molochronik

Molos Wochenrückblick No. 68 / 69 / 70

Eintrag No. 746 — Um der Verwirrung vorzubeugen: dieser Wochenrückblick umfasst drei Nummern der Zählung, damit die Zahlen mit dem Wochenfortlauf übereinstimmen. Im August hatte ich derart viel um die Ohren, dass ich drei Wochen Rückblickpause eingelegt habe.

Neal Stephenson: »Reamde«Lektüre: Ich trachte ja zu vermeiden, bei Hugendubel (oder anderen Buchgroßkaufhäusern die auf üble & mächtige Weise auf den Markt einwirken ) Geld zu lassen. Aber wenn dann die Frankfurter Filiale (wieder Mal) auf den Erstverkaufstages-Termin des Verlages pfeifft und ich somit z.B. früher als üblich an den neusten Roman von Neal Stephenson rannkommen kann, mache ich eine Ausnahme. — Also, seit Samstag lese ich »Reamde« (setzt bei der Aussprache die Silben so: Re|am|de). Bisher habe ich in zwei Tagen etwa 200 der ca. 1100 Seiten bewältigt und bin begeistert.

Hier die Youtube-Filmchen mit Promo-Interview, die ich bei Harper Collins gefunden habe: Neal Stephenson spricht über … sein neues Buch »Reamde«; …seine Schreiberei; …die Videospiel-Welt von »Reamde« …die Länge seiner Bücher; …die Äktschn von »Reamde«; …seine Produktivität; …die Nicht-Verfilmung seiner Bücher; …seinen Ruf als Prophet; …Schreiben und Recherche.

Politik, Gesellschaft & Hochkultur:

  • Die ›Nachdenkseiten‹ präsentieren den bisher vielleicht gescheitesten Text, der im deutschen Netzl über die Unruhen in England geschrieben wurde. Götz Eisenberg: Die große Wut der Überzähligen.
  • Sehr löblich, wie die Mutter Beate Turner sich mal die Geschichtslehrbücher ihres Sohnes vorgeknöpft hat, und bass erstaunt war, mit welch verhamlosender Propaganda darin die mittelalterliche Geschichte des Christentums behandelt wird: Geschichtsunterricht missioniert subtil (beim ›Humanistischen PresseDienst‹).
  • Endlich wurde eines der fulminantesten und originellsten Werke des großartigen Douglas Coupland übersetzt und erscheint diesertage beim Tropen / Klett-Cotta Verlag. Anlässlich von »JPod« hat sich Jan Pfaff für ›Der Freitag‹ mit Coupland unterhalten: Out of Office. — Und das Schweizer Fernsehen hat Coupland eine ganze »Sternstunde Philosophie«-Sendung gewidmet: Der ganz normale Wahnsinn unserer Zeit. Bilde ich mir es nur ein, oder ist Coupland derzeit der aussichtsreiche Kandidat des ›Philip K. Dick Ähnlichkeits-Wettbewerbes‹?
  • Für ›Literaturkritik.de‹ hat Fabian Kettner eine Rezi zu Will Eisners Graphic Novel »New York. Großstadtgeschichten« geliefert: Comic-Dramen der Großstadt.
  • Zuletzt ein feiner Text von Andrea Diener für den Reise-Teil der ›F.A.Z.‹, über eine kleine deutsche Stadt, die ihren jahrhundertealten Untergrund entdeckt. Es ist erst einige Tage her, seit ich bei der Komplett-Hörbuchversion von Neal Stephensons »Barock-Zyklus« die Passagen über den Londoner Untergrund in »The System of the World« wiedererlebt habe. Dies eingedenk fand ich Perspektiven der Stadt (6): Oppenheim – Bacchus in der Unterwelt besonders spannend.

