molochronik

Molos Wochenrückblick No. 38

Eintrag No. 694 — Hier nun, leider mit einem Tag Verzögerung, die Meldungen. — Bei den letzten Abstimmungnen der »Wer ist dir lieber«-Website habe ich gewählt: Beinbrech oder Roter Glitterling?, (Weder noch). — Wurst oder Käse?, (Wurst) — Freddie Frinton oder May Warden?, (Freddie Frinton). — Elwood oder Jake Blues?, (Elwood).

Zwei Petitionen auf den Seiten des Deutschen Bundestages habe ich unterzeichnet:

Lektüre: Bin im letzten Drittel von Paolo Bacigalupis »The Windup Girl« von (Anfang Februar als »Biokrieg« bei Heyne) und weiterhin sehr zufrieden mit dem Buch. Am meisten erstaunt mich, dass der Roman sich hauptsächlich auf die Charakter-Entwicklungen und die Schilderung des Sozialgefüges konzentriert. Obwohl es mittlerweile einen großen Zwischenfall gab, wird Äktschn unterschnitten inszeniert (es gibt allerdings ein paar Szenen, in denen eine künstliche Frau zum groben Vergnügen des Publikums eines Nacht-Club malträtiert wird).

»Codex Seraphinus« bei Rizzoli, 2006.Großartige Neuigkeiten. Es ist endlich so weit! Nach 20-jähriger Suche gibt es nun einen »Codex Seraphinianus« (Auflage August 2010 der Rizzoli-Ausgabe von 2006) in meinem Haushalt. Als Andrea ihn ausgepackt hat, merkte ich, wie sich ein kosmisches Ungleichgewicht auflöste. Im Netz schreiben zwar die Kenner, dass der Druck dieser Auflage etwas dunkler (sprich: Detail-abträglicher) ist, als der von vorherigen Auflagen, aber immerhin habe ich meinen »Codex« und ich dafür nicht mehrere hundert Euronen hinlegen müssen.

Seit seinem Erscheinen 1981 gilt »Codex Seraphinianus« als eines der seltsamsten, phantasiereichsten, undurchschaubarsten und erstaunlichsten Bücher aller Zeiten (in seiner Exzentrizität nur noch vergleichbar z.B. mit Werken wie den BildCollage-Romanen von Max Ernst {»Une semaine de bonté« und »La femme 100 têtes«}, dem Voynich-Manuskript, oder Carrolls Nonsense-Versepos »The Hunting of the Snark«). Soviel kann man erkennen: Der »Codex« ist wie eine Enzyklopädie organisiert, und in verschiedene Sachgebiete eingeteilt. Einige dieser Sachgebiete kann man ziemlich sicher erkennen, wie Flora, Fauna, Schrift oder Spiele, andere bleiben auch nach x-maligen Lesen ziemlich rätselhaft, z.B. die Abteilung über zweibeinige Lebensformen (wobei man bedenken muss, dass in der seraphinianus’schen Welt auch Regenschirme und Wollknäul dazugehören). Es gibt viel Text, Tabellen, Gleichungen, doch ist das alles in einer Sprache und Schrift geschrieben, die bis heute nicht entziffert werden konnte, und die aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht entzifferbar ist … oder vielleicht doch? — Hier ein kleiner Ausschnitt aus dem »Codex«: die Illustrationen aus der Abteilung über Städtebau oder Stadtbau-Utopien, begleitet von dem wundervollen Stück »Music For A Found Harmonium« des einzigartigen Penguin Cafe Orchestra.

Weitere lohnende Einblicke und Texte über den »Codex Seraphinianus« bieten:

Netzfunde

(Deutschsprachige) Phantastik-Funde

Zur Erinnerung: Hinweise auf bemerkenswerte deutschsprachige Internet-Beiträge zum Thema Phantastik (in allen ihren U- & E-Spielarten) bitte per eMail an …

molosovsky {ät} yahoo {punkt} de

… schicken. — Willkommen sind vor allem Hinweise zu Texten, die wenig beachtete Phantastikwerke behandeln (z.B. also Einzelwerke statt Seriensachen), oder die über Autoren, Theorie und Traditionsentwicklungen berichten.

Rüge

  • Hochgradigen Schwachsinn hat Wolfram Eilenberger für ›Cicero‹ zusammengeschwurbelt, wenn er in seinem Text Kehlmann, Sarrazin und die Vermessung der deutschen Leserschaft nur aufgrund der in etwa gleichen Verkaufszahlen von »Die Vermessung der Welt« und »Deutschland schafft sich ab« mutmaßt, dass diese beiden Bücher Ausdruck des gleichen Volksempfindes sind.

Zuckerl

  • In Zeiten ansteigender Überwachung wächst auch die Notwendigkeit, sich in städischen Gefilden zu tarnen. Wie das geht, zeigt die Website Urban Camouflage.
  • Ganz vorzüglich finde ich die ›deviant art‹-Galerie von Uminga. Meine Lieblinge sind Death & Sandman, die Portraits von »Batman«-Charakteren wie dem Pinguin, der immer entzückenden Harley Quinn und freilich dem Joker, und grenz-cool ist diese Illu der Ermittler aus dem Fincher-Film Se7en.
  • Das Blog ›Who killed Bambi‹ zeigt, was die Photographin und Diogramenkünstlerin Mariel Clayton fetziges mit Puppen anstellt: Killer Barbies.
  • Online-Comic: Ein Superheld ohne Superkräfte, aber dem Willen, allen Ratten und anderen Tieren im Kampf gegen wahnsinnige Wissenschaftsprojekte beizustehen liefert Doug TenNapel mit Ratfist.

••••• Flattrn Sie diesen Eintrag, wenn Sie der Meinung sind, dass er etwas wert ist. 

Thomas Pynchon: »Inherent Vice«, oder: Stoned auf der Suche nach den goldenen Reisszähnen

Eintrag No. 582 — Verflixt eigentlich! Meine derzeitigen Lektüren und Projekte sind von diesem neuen Pynchon-Roman unterbrochen worden. Habe den Roman am Wochenende erstanden und wollte ihn eigentlich erst anpacken, wenn ich mit dem zweiten Pyat-Roman »The Laughter of Catharge« von Michael Moorcock durch bin, aber das ›nur mal kurz den Anfang anschmecken‹ artete aus und fand kein Ende und nun bin ich schon über die Mitte hinaus. Kurz: mich hat’s voll erwischt.

Zu köstlich aber auch, wie der kleine, schräge und (fast dauer-)zugedröhnte Privatdetektiv Larry ›Doc‹ Sportello im Los Angeles (und Las Vegas) der Siebziger durch die Gegend trudelt. »Inherent Vice« bietet Eins A Ersatz-Rausch und ist ein feines Beispiel für die Sublimierungskraft von guter Kunst. Statt sich selbst dem Laster des Doperauchens und LSD-Pappe-Schmeißens hinzugeben, lieber Pynchon lesen und durch sein superbes Buchstabenkraut high werden. Und die durch Kiffer- und Acid-Aktionen verursachte Slapstick-, Sinnesrausch- und Dialog-Komik kann, wenn so trefflich aufbereitet wird wie bei Pynchon, auch mir nüchternen Zeitgenossen fett Spaß bereiten (naja: Abends gönn ich mir dann schon ein kleines Glässchen Dalwhennie zur Entspannung beim Lesen).

