molochronik

Molos Wochenrückblick No. 72 / 73

Eintrag No. 748 — Entschuldigt die Verspätung, dafür gibts diese Woche auch richtig was auf Brot, und so gut wie alles aus der Sparte ›Kunst & Popkultur‹. Für gewichtige Gesellschafts- & Poltikthemen hatte ich keinen Kopf.

Halt!

Moment!!

Der Sepp war ja im Lande!!!

Zumindest habe ich mir da die Zeit genommen, mir seine Bundestag-Rede anzugucken, bzw. ihren Abdruck in der ›F.A.Z.‹ durchzulesen. Ich erlaube mir zum einen, mir Sorgen zu machen, da der Sepp mit Origenes-Zitaten praktisch zum Kampf aufrechter Katholen und Christenmenschen gegen den Staat aufruft:

Wenn jemand sich bei den Skythen befände, die gottlose Gesetze haben, und gezwungen wäre, bei ihnen zu leben …, dann würde er wohl sehr vernünftig handeln, wenn er im Namen des Gesetzes der Wahrheit, das bei den Skythen ja Gesetzwidrigkeit ist, zusammen mit Gleichgesinnten auch entgegen der bei jenen bestehenden Ordnung Vereinigunen bilden würde …

Und zum Zweiten fand ich erschütternd, wie leicht es für den Sepp war, mit seiner Schlangenzungenkunst einen Gutteil der versammelten Politiker – die eigentlich eine zumindest skeptische und zurückhaltende Position zum Popst oder Pepst oder Papst und seiner Weltsicht haben sollten – an der Nase herumzuführen. Da scheint er nämlich die Grünen zu loben, begrüßt die Generation der ökologischen Bewegung, die seit den 70er Jahren ›nach frischer Luft in der Politik schrien‹, weil den ›jungen Menschen bewusst geworden war, dass irgendetwas mit unserem Umgang mit der Natur nicht stimmt‹. — Und dann rammt er das katholische Menschenbild in den Bundestag, wenn er darauf besteht, dass auch der Mensch Natur ist, sich nicht selbst macht sondern (das steht zwischen den Zeilen) von GOtt geschaffen wurde. — Überrascht hat mich, dass Richard Kämmerlings ausgerechnet in der ›Die Welt‹ das ausdeuten durfte: Gegen alles, was wider die Natur des Menschen ist.

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Lektüre Zu meiner Entspannungslektüre abends vorm Einschlafen habe ich »Habibi« von Craig Thompson erkoren. Ich konnte nicht widerstehen, als ich die günstige englische Ausgabe von Faber & Faber bei dem Buchhändler meines Vertrauens für Anglo-Amerikanisches sah (»Readers Corner«). Bei der auf Titel und Bild verlinkten deutschen Ausgabe von Reprodukt gibt es die ersten 20 Seiten als Leseprobe. Und die englische Website zum Buch bietet eine ehrfuchtsgebietende Erstellungs-Gallerie.

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Neal Stephenson: »Reamde«Mit »Reamde« von Stephenson bin ich durch und fand den Roman sehr unterhaltsam.

Ungewöhnlich ist wohl, dass Stephenson sich ›zurücklehnt‹ und es zu genießen scheint, ›einfach nur‹ einen kurzweiligen Thriller mit viel Verfolgung, Geballer und so manchen IT-Heckmeck anzubieten. Keinerlei phantastische Elemente. Neal wandelt sozusagen auf dem Genre-Feld von Tom Clancy und »24«.

Der arme Neal begibt sich zu jedem seiner frisch erschienenen Bücher aus seiner Schriftsteller-Klasue und absolviert Promostunts wie zum Beispiel dieses ›Goodreads‹ Video-Interview. Das Gespräch bietet einiges interessantes, aber stellenweise meine ich doch wahrzunehmen, wie Neal zwischen Langeweile und Genervtheit schwankt, dies aber ganz gut zu überspielen weiß. — Stephenson ist mein Held, wenn er auf eine Leserfrage, ob er weitere Fortsetzungen zum »Barock-Zyklus« plant und liefern will, in etwa folgendes antwortet: Ja, er hatte unglaublich viel Spaß mit den Figuren aus dem »Barock-Zyklus«, und er könnte locker und würde gerne mehr über sie schreiben, aber er befürchtet, dass er dann nur noch über die Shaftoes, die Waterhouses, Enoch Root & Co. schreiben würde bis er alt ist, und als Schriftsteller will er doch noch einige andere Gipfel erklimmen. — Sag ich ja: heutzutage ist es edler und abenteuerlicher, keine Serienware zu schreiben!

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Immerhin hat »Reamde« meine Stephenson-Begeisterung nun so sehr entfacht, dass ich mir am Wochenende endlich das »The Mongoliad«-App besorgt habe, und bisher (nach 6 von aktuell 42 Kapiteln) finde ich diesen historischen, im Jahre 1241 n.d.Z. einsetzenden ›Martial Arts‹-Roman von »Neal Stephenson, Greg Bear and Friends« ganz fein. — Es gibt vier Handlungsstränge: a) christliche Schwertbrüder aus allen möglichen Ecken Europas, die nahe der polnischen Stadt Legnica lagern. Eine Gruppe macht sich auf den Weg nach Karakorum, mit dem Ziel, Ugedai, den Kahn der Kahns zu töten um die Mongolen zu schwächen. Die restlichen Schwertbrüder bleiben zurück, um am b) Zirkus des Schwertes der Mongolen teilzunehmen, einer Reihe von Duellen Mann gegen Mann. Erster ausführlicher Kampf: junger Wikinger mit großem Schwert gegen jungen japanischen Krieger mit Stangenwaffe. Schließlich gibt es noch c) Ereignisse am Hofe des großen Kahns in Karakorum und d) in Rom.