(Deutschsprachige) Phantastik-Links

  • Kaum zu fassen, wie lange es gedauert hat, bis nun endlich einmal eine günstige einbändige Ausgabe des dollen, irren Psychodelic-, SF-, Verschörungstheorie-, Drogen-, Magie- & Sex-Klassikers »Illuminatus!« von Robert Anton Wilson und Robert Shea auf Deutsch erschienen ist. Entsprechend gibt es einen Eintrag im aktuellen Rowohlt-Magazin. — Kann gut sein, und ich veranstalte hier bald ein kleines Preisausschreiben, um Molochronik-Lesern Gelegenheit zu verschaffen, eines Bandes habhaft zu werden. Hier habe ich anlässlich des Todes von R. A. Wilson schon einmal kurz über diese Trio berichtet.
  • Bald kommt eine dicke englischsprachige Anthologie, von niemand anderem als Jeff Vandermeer (einem meiner liebsten lebenden Phantasten) zusammengestellt auf den Markt: »The Weird«. Im verlinkten Blogeintrag kann man schon mal das Inhaltsverzeichnis des dicken Schmöckers einsehen. Sehr erfreulich, dass Vandermeer bei seinem gut 100-Jahre umassenden Blick auf die ›verdrehte‹, ›seltsame‹ Phantastik neben Stories von bekannteren zeitgenössischen Autoren wie China Miéville, Michael Chabon, Kelly Link, Neil Gaiman, Stephen King und George R. R. Martin auch weniger bekannte aber exzellente Autoren wie William Browning Spenser oder Michael Cisco, sowie Klassiker wie Mervyn Peake, Julio Cortazar, Jorge Luis Borges, (natürlich) H. P. Lovecraft, Stefan Grabinski, Franz Kafka, Georg Heym, Gustav Meyrink, Saki und Alfred Kubin berücksichtigt.
  • Peter V. Brinkemper veranstaltet für ›Glanz & Elend‹ wieder eines seiner klugen Textfeuerwerke in Sachen Pop-Phantastik, diesmal bezüglich zweier neuer Superhelden-Flicks: »Green Lantern« vs. »Captain America«.
  • Oliver vom ›Fantasyguide‹-Team hat für das ›Fantasyguide‹-Blog eine interessante Zusammenfassung einer Sekundärtext-Lektüre notiert: Hat Borges phantastische Werke verfasst?, basierend auf einem Beitrag von Alfonso de Toro aus dem Buch »Die magische Schreibmaschine. Aufsätze zur Tradition des Phantastischen in der Literatur«. — Ich finde es immer toll, wenn Phantastik-Freunde über ihre Beschäftigung mit Genre-Theorie schreiben.
  • Schönes Interview mit China Miéville bietet die aktuelle Folge von The Geeks Guide To The Galaxy (gibt es auch bei iTunes).