Auffällig, wie viele deutschen Medien flott bei Fuß sind, um mit ’ner Rezi über »Inherent Vice« aufzuwarten (die »FAZ« bot sogar wenige Tage nacheinander, am 31. Juli und am 02. August, Besprechungen an). Finde ich ja doll, dass es offensichtlich im deutschsprachigen Raum sowohl in den Redaktionen als auch in der LitKrit-Schreiberschar ’nen ganzen Haufen Pynchonpfadfinder zu geben scheint, die mit der Verbreitung ihrer (größtenteils) Fanboybegeisterung nicht abwarten können, bis das Teil übersetzt vorliegt (was, wie der Rowohlt-Verlag angekündigt hat, 2010 der Fall sein wird).

Hier eine kleine Rundschau zu den (in meinen Augen) gelungenen Berichten über den neuen Pynchon.

  • Thomas David merklich (und kenntnisreich) begeistert in der »FAZ«:
    Psychedelisch, dieser neue Roman von Thomas Pynchon, der kaum drei Jahre nach der Veröffentlichung von »Gegen den Tag« so unerwartet und schnell über uns kommt wie kein Buch von Pynchon zuvor und mit seinen nicht einmal vierhundert Seiten so viel Spaß macht wie ein fetter Joint. »Inherent Vice« ist Helter-Skelter; »Inherent Vice« ist Pynchons »Big Lebowski«, in dem Pynchons Dude, der Hippie Doc Sportello, im Los Angeles der späten sechziger Jahre den chandleresken Helden mimt.

    Den Vergleich mit dem Film »The Big Lebowski« bemühen einige Rezensenten und ich finde, nicht zu unrecht. Übrigens hat sich (ironisch wohlgemerkt) über Davids Joint-Vergleich das »Handelsblatt«-Blog »Indiskretion Ehrensache« ausgelassen, und ich konnte nicht anders als anzumerken:

    Wer Journalist werden will, sollte im Alter von (sagen wir mal grob) 18 bis 25 mal alles probiert haben (inklusive Maden Wunden reinigen lassen, Big Brother-gucken, Schuhe selber machen, Terroristen foltern, ein Einbaumboot schnitzen, Windeln wechseln, Haggis essen, versuchen eine 3-stimmige Fuge zu schreiben usw ect ff pp). Nur dann kann ein Journalist eben auch ordnetlich über die Welt schreiben, und sei es nur die Welt der Literatur.

  • Wieland Freund bietet erhellenden Überblick in der »Die Welt«:
    In Jahren fleißigen Forschens hat die Literaturwissenschaft herausgebracht, dass Pynchon ›Anti-Detektivromane‹ schreibe, jetzt kommt der Kerl auf einmal mit einem Krimi daher.
  • Christoph Huber feixt treffend über das Locker-Flockigie des Romanes in der »Die Presse«:
    Die manchmal himmelschreiende, manchmal hintersinnige, meist hochkomische Spielerei mit populären Genres dient Pynchon üblicherweise als Würze. Doch in »Inherent Vice« serviert der sonst so ambitionierte Schriftsteller den Krimi als Hauptgericht. Mit den Erwartungen der Leser und des Kulturbetriebs hat der Autor immer wieder gebrochen. Diesmal tut er es, indem er sich mehr oder weniger an die Regeln hält: ein ganz normaler Detektivroman – ätschbätsch, Exegeten! »Strandlektüre« ist weltweit das Schlüsselwort der ersten Kritiken.

Wobei ich zwei wichtige Einsprüch anbringen muss.

Okey, okey, verglichen mit dem ziemlich komplexen und nur unter Aufbringung erhöhter Aufmerksamkeitsleistung als unterhaltsam zu lesenden »Die Enden der Parabel« ist der neue Pynchon tatsächlich ein entspannt wegschlürfbarer Strandkorbroman. — Aber!: All die Eigenheiten, die »Inherent Vice« zu so einer erfreulich kurzweiligen und vergnüglichen Lektüre machen, finden sich zuhauf auch in den anderen Romanen von Pynchon: Trefflich geschilderte Milieu-, Orts-, und Tages-Stimmungen; durchgeknallte Typen die seltsame Macken haben und/oder verschrobenen Projekten und/oder Verschwörungstheorien anhängen; abgedrehte ›Set-Pieces‹ die für jeden trippigen Äktschnreisser eine wahre Zier wären; sowie Dialoge und Gedanken der Figuren, in denen dem Zeitgeist der Moderne pointenreich derart genau der Puls gefühlt wird, dass man von der Lektüre sensibilisiert das Hämmern der großen globalen Paranoiatrommel zu hören vermeint … und sich darüber auch noch amüsiert!

Zweitens ist dieser leicht zugängliche Kifferkomikkrimi mit all den typischen Pynchonideen und Themen und Argumenten gespickt, welche alle seine bisherigen Bücher auch prägen, und die sie in den Augen der begeisterten Leser zu überaus relevanten Kritiken unserer modernen Welt machen. Trotz all dem kunterbunten und wilden Durcheinander stimmt »Inherent Vice« ab und zu einen melancholischen Ton an. Immerhin ist in dem Los Angeles des Romans Roland Reagan gerade Gouverneur von Kalifornien, Richard ›Tricky Dick‹ Nixon Präsi und es gibt entsprechend genug finstere Machenschaften und bedenkliche Entwicklungen, die es zu kommentieren gilt. Vielleicht am deutlichsten birngt den nostalgischen Abgesang auf die Hippie-Zeit folgende Sequenz auf den Punkt:

Doc {…} caught in a late night bummer he couln’t find a way out, about how the Psycholdelic Sixties, this little paranthesis of light, might close after all, and all be lost, taken back into darkness … how a certain hand might reach terribly out of darkness and reclaim the time, easy as taking a joint from a doper and stupping it out for good.
Molos Schnellübersetzung: Doc {…} hing in einer spätnächtlichen Trübsalschleife aus der er nicht herausfand, in der er darüber sinnierte, das die Psychodelischen Sechsziger, dieses kurze Zwischenspiel des Lichts, trotz allem enden würde und dann alles verloren sei, in die Dunkelheit zurückfiele … wie aus der Dunkelheit eine gewisse Hand furchtbar ausgreifen würde um die Zeit zurückzuerobern, so einfach wie es ist einem Kiffer seinen Joint wegzunehmen und ihn ein für alle Mal auszudrücken.

Ergänzung: Einen superdollen Service bietet das amerikanische Magazin »Wired«. Die haben sich die Mühe gemacht und eine google-Map zu »Inherent Vice« erstellt: »The Unofficial Thomas Pynchon Guide to Los Angeles (ad vice versa)«.

Mehr Pynchon-Einräge in der Molochronnik:

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Thomas Pynchon: »Inherent Vice«; 68 Abschnitte in 21 Kapiteln auf 369 Seiten; The Penguin Press 2009 (gebunden); ISBN: 978-1-59420-224-7.

Thomas Pynchon: »Die Versteigerung von No. 49«, oder: Die Queste der Oedipa Maas

Eintrag No. 538 — Wie aufmerksame Molochronik-Leser wissen, bin ich zur Jahreswende 2007/2008 vom Pynchon-Fieber erfasst worden, weiland ich damals die englische Ausgabe von »Against the Day« (2006, Deutsch 2008 als »Gegen den Tag«) verschlang. Mittlerweile habe ich mir alle sechs Romane dieses erstaunlichen Schriftstellers zugelegt, sowohl auf Deutsch, als auch auf Englisch.

