremdheit« und »Sphären I - Blasen (Mikrosphärologie)«. •••

Freilich hat das Christentum schon lange vor Tolkien wie ein Schwamm Vorchristliches aufgesogen. Weniger aber aus theologischer Redlichkeit, denn aus macht-imperialer Notwendigkeit. ••• So leitet sich das Weihnachts-Datum von der Einweihung des Sol-invictus-Tempels unter Kaiser Aurelian (270 - 275 n.Ch.) am 25. Dez. 274 ab. ••• Tolkien war wählerisch mit seinen Anregungsquellen, nicht nur Heidnischem gegenüber. Hat er doch die nicht gerade unchristliche Arthur-Sage deshalb kaum aufgegriffen, weil sie sich für seine Zwecke als Fundus für einen heimischen Neo-Mythos nicht eignete, da ihm sein geliebtes England zur Arthus-Zeit zu sehr von romanisch-französischen Einflüssen versaut war. Und der Gute war ausgesprochen frankophob.

Eine neue Religion wollte Tolkien nicht schaffen, sondern der seinen neuen Ausdruck verleihen. LOTR kann man getrost zwischen die Bibel und den Katholischen Katechismus ins Regal stellen, und gemäß der Autoren-Intention fühlt sich das große rote Buch der Westmark dort sauwohl … wohler als zwischen (ich sag mal) den Fantasy-Romanen von Michael Moorcock und Dave & Leigh Eddings.

Warum beschäftige ich mich als ausgesprochener Tolkien-Skeptiker trotzdem seit über 15 Jahren mit dem Mittelerde-Schmalz? Weil Tolkien trotz all meiner Abneigung und Bedenken der große Papa der sogenannten »Fantasy« ist, eine Genrebezeichnung, mit der ich nicht recht glücklich werde, die mir aber trotzdem als Orientierung im Belletristikangebot dient.

Ich kann nicht anders, als im Sinne einer Relativierung der Leser-Umdeutungen der Werke Tolkiens immer wieder den Versuch zu starten, den (am Autor vorbeigehenden) Interpretationen durch heutige Leser entgegenwirken zu wollen. Wenn ich mir solche tröstlichen Verstandeinlullungen wie die Papierverschwendungen eines Tad Williams (»Der Drachenbeinthron«) und Robert Jordan (»Das Rad der Zeit«) anschaue, erscheint mir das notwendig.

Zuckerl: Grond

Als Linderung und Wiedergutmachungsangebot nach all dem dekonstruierenden Kopffüßlerblabla, will ich zeigen, welche Stellen auch mich fürwahr abheben lassen, wenn ich den guten Prof. Tolkien lese. Auf zur Belagerung von Minas Tirith in LOTR, Buch III:

Seite 873: Die Trommeln wirbelten lauter. Große Maschinen krochen übers Feld heran; und in ihrer Mitte kam ein riesiger Rammbock, dick wie ein Baum und hundert Fuß lang, aufgehängt an mächtigen Ketten. Lange war er in Mordors dunklen Waffenschmieden zurechtgeschliffen worden, und sein hässlicher Kopf, aus schwarzem Stahl gegossen, hatte die Form einer Wolfsschnauze und war mit mauerbrechenden Worten beschriftet. Grond nannten sie ihn, in Erinnerung an den Unterwelthammer der alten Zeiten. Große Tiere zogen ihn, Orks deckten ihn an den Seiten, und hinterdrein kamen Bergtrolle, um ihn ans Ziel zu wuchten.

Und den englischen Text von LOTR habe ich größtenteils laut und theatralisch deklamiert … oft während längerer WC-Sitzungen.

Original, Seite 860: The drums rolled louder. Fires leaped up. Great engines crawled across the field; and in the midst was a huge ram, great as a forest-tree an hundered feet in lenght, swinging on mighty chains. Long had it been forging in the dark smithies of Mordor, and its hideous head, founded of black steel, was shaped in the likeness of a ravening wolf; on it spells of ruin lay. Grond they named it, in memory of the Hammer of the Underworld of old. Great beasts drew it, orcs surrounded it, and behind walked mountain-trolls to wield it.