Zuckerl: Popkultur & Kunst

  • Unter anderem bei ›The Laughing Squid‹ wurde folgendes lustiges fiktives Produktbildchen verbreitet: Mac OS Maru, anlässlich der Veröffentlichung des neusten Apple-Betriebsystems Lion. Wäre irre, wenn die Apple-Menschen ihr nächstes Betriebssystem tatsächlich nach der berühmtesten und putzigsten Internet-Katzenberühmtheit benennen (über die es inzwischen sogar ein eigenes Buch gibt).
  • ›Game Wire‹ berichtet über ein iPad-App, das im Herbst erscheinen soll, und das ich unbedingt haben will: die interaktive Ausgabe von Douglas Adams’ Hitchhiker’s Guide To The Galaxy. Mehr demnächst auf der Herrsteller-Seite zum App.
  • Wieder ein Mal »Calvin & Hobbes«-Zeugs: der famose Pulp-Künsteler Francesco Francavilla hat zwei Poster gestaltet, die Calvin & seinen Stofftiger Hobbes in ihren Phantasie-Rollen als Hard Boiled-Krimihelden zeigen: C & H Private Investigations.
  • An die bildnerischen Werke von Alfred Kubin, Mervyn Peake und einige der dunkleren Surrealisten oder Magischen Realisten erinnern mich die Arbeiten von Martin Wittfooth. Um drei Beispiele zu geben, die mir besonders gefallen, hier eine Homage auf die Böcklin’sche Toteninsel; — ein Halbaffe mit Mottenflügeln; — und ein Fuchskadaver mit Blumen.
  • Da ich viel um die Ohren hatte (habe) in den letzten (kommenden) Wochen, lese ich vermehrt Comics. Unter anderem habe ich mir endlich alle 10 Sammelbände des ätzend-satirischen SF-Garns »Transmetropolitan« von Warren Ellis und Darick Robertson besorgt (die ich damals, um die Jahrtausendwende, als Einzelhefte komplett gelesen habe). — Passend dazu hier ein Link einer erotischen Zeichner-Sitzung der Dr. Sletchy’s Anti-Art School: Spider Is Our Hero. Überhaupt eine anregende Sache, diese Dr. Sketchy-Sessions (ich wünschte, es gäbe einen Ableger in Frankfurt. Vielleicht reise ich mal zu einem Termin in Berlin oder Hanover). — Eine der Teilnehmerin der »Transmetropolitan«-Sitzung war die New Yorker Illustratorin Queenmob (= Anna-Maria Jung), von der mir auch diese Zeichnung mit Killer Kaninchen gut gefällt. — Schließlich noch der Hinweis auf das »Transmetropolitan«-Art Book 2011, das erscheinen soll, sobald die durch Fans gespendete Finanzierung steht (und das zur Unterstützung des Comic Book Legal Defense Funds beitragen soll).
  • Derweil die neusten Folgen von »Futurama« auf Englisch laufen und die Zukunft der Serie bis auf weiteres gesichert ist, habe ich mich gefreut, dass für das ›Der Freitag‹-Alphabeth Ulrich Kühne diesem SF-Komik-Wahn einen Eintrag widmen durfte. — Durchaus erstaunlich auch die realistischen Skulpturen einiger »Futurama«-Figuren von artanis one bei ›Deviant Art‹.
  • Krass-geil sind diese Logos des T-Shirt-Vertriebes ›Amorphia Apparel‹: Monsters of Gork. Namen von Wissenschaftlern und Philosophen in der Form von bekannten Band-Logos. Mein Lieblinge: Machiavelli in Metallica-Style und Anais Nin in Form des Nine Inch Nails-Logos.
  • Als Schlussgranate hier ein absurdes Gespräch zwischen zwei K.I.s: AI vs. AI. Two chatbots talking to each other (›K.I. gegen K.I.: Zwei Plauderautomaten unterhalten sich‹).

••••• Flattrn Sie diesen Eintrag, wenn Sie der Meinung sind, dass er etwas wert ist. 

Der ›Erfinder‹ des Totenkopfsees hat den Planeten verlassen

Eintrag No. 325 — Robert Anton Wilson ist am 11. Januar mit 75 Jahren gestorben. Die Meldung erreichte ich via Volltext-Newsletter erst Anfang dieser Woche. Der Co-Autor der berüchtigten »Illuminatus!«-Trio und markanter Pionier der ›Sex, Drugs & Rock'n Roll‹-Phantasik der Siebziger ist (zumindest für mich) einer der schillernsten Autoren des Informationszeitalters.

Okey, es ist nicht ganz leicht sich Wilsons Werk zu nähern. Zuviel Deviantes, zuviel mittlerweile als haarsträubend geltende Alternativ- und Subkultur-Wüstheit macht seine Bücher zu einem verwirrenden Labyrinth.

Gottseidank aber war Wilson kein köchern-ernster Kerl und so wurde die flirrende Buntheit und Schrillheit vieler Aspekte seiner Bücher durch seinen anachristischen Humor ausgeglichen. Er ist ein Vorbild der These, dass man ruhig alle noch so durchgeknallten Ideen auf den Tisch legen kann, wenn man sich selbst nicht allzu ernst nimmt.

Herausragend finde ich, dass Wilson in seinen Büchern nicht nur ›aufregende‹ Ideen zuhauf unterbrachte, sondern daß er einer der vielseitigsten Formen-Spieler der phantastischen Literatur war (wenn man mal seine Sachbücher hintanstellt, weil deren Thesen eben zu ›abgefahren‹ für einen gepflegten Diskurs sind).