»Gegen den Tag« (= GDT) ist aufgrund seines Umfangs von über 1000 Seiten, der verwirrenden Figurenvielzahl und der thematischen Breite sicherlich nicht unbedingt der die beste Eintrittskarte zu Pynchon Prosawelten (auf den ersten Blick zumindest, denn bei mir hat das dicke Ding ja voll gezündet). Allerdings kann ich sagen, dass verglichen mit Pynchons bekanntesten, von mir erst etwa zu einem Drittel bewältigtem Werk »Gravity’s Rainbow« (1973, Deutsch 1981 als »Die Enden der Parabel«), GDT ein zwar langer, aber bequem zu absolvierender Spaziergang ist.

Nun aber zu meiner zweiten abgeschlossenen Pynchon-Lektüre, »The Crying of Lot 49« (1966, Deutsch 1973 als »Die Versteigerung von No. 49«). Der oftmals ausgesprochenen Empfehlung, dass dieser (zweite) Roman von Thomas Pynchon (1937) den bekömmlichsten Einstieg in sein Werk bietet, kann ich von meiner bisherigen Warte aus voll und ganz zustimmen. Hier lernt man auf kurzer Strecke in sechs Kapiteln bereits die wichtigsten Themen, atmosphärischen Facetten und erzählerischen Kniffe dieses Autors kennen.

Bei »The Crying of Lot 49« handelt es sich grob gesagt um eine Konspirations-Räuberpistole. Oedipa Maas, die Heldin des Mitte der 1960ger-Jahre angesiedelten Romans, erfährt nach dem Tod ihres Ex-Geliebten, dass sie von diesem steinreichen Immobilien- und Industrie-Mogul Pierce Inverarity zur Testamentsvollstreckerin bestimmt wurde. Um dieser angesichts des riesigen Vermögens ungeheuren Aufgabe gerecht zu werden, beginnt Oedipa eine Recherche-Rundreise durch Kalifornien und stößt dabei im Zusammengang mit einer Briefmarkensammlung aus dem Nachlass des Verstorbenen, auf die undurchschaubare Verschwörung eines Post-Untergrundnetzwerkes, des Tristero-Systems. Ihren Anfang nahm diese geheimnisumrankte Organisation irgendwann in den Wirren der europäischen Geschichte, als sich die Tristero-Intriganten dem Thurn & Taxis-Monopol der Briefzustellung entgegenstellten. Die Fährte dieses Ringens zwischen staatstragenden Kommunikations-Monopolisten und anarchistischen Tristero-Rebellen zieht sich durch die Jahrhunderte bis hin in Oedipas Lebenswelt. Einmal darauf aufmerksam geworden, entdeckt sie überall die geheimen Tristero-Zeichen, z.B. das Akronym W.A.S.T.E. auf als Mülleimern getarnten Tristero-Briefkästen, komische Schreibfehler auf Pots- Poststempeln, oder ein Symbol, das ein durch einen Dämpfer unnütz gemachtes Posthorn zeigt. — (Es besteht für mich kein Zweifel, dass Pynchons Charadenspiel-Thematik inspirativ auf nachfolgende Fiktionen wie die »Illuminatus!«-Trio (1975, Deutsch 1977) von R. A. Wilson & Robert Shea, oder Umberto Ecos »Das Fouccaultsche Pendel« (1988, Deutsch 1989) eingewirkt hat.)

Thomas PynchonOedipa versucht sich gegen Ende des Buches einen Überblick zu ihrem Dilemma zu verschaffen, und kommt auf folgende vier Möglichkeiten (S. 189 f; Zitatangaben nach der Deutschen Taschenbuchausgabe):

  1. … dass sie wirklich einen ›geheimen Schatz‹, ein…
    … Nachrichtennetz, über dessen Drähte eine ganz schöne Menge von Amerikanern aufrichtig miteinander kommuniziert, während sie ihre Lügen, ihr routinemäßiges Geschwätz {…} dem offiziellen Verteilersystem der Regierung anvertrauen …

    … entdeckt hat;

  2. … dass sie sich das nur einbildet;
  3. … dass sie auf einen elaborierten Komplott-Ulk ihres verstorbenen Liebhabers Pierce Inverarity hereingefallen ist, der Dank seiner weitreichenden Mittel in der Lage war, Spuren zu fälschen und Darsteller anzuweisen Oedipa etwas von der Tristero-Verschwörung vorzugaukeln;
  4. dass sich Oedipa diesen Komplott-Ulk nur einbildet

Die Auflösung werde ich hier natürlich nicht verraten und ich warne davor, im Netz danach zu suchen, denn das Vergnügen, welches die letzten Zeilen des Romanes bieten, ist zu köstlich, um es sich ver-spoilern zu lassen.

Lebhaft und abwechslungsreich gestaltet sich die Lektüre des Romans durch die Kombination von episodischen und verschachtelten Erzählens. Episodisch, weil wir Oedipa bei ihrer Queste begleiten (und das Buch bietet vergnügliche Auftritte von Durchgeknallten, Außenseitern und Exzentrikern); verschachtelt, weil immer wieder kürzere und längere Abzweigungen vom Hauptstrang genommen werden, z.B. wenn Abenteuerspielfilme des Kinderfernsehens, blutige jakobinische Theaterstücke parodiert, oder historische Ausflüge zur Tristero-Verschwörung dargeboten werden.

Sprachlich trumpft das Buch auf, indem es sowohl satirische Übertreibungskunst und slapstickhaftes Blöden meistert (z.B. wenn Oedipa sich mit dem Anwalt von Pierce Inverarity in einer zum Seitensprung ausartenden Motel-Nacht auf eine Partie Strip Botticelli einläßt und eine außer Kontrolle geratene Haarspraydose für totales Chaos sorgt), es auch vermag, die fragileren Tonlagen des Grübelns, Zweifelns und Sinn-Strebens der Heldin anzustimmen.

Gerade als Phantastik-Liebhaber bin ich hingerissen vom großen Geschick Pynchons für umfassende Metaphern, die sowohl blickerweiternd als auch desorientierend wirken, die offen und anknüpffreudig genug bleiben um mir als Leser Raum für eigene Deutungen zu gewähren, ohne dabei zu gängeln oder in die Beliebigkeit abzugleiten. Was kann und darf man sich mehr von einem kurzweilig zu lesenden Stück Literaur erwarten, wenn zugleich ernsthaft über die Herausforderungen des Lebens in der modernen Welt (oder des Mensch-Seins) erzählt werden soll?

Markant appeliert das Buch zu dieser Problematik dann an seine Leser, wenn eine Figur, der Bühnenkünstler Randolph Driblette, sagt (S. 85/86) …

{…} wer kümmert sich schon um Worte? Das sind nichts als Eselsbrücken {…} Die Wirklichkeit ist drin in diesem Kopf. In meinem. Ich bin der Projektor im Planetarium {…}

Groß war mein Vergnügen, als Kuppel für die Projektionen von Meister Pynchon zu dienen, dabei von ihm eingeladen und ermuntert zu werden, mein eigenes Licht leuchten zu lassen: innerhalb der kleinen sicheren Romanwelt von »Die Versteigerung von No. 49«, aber auch in der großen Welt der tatsächlich stattfindenden Kultur und Natur-Ereignisse.

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Thomas Pynchon: »The Crying of Lot 49« (1966), 127 Seiten in 6 Kapiteln, Taschenbuchedition mit exzellenter Umschlag-Zier von Yuko Kondo/Packo bei Vintage Books; ISBN: 978-0-099-53261-3.
Thomas Pynchon: »Die Versteigerung von No. 49« (dt.: 1973), Deutsch von Wulf Teichmann, 203 Seiten, Rowohlt Taschenbuch; ISBN: 978-3-499-13550-7.