Zurück durch die Jahrtausende ins Erste Zeitalter und zur (vierten) Schlacht »des Jähen Feuers« und dem Kampf Morgoth vs. Fingolfin:

Seite 172: Dann schwang {der turmhohe} Morgoth Grond hoch in die Luft, den Unterwelthammer, und schmetterte ihn nieder wie einen Donnerschlag. Doch Fingolfin sprang beiseite, und Grond schlug eine mächtige Grube in die Erde, aus der Rauch und Feuer hervorsprühten. Viele Male versuchte Morgoth, ihn zu zerschmettern, und jedesmal wich Fingolfin aus, wie der Blitz unter einer dunklen Wolke hervorspringt; {…} Doch die Erde um ihn war nun voller Löcher und Gruben, und er strauchelte und fiel rücklings Morgoth vor die Füße; und Morgoth setzte den linken Fuß auf seinen Hals, schwer wie ein stürzender Berg. Doch mit einem letzten und verzweifelten Streich hieb Fingolfin ihn Ringil in den Fuß, und das Blut sprudelte schwarz und dampfend hervor und füllte die Gruben, die Grond gehauen hatte. ••• »Silmarillion«, Klett-Cotta, 1986; Übers. Wolfgang Krege.

Original, Seite 185: Then Morgoth hurled aloft Grond, the Hammer of the Underworld, and swung it down like a bolt of thunder. But Fingolfin sprang aside, and Grond rent a mighty pit in the earth, whence smoke and fire darted. Many times Morgoth essayed to smite him, and each time Fingolfin leaped away, as a lighting shoots from under a dark cloud; {…} But the earth was all rent and pitted about him and he stumbeld nd fell backward before the feet of Morgoth; and Morgoth set his foot upon his neck, and the weight ot it was like a fallen hill. Yet with his last and desperate stroke Fingolfin hewed the foot with Ringil, and the blood gushed forth black and smoking and filled the pits of Grond. ••• Unwin/Unicorn, 1987

Da bleibt mir meckerlos die Spucke weg, und nein, ich bin nicht so tollkühn, Grond als Phallus zu interpretieren und die blutigen Gruben zu deuten als, … na ihr wißt schon. Noch halte ich mich nicht für eine Reinkarnation von Arno Schmidt … vom schniefenden Siggi Freud gar nicht zu reden.

Ein ähnlich überwältigendes Bild fürs Vorstellungsauge bietet die (zweite) Schlacht »unter Sternen«, in der eine ganze Balrog-Armee auftritt. Man stelle sich vor, ein angreifendes Gewimmel von den Biestern, von denen eines in den Tiefen Morias den guten Gandalf alt aussehen läßt. Übrigens: durch die im Film beim Duell Gandalf vs. Balrog zu sehenden unteririschen Kavernen, wurde im Scheibenwelt-Zeitalter Mittelerdes die Sonne nachts zur Aufgangsposition zurückgerollt. Kann ich nur als eigenwilligen Ausdruck des Humors von Tolkien deuten und mich daran vergnügen.

Ausklang

Abschließend kann ich jedem begeisterten Leser empfehlen, sich einmal unerschrocken zu fragen, was genau für ihn die Faszination von LOTR und Mittelerde ausmacht. Ist es der Trost, die Epik, die Exotik, das Heldenhafte, die Naturromantik, die Sprache oder oder oder?

Eine großartige (katholisch-jesuitische) Vergleichslektüre zu LOTR, ist ein Ur-Fantasy-Buch aus dem spanischen Barock (1651):

Balthasar Gracian: »Das Kritikon« (und hier geht es zu meiner Besprechung) , als Fischer-TB für 20 Euro zu haben. Hier findet sich das sehr christliche Motiv des Lebens als Pilgerreise zum Seelenheil, der Mensch als Fremdling in einer trügerischen Welt (versaut durch demiurgische Pfuscherei, sprich abtrünnige Engel).

Know Thy Enemy.

Dig deep.

•••

WOANDERS: Wer weiter stöbern mag, dem sei neben den bereits genannten Quellen die umfangreiche Linksammlung The Catholic Imagination of J.R.R. Tolkien empfohlen. (man beachte die URL und verzweifle). Interessante Essays von katholisch-christlichen Autoren sind meines Erachtens:

Alles was dort zu lesen ist, stellt weitaus diskretere Deutungen zu Mittelerde dar, als zum Beispiel voreilige Interpretationen die feststellen, daß LOTR rassistisch sei; oder Frodo und Sam, bzw. Gandalf und Frodo homosexuelle Sublimationen wären und ähnlicher galoppierender Quatsch.

NEU: 24. Juli 2014 — Hier die (mir bekannten) brillanten Texte von Peter ›raskolnik‹ Schmidt zu Tolkien und seinem Werk (in chronologischer Reihenfolge). Raskolnik schafft es viel besser als ich, gut belegt kritisch zu hinterleuchten. Er arbeitet und bereitet einfach bedachter und ordentlicher als ich. (Wer auf mehr Radau aus ist, darf natürlich meine ›Phantastikforschungs‹-Entäußerungen weiterhin gut finden.)