Hier zwei Feuillitonmeldung zum Tod von R.A. Wilson (soll keiner sagen, daß der deutsche Blätterwald die Genre-Phantastik völlig ignoriert):

  • »Wie die Welt wohl zu retten wäre«: Brigitte Heberling für die »Berliner Zeitung« — Schöne Stellen:
    Von Anfang an liebte ihn die intelligente, wenig sportliche, überwiegend männliche Jugend: die Nerds, die Garagenbastler, diejenigen, die uns Microsoft und Apple brachten und heute die Welt retten wollen. Und wie viel Anteil daran trägt wohl Wilson? {…} Wilson hat die Gründung von mindestens zwei Sekten inspiriert, man hat ihn den James Joyce der Kinderschaukel-Bauanleitung und den Arnold Schwarzenegger des Feminismus genannt, auf seiner Website ruft er in einem letzten Eintrag dazu auf, Kriege abzuschaffen und an ihre Stelle "selektive Attentate" zu setzen. "Mir fällt es schwer, irgendetwas noch ernst zu nehmen", so Wilson über die Folgen von Alter und Krankheit.
  • »›Illuminatus!‹-Autor Robert Anton Wilson gestorben«: Holger Kreitling für »Die Welt« — Schöne Stellen:
    Die Stadt Ingolstadt verdankt ihren Ruhm in der Weltliteratur eindeutig dem amerikanischen Autor Robert Anton Wilson. Es ist allerdings ein in mehrfacher Hinsicht zweifelhafter Ruhm. {…} Und Ingoldstadt? Nun, Adam Weishaupt, Gründer der bayerischen Illuminaten, stammte tatsächlich von da. Am Ende des Romans findet ein riesiges Woodstock-Festival am Ufer des nahe Ingolstadt gelegenen Sees statt, und aus der Tiefe des Wassers kommt ein Bataillon todeswütiger Nazis herauf, die dort Winterschlaf gehalten hatten.
  • Wer neugierig ist, kann sich in dem ordentlichen Wikipedia-Eintrag zur »Illuminatus!«-Trio informieren (sei aber gewarnt, daß es dort viele Spoiler gibt).

Und hier noch ein Bildchen der (im Vergleich zu den Vorgängerauflagen) wunderfeinen neuen Taschenbuchausgabe bei Rowohlt.

Und hier noch ein paar nette Zitate aus dem ersten Band, die gleichzeitig schön ›Selbstbezüglichkeit in der Literatur‹ illustrieren (ich hab die alten Ausgaben von Rowohlt; entsprechend stimmt Seitenangabe der Zitate wohl für die neuen Ausgaben nicht):

  • Wahrlich, es werden noch wundersame Dinge geschehen.

    (S. 10)

  • Romanhelden holen sich keinen runter, wenn die Wogen der Handlung höher schlugen, besann er {George Dorn} sich. Zum Teufel damit, erstens war er kein Held, zweitens war das hier keine Literatur.

    (S. 80)

  • Und das Buch macht sich selbst nieder. Die (wie ich annehme fiktive) New Yorker Kritikerin Epicene Wildeblood soll ein Buch (eben »Illuminatus!«) besprechen und in ihrer Mitteilung an den Redakteur lästert sie:
    Es ist ein gräßliches Monster von einem Buch … und die Zeit ist viel zu kurz, es ganau zu lesen; aber ich werde es gründlich durchblättern. Die beiden Autoren halte ich für völlig inkompetent — nicht eine Spur von Stilgefühl oder für Gliederung. Es fängt als Kriminalroman an, springt dann über zur Science-Fiction, gleitet anschließend als ins Übernatürliche und ist überladen mit den ausführlichsten Informationen über Dutzende von entsetzlich langweiligen Themen. zudem ist der Zeitablauf völlig durcheinander, was ich als anmaßende Imitation von Faulkner und Joyce werte. Am allerschlimmsten aber ist, es hat het die obzönsten Sexszenen, die du dir vorstellen kannst. ich bin sicher, daß es nur deshalb verkauft wird. Sowas spricht sich am schnellsten rum. Und ich meine, die beiden Autoren finde ich einfach unmöglch; kein bischen guten Geschmack; stell dir vor, die beziehen tatsächlich lebende politische Figuren ein, um, wie sie einen glauben machen möchten, eine echte Verschwörung aufzudecken. Du kannst dich darauf verlassen, daß ich keine Minute vergeuden würde, einen solchen Schrott in die Hand zu nehmen … aber, naja, bis morgen mittag werde ich eine niederschmetternde Kritik für dich haben.

    (S. 261 f)

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