Hal Duncan »The Book of All Hours 1: Vellum«, oder: Die Mythen-Jukebox voll aufgedreht

Für die Sammelrezi »Wonniglich verirrt im Labyrinth der Phantastik« in »Magira 2009« überarbeitet und erweitert worden.

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Hal DuncanEintrag No. 483 — Nicht vollends von der Hand zu weisen ist der Vorwurf, dass mit dem Schotten Hal Duncan (1971) ein junger Autor auf die Erzählbühne tritt, der sich geradezu versessen nach der ganz irre großen Bedeutung streckt und dabei die Gemütslaken von schamhafteren, zurückhaltenderen Lesern unflätig mit seinen Hirnwichsereien voll sudelt. Wer sich also nicht bekleckern lassen will, möge einen großen Bogen um »Vellum« machen. — Aber den Unentschlossenen und Neugierigen möchte ich folgendes zu bedenken geben (und die nach ästhetischen Exzessen Suchenden können’s als Empfehlung nehmen): stilistisches und ästhetisches Hirnwichsen ist eine sooo schändliche Sache nicht. Immerhin: wie soll und kann Literatur die Herausforderungen durch den Weltensturm an Verunsicherung, dem Scharaden- und Ränkespiel mit interessenstützender Großraumphantastik der Echtwelt begegnen, wenn nicht zum Beispiel mit einer schon ins Unanständige gesteigerten Fabulations- und Mythenmixmanie?

Worum geht’s? Tja, puh, äh, diese Frage überfordert mich ein wenig, denn eine Handlung im üblichen Sinne (eine Geschichte wird von A nach Z erzählt) aus dem heftigen Mythen-Shake und dem fortwährenden Randomwechsel der Zeiten- und Welten-Jukebox herauszulesen, ist nicht so einfach, oh nein. Auf jeden Fall aber kann ich sagen, dass mich der Stil und die in »Vellum« zusammengeschmissenen Themen überwiegend bezaubern. Vom Gebaren her kommt Hal Duncans Roman für mich daher, als ob ein zum rotzig-romantischen Goth-Punk mutiertes »Finnegans Wake«[01] sich ‘ne Acid-Pappe geschmissen hat, um anschließend mörderheftig im Darkroom mit Grant Morrisons Comichelden aus »The Invisibles«[02] zu knutschten, wovon es sich dann erholt, indem es abwechselnd beim Wasserpfeifenblubbern chillt bzw. zu lebhafter Musik abzappelt. — Mit typographischen Besonderheiten, mal links, mal mittig, mal rechts stehende Zwischenüberschriften, werden verschiedene Wirklichkeits-Verfassungen gekennzeichnet, ebenso wie mit dem Wechsel zwischen zwei verschiedenen Serif-Schriftgestaltungen des Fließtextes. In der zweiten Hälfte von »Vellum« kommt es anhand in einer beeindruckenden SF/Cyberpunk-Szenerie auch zu informationstechnologischen Spielereien, die mit kurzen sans serif-Einschüben darstellen, wie sich ein Schwarm mit künstlicher Intelligenz gesegneter Nanopartikel, so genannte Bitmites, durch die verschiedenen Schizoschichten einer Anarchoterroristenpsyche zu hacken versucht.

Los geht alles mit einer brennenden Welt-Karte. Vereinfachend gesagt prallen Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftswelten aufeinander im großen Kampf ums Dasein. Das zentrale Phantastikelement sind die ›Unkin‹, sprich: engel-/dämonenhafte Wesen die es druffhaben, mit dem ›Cant‹[03] die Wirklichkeit zu formen. Außerdem werden höllische Tattoo- und Blutmagie sowie himmlische Chakra-Wummen und KI-Nano-Schwärme eingesetzt. Auf der einen Seite steht die Herrschaft der Erzengel, das Imperium, die Faschos, die kapitalistischen Unterdrücker; auf der anderen Seite die rebellischen Dämonen, die Anarchisten und Freiheitskämpfer, die Arbeiterbewegung. Das Ganze wird recht ungestüm durch Zeiten und Welten springend erzählt, von Babylons Inanna-, und Griechenlands Prometheusmythos, über verschiedenste historische Konflikte (Erster Weltkrieg, Spanischer Bürgerkrieg, Irlandaufstand, Irakkrieg, Terrorismus in der nahen Zukunft) bis hin zu Andersweltgebieten, durch welche die Flüchtlinge eines die Wirklichkeit verschlingenden Sturms zigeunern. Verstrickt in diesen Himmel-, Fegefeuer- und Höllestrudel finden sich drei Studikumpels und ein Mädel und ihr überirdischer Sohn wieder, deren Wege sich quer durch die Dimensionen im so genannten ›Vellum‹ kreuzen. Das Vellum ist die Welt als Buch, GOttes ultimative Gebrauchsanleitung für die Realität, das alle wahren Namen enthält, mit denen sich der besagte ›Cant‹ zwecks Wirklichkeits-Kontrolle bewerkstelligen lässt. Dieses ›Ewige Stundenbuch‹ löst sich aufgrund der unerhörten Eingriffe und Trinkereien der Konfliktparteien auf, beziehungsweise verwandelt sich drastisch, dort wo die entsprechend bratzigen Engel und Dämonen durchlatschen und aufeinandertreffen. Nur hat noch keine der Figuren einen wirklichen Plan davon, was eigentlich los ist; sie irren durch die Vellum-Welt(en), umflirrt von Traumfetzenwirbeln, Erinnerungen und Visionen, unterwegs auf Expeditionen um die älteste Kultur der Menschheit zu finden, in Irrenhäusern darbend, in Schlachtfeldgräben kauernd, in Pubs mümmelnd und in Hotelzimmern grübelnd.

Zwei Dinge dünken mir bei »Vellum«, im Guten, bemerkenswert. Erstens der gewollt rand- und bandlose Umgang mit Genregrenzen, wenn mythische und utopische Register wechseln, wenn sich klar verortbare Genre-Stimmungen, wie beispielsweise Kriegs- und Spionageabenteuer, mit vom magischen Realismus bekannter doppelbödigen Stimmungspoesie verquickt. Da lässt sich nicht auseinanderklamüsern wie die mythische Archaik aufhört, in modernen Horror übergeht und die fetzige Cyperpunk-SF beginnt, denn gemäß der alles ihren Weltenbrandstrudel ziehenden Logik gemäß ist hier alles stets im Übergang und ein Vor- oder Nachecho seines gewandelten Selbst. Sprachlich versteht sich Duncan zuallermeist vorzüglich darauf, Punk-Jargon mit sakralem Mythenton zu kreuzen, zwischen legendengesättgtem Fantasygeraune und Science Fiction-typischen Gadgetsprech zu wechseln, auf abgefahrene Traumbildcharaden Schilderungen von realistischen Echtweltszenen folgen zu lassen. Zweitens, und das geht mit eben ausgeführten Stil- und Genremix prächtig Hand in Hand, beziehungsweise ist eine Folge davon, meistert Hal Duncan erzählend ein Desorientungshütchenspiel mit den fundamentalen Wirklichkeitskathegorien Ort, Zeit und Identität. »Nix ist fix« scheint das Buch mir als Leser einflüstern zu wollen, und nachdem ich mich damit abgefunden habe, dass Mich-treiben-lassen ohne Orientierung von diesem Durcheinander von mir gefordert wird, traten um so deutlicher die starken Gefühle der Figuren und die spezifischen Orts- und Zeitstimmungen (ob historisch oder andersweltlich) als eigentlich bestimmende Motive hervor. Da kommt dann unter anderem zur Sprache: Der Schmerz derer, die Verfolgung, Ausgrenzung und Folterung erleiden (oder zufügen), oder deren geistiger Halt durch den Verlust des/der Geliebten zerrissen wurde; der rebellische Trotz derer, die dem Schöpfer- und Ordnungszwang der selbstgerechten Positivisten ein trotziges Nein entgegenstellen; die schamgepeinigte Einsamkeit der Verräter und Feiglinge; das Erschrecken von Liebenden über die Mächtigkeit ihrer eigenen Leidenschaft.