Ich glaube behaupten zu dürfen, dass Raskolnik — ebenso wie ich — nicht einfach nur darauf aus ist, Tolkien unangespitzt in den Boden zu rammen, sondern dass er ihn vielmehr ernst nehmen und Probleme & Einsichten freilegen will, die im Spiel der Zeiten & Moden verdeckt wurden. Ich denke zudem, dass man bei Raskolnik merken kann, dass er durchaus — wiederum wie ich — auch seine Freude & den gebotenen Respekt für den Phantastik-Pionier Tolkien aufbringt.

Material zum Kapieren: »The Matrix«-Trilogie

(Film) – Dieser Beitrag ist für alle, die Probleme mit dem Kapieren des ganzen MATRIX-Schwurbels haben, und sich nicht durch englische Texte wühlen wollen. {Hey Ihr jungen Erwachsenen, als Teenager hab ich mit Büchern von Clive Barker und Fritz Leiber Englisch gelernt, und mit guten Comics. Und Filme? … Guckt mal hier, wie man zum Beispiel in X-Men (2000) veräppelt wird mit der deutschen Synchro.}

Ich will hier nicht näher auf die philosophischen Spekulationen der Filme eingehen und lasse also alle Aussagen zu Begriffen wie Schicksal, Kontrolle, Wirlkichkeit, Bestimmung und Freiheit außer Acht. Ebenso trage ich hier keine eigenen Theorien zu Farbsymbolik oder sonstigen Hermeneutiken der Filme bei. Doch hoffe ich, all dies hier erleichtert manchen die Freude an eigenen Interpretation der Filme.

Übersicht: Realitäten der Matrix-Trilogie

Ebene Null / The Matrix (grün):

Die Welt unserer Gegenwart 1998. (»Call trans opt: received. 2-19-98   13:24:18 REC:Log> Trace programm: running« = Beginn von Teil 1, Hervorhebung von mir. Die Matrix des Jon Anderson ist also im Jahre 1998, dem Kinojahr des ersten Films angesiedelt.) - Hier ist der Verstand (mind, auch Geist-Gemüt und Sinn, im Film auch Restselbstbild genannt) der Menschen in einer neuro-interaktiven Simulation gefangen … in dieser Simulation bewacht von den Agenten-Programmen (Mr. Smith und Co.) der Maschinen. John Anderson/Neo wird aus dieser Illusion durch Morpheus befreit. Es tummeln sich hier außerdem Programme aus dem Quellcode, die nicht gelöscht werden wollten oder konnten. Manche von diesen sogenannten Exilanten unterstützen die Menschen und Hacker (Orakel, Seraph, Schlüsselmacher), andere nutzen mit ihren Insider-Fähigkeiten die Menschen aus (Merowinger, Trainman).

Ebene Eins / ZERO-ONE & ZION (blau):

Die Welt der Zukunft um das Jahr 2199. Die Erdoberfläche ist eine postapokalypische Wüstenei und Herrschaftsbereich der Maschinen. {Ein Höhepunkt der Matrix-Produkte: Die beiden Zeichentrickepisoden »The Second Renaissance« aus der Animatrix-Kollektion erzählen die historischen Entwicklungen der Götterdämmerung, die zu den Waste-Lands geführt haben.} Vom Zweistromland aus hat sich um ???? herum Zero-One, die Stadt der Maschinen, ausgebreitet. Hier gibt es die Kraftwerke mit den Menschenbatterien und die Babyplantagen … die hier exploitierten Individuuen leben in der vorgegauckelten Matrixwelt der Ebene Null. — Ungefähr dreitausend Meter unter der Erdoberfläche liegt Zion , die letzte Stadt der freien Menschen (Zion-Eingeborene ohne, aus den Kraftwerken Befreite mit Körper-Buchsen). Mit den Hovercrafts (die alle lustige mythologische Namen tragen) düsen die Hacker durch die Trümmerwelt nahe der Oberfläche, um sich per Piratenfunk in die Ebene Null-Matrix einzumischen. An Bord der Hovercrafts und in Zion trainieren die Menschen in kleinen, unabhängigen Versionen der Matrix, sogenannten Konstrukten (weiße Ladeprogramme). Die Hovercrafts werden von den tintenfischartigen Sentinels (Wächtern) der Maschinen gejagd. Als die Maschinen die Position Zions entdecken, bohren große Drillmaschinen einen Angriffstunnel dorthin.