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Nachdem ich das längste Hörbuch meines bisherigen Lebens vor einiger Zeit abgeschlossen (die ca. 130 Stunden des »Barock-Zyklus«) habe, folgt seit letzter Woche die Hörbuchfassug »Illuminatus! – The Eye in the Pyramid«, dem ersten Buch der »Illuminatus!«-Trio von Robert Shea und Robert Anton Wilson. Der Vortrag des Erzählers Ken Campbells, und des Dialogsprechs Christopher Fairbank gefällt mir unglaublich gut. — Hier der Beginn von Campbells Vortrag als illustriertes ›youtube‹-Filmchen (die Soundqualität des Hörbuches ist freilich um einiges besser).

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Film

  • Jim Emerson bietet auf seiner ›vimeo‹-Seite schon seit langen nette kleine Filmchen an, aber in den letzten Tagen hat er einen interessanten Dreiteiler, »In The Cut«, zusammengestellt, in dem er der Frage nachgeht, anhand welcher handwerklichen Kriterien des Schnitts man gute von schlechten Äktschn-Sequenzen unterscheiden kann. Er analysiert zuerst ›schlechten‹ Äktschn-Schnitt in Shots In The Dark (anhand von »The Dark Knight«); dann ›guten‹ Äktschn-Schnitt in A Dash Of Salt (anhand von »Salt«); und als Referenz zeigt er die Tugenden von drei Klassikern der Autohatz-Äktschn in I Left My Heart In My Throat in San Franciso (anhand von »The French Connection«, »Bullitt« und »The Lineup«). — Ich kann mir vorstellen, dass nun viele Molochronik-Leser (wie ich) der Meinung sind, dass »The Dark Knight« sicherlich bratziger und unterm Strich ›besser‹ ist als »Salt«. Dem Urteil von Emerson was die beiden herausgestellten Autoverfolgungen dieser Filme betrifft, kann ich aber nicht widersprechen.

In the Cut, Part I: Shots in the Dark (Knight) from Jim Emerson on Vimeo.

  • Auch Rob Ager analysiert Filme. Allerdings konzentriert er sich auf weit mehr, als das reine Handwerk, sondern kümmert sich um Themen, Zeichen, Querverweise, Perspektiven und wie diese erzählerisch arrangiert werden. Ein besonders gelungenes Beispiel für Agers ausführliche ›youtube‹-Dekonstruktionen ist sein Vierteiler »A City Of Nightmares« zu David Lynchs »Mulholland Drive«.

Literatur

  • Übersetzen betrachte ich als sehr edle Sache. Nicht umsonst bin ich sehr froh, dass ich nach Jahren des Übersetzens aus Lust und Laue nun für Golkonda Ted Chiangs Kurzgeschichten übersetzten durfte. — Einer der ›prominentesten‹ und fleissigsten Übersetzer, Joachim Körber, hat letztens mit Torsten Dew vom ›Wortvogel‹-Blog ein langes und interessantes Interview über seine Arbeit geführt: Teil 1: »Gott, habe ich dieses Buch gehasst«; und Teil 2: »Niemand sitzt in New York und sieht sich Wim Thoelke an!«.
  • In den nächsten Tagen erscheint auf Engisch der abschließende dritte Roman von Scott Westerfelds (Prosa) und Keith Tompsons (Illustrationen) »Leviathan«-Trio. Den namensgleichen ersten Band habe ich hier kurz bejubelt. Für ›io9‹ haben die beiden ein paar Worte dazu verlohren, warum sie den Ersten Weltkrieg als Setting für ihre Geschichte gewählt haben: Why World War I should be the new World War II.

Wunderwelt der Pflanzen

  • Der Klangkünstler Diego Stocco zaubert Rhythmus-Mukke mit einem Bonsai als Instrument: Music From a Bonsai.

Diego Stocco - Music From A Bonsai from Diego Stocco on Vimeo.

  • Ich finde es immer wieder erstaunlich, wenn ich entdecke, dass es in der tatsächich stattfindenden Wirklichkeit ›magisch‹ anmutende Bauten gibt, denen ich zuerst in Fantasy-Welten begegnet bin. In so manchem Fantasyweltenbau züchten z.B. Elfen sozusagen Mega-Bonsai-Architektur. Hier nun ein Bericht der ›Architzer‹-Website über aus Baumwurzeln geschaffene Brücken in Indien: Living Infrastructure.

Kunst

  • Wie man mit Schnürchen feine Zeichnugen an die Wand nadelt, zeigt die Künstlerin Debbie Smyth.
  • Porzellan taugt immer noch als Material für modern-barocke Kunst, wie Katsuyo Aoki zeigt.
  • Monstertorten in quitscherosa bietet uns Scott Hove.
  • Colin Johnson erstellt große Collagen-Zeichnungen. Entdeckt habe ich ihn über seine Arbeit »Everything or Nothing«
  • Befremdlich-poetische Miniatur-Skulpturen baut Thomas Doyle.
  • Zum Schluss hält Sunni Brown eine ergreifende ›TED‹-Rede für die Kunst des Kritzelns: Doodlers, unite!

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