Ich will nicht verhehlen, dass »Vellum« mir streckenweise auch gehörig auf die Nerven ging, vor allen mit seinen lyrisch-idyllischen Passagen, wenn wenig los ist, aber sich viel angeschmachtet oder weltschmerzlich gelitten wird, oder auch, wenn liturgisch-rituelle Partituren zu schematisch absolviert wird. Aber das ist nun mal der Preis, den man entrichten muss beim Lesen eines Buch, dass sich intensiv und mit zum Teil aktionsreicher Wonne auf alle möglichen Extreme einlässt, Orientierungs-Sicherheiten gewollt meidet, Grenzen zwischen Welten, Zeiten, zwischen Ich und Du, Innen und Außen mit Schmackes missachtet. Immerhin dauernd die Nervpassagen nie lange, da das Buch in hunderte kurze Tracks unterteilt ist. Anders gestimmte Leser werden vielleicht gerade die rrrromantischen Schmachtpassagen der in verschiedensten Weibchen/Männchen-, Männchen/Männchen-Kombinationen der Liebenden zu schätzen wissen, oder begeistert die formelhaften Schritte der Ereignis-Abfolge von altbekannten Mythen genießen (vor allem wenn man diese Mythen eben noch nicht durch das Selberlesen der klassischen Quellen kennt). — Leider habe ich den zweiten Band »Ink« nicht mehr rechtzeitig mit der gebotenen Sorgfalt zu Ende lesen können, um hier zu berichten, wohin die Reise mit Hal Duncans wildgewordener Mythen-Jukebox führt, und ob sich diese Reise letztendlich lohnt oder nicht. Nachdem ich aber bei »Vellum« die größere Mühe aufbringen musste, weil ich den Roman beim ersten Mal auf Englisch las, werde ich mich bei »Ink« (Deutsch »Signum«) zurücklehnen und gleich die höchster Bewunderung würdige Übertragung von Hannes Riffel genießen.

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ANMERKUNG:

[01] »Finnegans Wake« (1939) ist das letzte Werk des Erzexzentrikers James Joyce. Darin wird der Traum eines Kneipenbesitzers erzählt, und das ganze dicke Buch ist in einer viele Sprachen zusammenmischenden Brabbelsprache verfasst, die Figuren wechseln ihre Identität und Gestalt und entsprechend vieldeutig interpretierbar ist das Ganze. Eigentlich ist dieses Buch nicht ernsthaft lesbar, es sei denn, man trinkt vorher und dabei ordentlich und lässt sich das ganze von einer entsprechend angeschickerten Person vorlesen, die des mit irischem Dialekt gefärbten Englisch mächtig ist. — Der lockere Vergleich scheint mir zulässig, weil auch Duncan in »Vellum« mit der mehrsinnigen Vielstimmigkeit von Sprache hantiert. So lauten die Titel der beiden Großabschnitte des Buches »The Lost Deus of Sumer« (Die verlorenen Götter/Tage des Sommers/der Sumerer) und »Evenfall Leaves« (Fall der Herbstblätter / Abschied vom Ort Evenfall), und der Übersetzer Hannes Riffel hatte sich in seiner exzellenten Übertragung zu entscheiden und destillierte diese sprachliche Schlieren zu »Sommertage« und »Herbstdämmerung«. ••• Zurück
[01] »The Invisibles« (erschienen 1994 bis 2000) ist ein 59 Kapitel starkes Comic, das von Grant Morrisson geschrieben (bei uns wohl bekanntesten durch seinen Batman-Band mit Dave McKean: »Arkham Asylum«) und verschiedenen Künstlern gezeichnet wurde. Darin wird der Kampf einer Guerilla-Zelle des Invisible College gegen finstere Schreckensmächte geschildert. Die Invisibles gehen dabei mit Zeitreisen, verschiedensten Magietraditionen bis hin zu Meditation und Tantra, sowie Wummen, Bomben und Kampfsportkünsten gegen die überdimensionalen Archons vor, welche bereits weite Teile der Menschheit ohne deren Kenntnisnahme versklaven konnten. Verschwörungs-Popkultur, psycho-spekulative SF und moderne Szene-Esoterik finden sich hier zu einem verspielten und äktschenreichen Abenteuer zusammen. — Erscheint seit 2008 endlich auch auf Deutsch Panini DC/Vertigo. Bisher sind von den fünf geplanten Monstereditions-Bänden erschienen: Band 1 »Revolution gefällig«; Band 2 »Ordnung und Entropie«. ••• Zurück
[03] Ein Wort, das im Englischen irgendwo im durch die Begriffe ›Fachsprache‹, ›Gaunersprache‹ und ›Frömmelei‹ umzirkelten Bedeutungsfeld herumschwirrt; zudem klingt deutlich das Lateinische ›Cantus‹, für ›Gesang‹, ›Melodie‹, an. ••• Zurück

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Hal Duncan: »The Book of All Hours 1 – Vellum«; 238 Abschnitte in 17 Kapiteln zu zwei Teilen auf 499 Seiten; Taschenbuch bei Pan Macmillan, 2005; ISBN: 0-330-44433-6
Hal Duncan: »Das Ewige Stundenbuch 1 – Vellum«; aus dem Englischen von Hannes Riffel; 594 Seiten; gebunden mit Schutzumschlag bei Shayol / Golkonda, 2007; ISBN: 978-3-926126-72-6
Taschenbuch bei Heyne, 2008: ISBN: 978-3-453-52254-1
Hal Duncan: »Das Ewige Stundenbuch 2 – Signum«; aus dem Englischen von Hannes Riffel; 648 Seiten; gebunden mit Schutzumschlag bei Golkonda, 2010; ISBN: 978-3-942396-00-4

Gilbert Keith Chesterton: »Apollos Auge«

DRITTE FOLGE VON MOLOS WANDERUNGEN DURCH »Bibliothek von Babel«-Banner, klein. DER BÜCHERGILDE GUTENBERG

Eintrag No. 412 — Es freut mich, in dieser dritten Folge meiner Empfehlungen der von Jorge Luis Borges zusammengestellten »Bibliothek von Babel« nun einen Autoren vorstellen zu können, der sich wie wenige andere ästhetische Denktäter dazu eignet Brücken zu bauen und Denkschranken einzureißen. Aus der Leseecke aus der ich komme, dem Schmuddelkinderwinkel der Comic- und Phantastik-Narren, ist Gilbert Keith Chesterton (1874-1936) zuvörderst bekannt als einer der großen englischen Witzereisser und Kapriolenkapazunder, der sich mit jungenhafter Unbekümmertheit über so ziemlich alles hinwegsetzt, wenn dabei nur eine geistreiche Pointe rumkommt.