Zion und Zion-Archive (Rot) : In den Archiven ist das gesammelte (lückenhafte) Wissen der freien Menschen gespeichert. Delikat dabei, daß die freien Menschen nicht so wirklich wissen, wie die großen Lebensversorgungsmaschinen von Zion (z.B. Wasseraufbereitung) funktionieren. Zion ist stark befestigt und das Hovercraft-Dock wird aus einem weißen Controll-Konstrukt gesteuert.

Zero-One und Quellcode (Weiß) : In einem geheimen Stockwerk eines Ebene Null-Gebäudes befindet sich ein unendlicher weißer Gang (mit grünen Türen), durch den man in einen besonderen Raum gelangt, in dem eine ganz besondere Tür zum Quellcode der Matrix (so genannt im Film, Teil 2 im Monolog des Keymaker … welche gemeint ist, bleibt unklar) führt. Nur besondere Programme und waghalsige Hacker dringen in den weißen Gang vor … nur Neo, Morpheus und der Keymaker schaffen es in den Vorraum … allein Neo durchschreitet die Tür aus weißem Licht. Indem er sich im Kreisraum des Architekten für die Rettung von Trinity entscheidet, speißt Neo das neue Programm (¿»Liebe«?) in den Quellcode der Matrix (Bezug auf welche wieder offen). Schon zuvor begann als Umkehrung der reifenden Liebe ( …Deinen nächsten wie Dich selbst… ) Agent Smith einen Ebene Null-Menschen nach dem anderen zu absorbieren, seine (Egomanie-)Liebe macht alle gleich.

Genaues Datum – so es gegeben wird – will ich noch ergänzen.

Ebene Zwei / MATRIX-IN-MATRIX, QUELLCODE & ZION-ARCHIVE:

Die echte Wirklichkeit, oder eine weitere Verschachtelung?

Neos telekinetische Abwehr — oder die Shut-Down-Reaktion — der Sentinels am Ende von »Matrix Reloaded« läßt vermuten, daß auch die Wirklichkeit von Zero-One/Zion eine weitere Matrix ist (»Ich kann sie spüren… «). Die Szene erschließt sich vielleicht, wenn man ausformuliert, welche Prämisse sie wahrscheinlich vertritt: Neo darf nichts geschehen (vielleicht rettet ihn auch die unsichtbare Hand des pragmatischen Architekten … vielleicht beruhen Neos wunderliche Kräfte in der Ebene Eins von einem speziellen Hackercode, der ihm von Persephone beim Kuss im Edel-Klo übermittelt wurde), denn noch ist es möglich, daß er und Smith den Zusammenbruch der Matrix aufhalten. Ob das Ineinanderschachteln von Welten auf dieser Ebene endet oder immer munter weitergeht, wird nicht geklärt. Einen interessanten Ausblick und Grund zu munteren Spekulationen über solche weitere Verschachtelungen bietet die letzte Folge der Animatix-Kollektion »Imatriculated«.

Mobile Avenue: Eine vom Trainman beherrschte weiße U-Bahn-Station (mit grüner Beschriftung und Boden). Wir wissen nicht, wie beweglich dieses entführte Koppel-Konstrukt ist, wir wissen nur, daß sich über diese Schleuse Programme aus der Maschinenwelt (Quellcode, Zero-One) in die Gefängnis-Matrix (Ebene Null) ins Exil/Asyl aufmachen. Die Geschäfte einer Trainman-Fähre vermittelt der Merowinger. – Als Neo nach der Begegnung mit den Sentinels am Ende von »Reloaded« (Ebene Eins Welt) ins Koma fällt, taucht sein Restselbstbild hier auf.

Der Architekt und sein Kreisraum: Wir wissen nicht genau, wie der runde Raum mit den zwei Türen aussieht, am wahrscheinlichsten ist aber, daß er eine am Äquator geteilte Hohlspähre ist (oder halt: eine umgedrehte Salatschüssel). Da der Architekt alle Gleichungen der Matrix ausgleicht, liegt es nahe anzunehmen, daß er von hier aus auf alle Matrix-Ebenen Einsicht und Zugang hat (blanke Vermutung von mir). Man bemerke am Beginn der Szene von Neos Verhör durch Smith in Matrix Teil 1 das erste Auftauchen der Architekten-Bildschrime eben dieses Kriesraums.

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Versäumen Sie nicht diese anderen Beisträge zur Matrix-Trilogie: • Gedanken zu MATRIXWas der Architekt sagt

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