Hier geht es zu den Folgen eins (über den Borges-Band »25. August 1983«) und zwei (über den Dunsany-Band »Das Land des Yann«). Hier nun meine geschwätzige Abschweifung dazu…

AUF IN'S REICH VON PRINZ PARADOX‹

Zum ersten Mal bin ich Chesterton vor etwa 17 Jahren dank Neil Gaimans beeindruckenden, zehnteiligen Comicromans »The Sandman« begegnet. 1990 habe ich mir den zweiten Sammelband »Das Puppenhaus« (The Doll's House) dieser facettenreichen Saga über Morpheus, den Herrscher der Träume zugelegt. Darin wird erzählt, wie Morpheus vier mächtige Einwohner seines Reiches bändigt, die aus den Traumlanden ausgebüchst sind. Einer dieser vier Davongelaufenen ist allerdings kein Wesen, sondern ein Ort, genauer: das aus irischem Seemannsgarn bekannte ›Fiddlers Green‹ (wo fortwährend Fröhlichkeit herrscht, die Fidel nie verstummt und die Tänzer nicht müde werden). Dieses idyllische Traumgefilde hat sich in die irdische Sphäre begeben, um eine eng mit dem Schicksal des Traumreiches verbandelte Familie zu beschützen, und dazu hat Fiddlers Green, sich Gilbert nennend, eben das körperliche Aussehen und Gebahren von Chesterton entliehen. Eine wundervolle Hommage von Comicmeister Gaiman und als jemand, der gern mal solch einem Fingerzeig folgt, hab ich damals so Chesterton für mich entdeckt.

Als Spontispruch-Opa ist Chesterton zwar nicht so ehrwürdig antik wie Heraklid, aber dafür gibts von ihm auch mehr, als nur ein paar raunende Fragmente. Als kalauernder Phantast kann er dem munteren Ideenanachismus der Marx Brothers das Wasser reichen, wenn auch um den Preis der ein oder anderen treugläubigen Naivität. Und als Gattungsspringinsfeld versteht er es, seine Leser mit einen bunten Strauß verschiedenster Textsorten zu erfreuen, mal mit Kriminalgeschichten, mal mit Essays und Sachbüchern, mal mit Gedichten und Dramen und schließlich, last but not least, eben auch mit hirneschleuderner Phantastik.

Die vielleicht schwindelerregenste Akkrobatenleistung der letztgenannten Spielart von Chestertons freiem Geist, »Der Mann der Donnerstag war«, habe ich 2003 glühend empfohlen, und vor kurzem konnte ich zu meiner großen Freude jene Rezi zu diesem allerzeit hochaktuellen Metaphysik-Spionage-Alptraum um Verehrermeldungen u.a. des von mir hochverehrten Daniel Kehlmann ergänzen. Es ist schon erstaunlich, daß mit Chesterton (wiedermal) ein lohnender und einflußreicher Klassiker englischer Fabulierinbrunst bei uns kaum mehr als eine Fußnote für Außenseiter ist. Dabei gehört zu diesen Chesterton-begeisterten Außenseiten auch der mittlerweile durch den Büchnerpreis nobilitierte Martin Moosebach, der Keith Gilbert trefflich charakterisiert als ›Seehund, der es im Spiel seiner unerschöpflichen Begabung mit niemals ausgehender Lust genoß, sich von einem Felsen ins schäumende Wasser zu werfen.‹[01]

Grad faselte ich schon von Spontis. Da kann ich nachreichen, wie einer der streitbarsten und originellsten anarcho-katholischen Querulanten der deutschen bayerischen Nachkriegszeit, Carl Amery, Meister Chesterton als Ahnherren aller Unangepassten lobt:[02]

Vor einigen Jahren bereiste ich im Auftrag einer Rundfunkstation die britische Alternativszene, die damals der deutschen noch weit voraus war. {…} Wir unterhielten uns über den historischen Platz der grün-alternativen Bewegung, über mögliche Traditionen, über den romantischen Protest als legitime Ausdrucksform der gesellschaftlichen Kritik. Und wir suchten einen möglichen Ahnen. »Chesterton!«, sagten wir fast gleichzeitig. {…} Im Deutschland der Zwanzigerjahre wurde Chesterton hauptsächlich von einem katholischen Publikum gelesen, das in der neuromatischen Tradition des Renoveau Catholique und der deutschen Jugendbewegung stand. Chesterton wurde folgerichtig als eine Art katholisch-römischer Märchenonkel gelesen. Wie schon aus der eingangs erwähnten Renaissance unserer Autors in den Kreisen der Alternativbewegung hervorgeht, ist eine solche Einschätzung nicht mehr zu halten.

»APOLLOS AUGE«

Wie jeder Band der »Bibliothek von Babel«-Anthologie, eröffnet ein Vorwort von Jorge Luis Borges mit der für ihn typischen Mischung aus Konzentriertheit und Spielerei die Auswahl. Borges klärt uns darüber auf, daß Chesterton ursprünglich die Malerei zu seiner Profession machen wollte, und liefert folgenden Beispielreigen um Chestertons überaus visuelles Metapherntalent vorzuführen:[03]

So vergleicht er die Gewächse eines Gartens mit angeketten Tieren, den Marmor mit erstarrtem Mondlicht, das Gold mit zu Eis gewordener Flamme und die Nacht mit einer Wolke, die größer ist als die Welt, ein Ungeheuer, das aus Augen besteht.

Gemäß dem Gefühl von Borges ist »Die drei Reiter der Apokalypse«[04] die beste Kurzgeschichte Chestertons. Hier belauschen wir die gemütliche Herrenklubrunde von Mr. Pond, der seinen Kumpels zur Kurzweil von einem haarsträubend vetrackten Befehlsgeknäul der preussischen Arme während des ersten Weltkrieges berichtet. Es geht um den polnischen Dichter-Patriot Paul Petrowski, der in preussischer Haft darbt und das Hin- und Her dazu, ob er begnadigt oder erschossen werden soll. Die Rätsel-Nuß geht so (S. 17):

»Die ganze Sache ging schief, weil die Disziplin zu gut war. Grocks {Oberbefehlshaber der Preussen bei der Belagerung von Posen} Soldaten gehrochten ihm zu gut, so daß er einfach nicht machen konnte, was er wollte.«

Als vergnügliches und enorm stimmungsreiches Lehrstück über Befehlsketten-Knieschüsse kommt dieses Soldatendurcheinander daher, komplett mit Schlachtfeld-Schwärmerei für ritterliche Hussaren und Schelte für atheistische Nihilisten. Für hiesige Leser ist hierbei insbesondere reizvoll, wie der Engländer Chesterton mittells der verschiedenen vorgeführten Preussen hier darüber reflektiert, wie kalte Effizienz sich durch Stress & Hektik selbst zu Fall bringen kann.

Die vier restlichen Geschichten hat Borges aus dem Fundus der etwa 52 Pater Brown-Geschichten ausgewählt.[05] Hier wird freilich die Toleranz der Phantastikgenre-Grenzwächter strapaziert, handelt sich sich doch strengstgenommen nicht um Phantastik-Fiktionen, in denen Fabelwesen sich die Klinge in die Hand drücken, oder tatsächlich übernatürliche Magie am Werke ist. Die Kriminalstücke mit dem spitzbübischen katholischen Pfarrer aber feiern die Verwirrung stocksteifer Nüchternheit durch (scheinbar) übernatürliche Rästel. — Hier kann ich nun nicht anders und muß ein klein wenig raunzen: Die Art und Weise wie Chesterton Pater Brown als neunmalklugen Menschendurchschauer inszeniert ist für mich als religionskritischer Bright stellenweise schon enervierend. Religiöse geraten darob sicher weniger ins bittere denn heitere Kirchern[06], aber Nichtgläubigen sei dennoch empfohlen, bei solchen Propaganda-Huppeln ruhig Blut zu bewahren und trotz dieser Eigentümlichkeit den Hütchenspieler-Witz Chestertons mit nachsichtiger Neugier zu verköstigen.[07] Schließlich kann auch ein Bright durch G.K.Cs exemplarisches »Crea quia absurdum«-Gentänzel etwas lernen.

Ein ›Erzengel der Unverschämtheit‹ sorgt für »Die seltsamen Schritte«[08] beim jählichen Festmahl des oligarisch-snobistischen Klubs der ›Zwölf wahren Fischer‹ im exklusiven Edelrestaurant des Hotels Vernon. Zum einen begeistert mich hier Chestertons anklagende Analyse der Dünkel reicher Gesellen, wenn er deren eigentümliche Scham beschreibt (S. 62 und 63):

»{…} jene Mischung aus moderner Gefühlsduselei und dem schrecklichen, modernen Abgrund zwischen den Seelen der Reichen und denen der Armen. {…} Sie {die Reichen} wollten nicht brutal sein, aber sie schreckten davor zurück, gütig sein zu müssen.«

Zum zweiten liefert diese Geschichte ihrem Titel folgend (sozusagen) akkustische Phantastik, wenn der mit analytischer Vorstellungskraft gesegnete Pater Brown Klangereignisse erfolgreich zu deuten versteht.

Mit ihrer berauschenden Sinnlichkeit entzückt »Die Ehre des Israel Gow«[09], wenn Pater Brown und seine Freunde in einem düsteren schottischen Tal weilen, um die Rästel von Tod und Testament des letzten Lord Glengyle zu ergründen. Da raunt einem geballt die Athmo düsterer Wälder, heruntergeommener Burgen, irrsinniger Lords und ihrer Gärtner und heidnischer Traurigkeit an, wenn Brown und seine Helfer bei schlechtem Wetter Gräber ausheben und Burg-Inventar begutachten.

In »Apollos Auge«[10] läßt Chesterton seinen kecken Spott weiblicher Technikbegeisterung und esoterischer Sonnenpriester-Scharlatanerie angedeihen. Spätestens mit dieser dritten Geschichte dürfte den Lesern dämmern, daß G.K.C zwar über die tatsächlichen Wirrnisse menschlicher Herzen, Reden und Taten schreibt, sich dazu aber überzeichneter Karikaturen in Kasperltheatermanier statt plausibler Personen bedient. Ein funkelndes Gemmen-Beispiel für Chestertons verbale Comiczeichnerei bietet diese knappe Beschreibung des übermenschenaffinien Apollokirchen-Priesters Kalon und seines raumfüllenden Charismas (S. 121):

»Seine {Kalons} von der Robe umwallte Figur schien den ganzen Raum mit klassischem Faltenwurf zu tapezieren; seine epischen Gesten schienen ihm größere Ausdehnung zu verleiehen, bis die kleine, schwarze Gestalt des modernen Priesters völlig Fehl am Platze schien, ein runder, schwarzer Fleck auf hellenischer Pracht.«

Auch in der letzte Geschichte des Bandes, »Das Duell des Dr. Hirsch«[11] dribbelt der allerweil verschmitzte Pater Brown mit seinem vernünftigen Irrationalismus die phantasielose Rationalität seiner atheistischen Begleiter aus, als es gilt, das Geheimnis staatsgefährdener Spionagemacheleukes zu entzaubern. Aber auch hier, diesmal durch einen Verweis auf den empörenden Dreyfus-Skandal des Jahres 1894, versteht es Chesterton trotz allen Firlefanzes dem Leser Erhellendes über realweltliche Probleme angewandter Infowar-Taktik zu vermitteln.

Statt eines Resummees bitte ich für das Schlußwort ehrfürchtig einen der deutschen Urblogger aufs MoloPodium: Kurt Tuchsolsky[12], der einige Male mit Fanboy-Begeisterung von seinen Chesterton-Lektüreerlebnissen berichtet hat.

Er hat soviel Fett wie Humor. {…} Es wäre hübsch, wenn sich recht viele Deutsche an dieser blitzenden Weisheit eines Krämergeistes jenseits des Kanals erfreuten. Wir habens nötig.

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LINK-SERVICE

  • ›Cronn‹ für »Roter Dorn«:
    Chestertons Stil ist leichtfüßig und dabei dennoch nicht niveaulos. {…}
  • Oliver Kotowski für »Fantasyguide«:
    Die Kurzgeschichten dieser Sammlung sind zwar weniger phantastisch, denn ungewöhnlich, aber dennoch immer überraschend und humorvoll. Wer Club Stories und Tall Tales mag, wird hier voll auf seine Kosten kommen.
  • Thomas Harbach für »SF-Radio«:
    Was die Kurzgeschichte (Drei Reiter der Apokalypse) allerdings zu einem Lesevergnügen erster Güte macht, sind die vielen auch in der deutschen Übersetzung gelungenen Wortspiele, die auch die Phantasie des Lesers zu beschäftigen wissen. {…} Die Geschichten überraschen durch eine überraschende Themenvielfalt {…} Sie sind intelligent konstruiert, auch wenn sie manchmal das Verbrechen nur als unbedeutenden Aufhänger für theologische Diskussionen nutzen.
  • Als immer schon überzeugter Freund der Phantastik gerade ich fast in Versuchung (obwohl ich jünger bin), Burkhard Müllers Frohlocken für die »Süddeutsche Zeitung« mit sowas wie onkelhaftem Amusement zur Kenntnis zu nehmen, wenn er jauchzt:
    Das ist nicht nur von Anfang an fesselnd, das ist auch noch Literatur!

    und kann seinem Resummee ganzen Herzens zustimmen, wenn er schreibt:

    {»Apollos Auge«} ist ein Buch zum Mitgruseln, Mitträumen, besonders aber zum Mitdenken.

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ANMERKUNGEN:

[01] Paraphrase von mir auf Moosebachs Vorwort zu »Orthodoxie« (1908), Eichborn/Die Andere Bibliothek Band 187 (2000), Seitze 13. ••• Zurück
[02] Nachwort zu »Der Held von Notting Hill«, Kerle Verlag 1981, Seite 245. ••• Zurück
[03] Vorwort, Seite 9. ••• Zurück
[04] »Die drei Reiter der Apokalypse« (The three Horsemen of Apokalypse), aus: »The Paradoxes of Mr Pond«, 1937. ••• Zurück
[05] Im Nachlass von G.K.C. fand man noch eine Handvoll Pater Brown-Stories. ••• Zurück
[06] Entsprechend lobtpreist der evangelistische US-Autor Philip Yancy in seinem Nachwort für »Orthodoxie« G.K.C. folgendermaßen:
»Sooft ich spüre, daß mein Glaube wieder einmal zu verdorren droht, wandere ich zum Buchregal und nehme ein Buch von G.K. Chesterton heraus, und das Abenteuer beginnt von vorne.«

(Eichborn/Die Andere Bibliothek 2000), Seite 304. ••• Zurück

[07] Alberto Manuel plaudert in seinem Essay »Chesterton beim Wort genommen« anregend über das Leben, sowie die Schatten- und Lichtschimmer im Werk von G.K.C in »Im Spiegelreich« (Into to Looking Glass Wood, 1998), Verlag Volk & Welt 1999, Seite 271ff. ••• Zurück
[08] »Die seltsamen Schritte« (The queer Feet), aus: »The Innocence of Father Brown«, 1911. ••• Zurück
[09] »Die Ehre des Israel Gow« (The Honour of Israel Gow), aus: »The Innocence of Father Brown«, 1911. ••• Zurück
[10] »Apollos Auge« (The Eye of Apollo), aus: »The Innocence of Father Brown«, 1911. ••• Zurück
[11] »Das Duell des Dr. Hirsch« (The Duel of Dr. Hirsch), aus: »The Wisdom of Father Brown«, 1914. ••• Zurück
[12] Aus dem Text »Feuerwerk« über den Chesterton-Essayband »Verteidigung des Unsinns, der Demut, des Schundromans und anderer mißachteter Dinge«, in »Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke, Bd 2, 1919-1920«, Rowohlt 1975, S 167f. ••• Zurück

Sid Jacobson und Ernie Colón: »The 9/11 Report« — Das Comic

Eintrag No. 382 — Verwirrung erstmal. Zuviel Ungeheuerliches ist auf einmal geschehen. Wie der Fuß eines Riesen stampfte das ›Schicksal‹ einmal in den USAmeisenhaufen. Wie immer, wenn z.B. Präsidenten erschossen wurden, Schiffe sanken, Atomkraftwerke hochgingen, Raumfähren explodierten, Sekten in U-Bahnen die Apokalypse einläuten wollten oder Einzelgänger im Amokrausch einen Haufen Mitmenschen killten, sicher ist: Jedes spektakuläre Unglück zieht investigative Anstrengungen nach sich. Die Betroffenen und Hinterbliebenen möchten verzeifelt verstehen: »Wie es dazu/soweit kommen konnte?«.

Wie wohl so manch anderer auch, habe ich noch einen Stapel Berichte, kopierte Zeitungsartikel und Sonderausgaben verschiedener Magazine über IX.XI angesammelt. Da kommt mir nun dieses Sachcomic, das auf dem gleichnamigen, sehr dicken Report der 9/11-Untersuchungskommission beruht, gerade recht.

Immerhin führt gleich der Beginn eindringlich vor, welche großartigen Darstellungsmöglichkeiten die graphische Erzählform bietet. Statt die Unglückschronologie der vier entführten Flugzeuge nacheinander aufzubereiten, stellt das Comic auf den etwa ersten 30 Seiten in vier waagrechten Schichten die zeitliche Folge der Ereignisse gleichzeitig dar. Der Umstand, daß das letzte der vier Flugzeuge noch gar nicht gestartet war, als der erste Flieger in den Nordturm des World Trade Centers einschlug, wirkt auf diese Weise besonders verstörend.

An besagten September-Dienstag vor sechs Jahren kramte ich doch mal wieder (nach einigen Monaten der Vernachlässigung) damalige Kladde heraus und schrieb:

11. September 2001: Anschlag auf USA. Nicht überrascht. Habe ein solches mit dem zunehmenden Chaos seit Regierungsantritt von Bush jr. mehr oder minder erwartet. Inzwischen, nach 6 St. Infosucking breche ich (emotional & konzentrationsmäßig) a weng zusammen. Dies ist für die Meisten wohl der Beginn eines neuen Zeitalters. Die ›Moderne‹ ist vorbei, wobei die Chance ist, daß Amerika (und der Westen) zum Erwachsensein und Beenden ihrer Heuchelei ›geprügelt‹ werden. In SF-Welten wird manchmal etwas vorgestellt, daß im frühen 21. Jhd. anhebt: The New Dark Ages.

Auch heute noch empfinde ich die IX.XI.-Anschläg auf World Trade Center, Pentagon und Weißes Haus größtenteils als etwas Beruhigendes, Klärendes. Die Welt hat sich mal unumwunden als das entblößt, wofür ich sie (kleiner Katasthophikus der ich bin) schon lange halte; als chaotisches Jammer- und Jubeltal, als Arena der Rangelein um Verwöhnungsresourcen aller Parteien die auf dicke Hose machen. Jedes Kollektiv will halt erstmal für sich und seine Leute ein schickes Paradies abgrenzen. Zugegeben: seit den Anschlägen wurde deutlich, wie sehr ›dem Westen‹ — sprich: den Ex-Kolonialmächten der Globalierungstäter — das von ihren Aufbruchsdynamiken verursachte Ungleichgewicht und Elend der Globalisierungsopfer Wurscht war.

New York ist also entsetzt, die westliche Welt fällt auch allen Wolken vor geschockter Verdutztheit; im Orient aber werfen viele begeistert und freudig die Arme in die Höhe und heben zu gern den Aktions- und Konzeptkünstler Bin Laden als Robin Hood unserer Tag auf den Schild. »Kampf der Kulturen« nennen das dann jene, die beim Interpretieren von Politik und Geschichte über (zivilisierte) Cowboys und (bestialische) Indianer nicht hinauskommen. Groß ist die Verführung, den Hexenkessel der menschlichen Konflikte auf das Niveau eines Schachspiels zwischen zwei Parteien zu versimpeln.

Kein anderes Land der westlichen Moderne versteht es so glänzend wie die USA, seine Wahloligarchie (vulgo: Demokratie) zugleich sakral und pragmatisch zu inszenieren. Das Sakrale liefert dabei den Drive und die Aura für das mediale Auftreten, als erwählte Nation, als Heim der Mutigen, als Gottes ureigenes Land. Dass dieses gelobte Land dabei zutiefst durch die Offenbahrungswahrheiten fundamentalistischer Evangelikaler und die Chauvenismen z.B. der WASP-Minderheit pervertiert wurde, wird mittlerweile auch von den US-Amerikanern selbst kritisch verhandelt. Da kamen Topf und passender Deckel zusammen, als selbsternennte Heilige Krieger im Namen eines anderen montheistischen Obermännchens ein buchstäbliches Mordsecho als Erwiderung auf diese Machtarroganz verlauten ließen.

Mittlerweile sprechen ja die US-Amerikaner selbst über die auffälligen Ungerechtigkeiten ihres mehr oder minder unverhüllten Feudalismus, der krassen asymmetrischen Macht- und Wohlstandshierarchie, die die ganze westliche Welt mehr oder weniger prägt (und ja: auch ich halte diese westliche Schieflage noch immer für ›besser‹, als die traditionellen, vormodernen Stammesformate der Zweit- und Drittwelt-Gesellschaften).

Von all dem ist in der Comic-Adaption nicht ausdrücklich die Rede, bildet aber für mich den Hintergrund, vor dem die Anstrengung des Verstehens sich lohnend lesen lassen. Zu komplex und undurchschaubar ist das ganze Geflecht aus Politik und Medialität.

Was das Comic aber schön herausgarbeitet, ist die seltsame Untätigkeit und ›Selbst im Weg Steherei‹ der Geheimdienste und Sicherheitsinstitutionen vor und während der Anschläge. Dass sich in den radikalisierten Kreisen des mittleren Ostens etwas zusammenbraut zeichnete sich lange vor IX.XI ab, wie der Kommissionsbericht rügt. Man hätte schon zu Clintons Zeit etwas unternehmen können. Was nicht im Comic steht abr für mich ebenfals zum wichtigen Hintergrund gehört, ist die peinliche Tatsache, daß die amerikanische-westliche Öffentlichkeit u.a. mit hysterischen Voyeurismus lieber der Ausbreitung der intimen Fehltritte ihres Präsis Clinton Aufmerksamkeit schenkte; auch das Pahö um den Hickhack der gefinkelte Wahlen und des umstrittenen Sieges der Bush jr.-Regierung trug nicht dazu bei, daß Amerika und der Westen aus ihrer notorischen Baunabelpuhlerei bei Zeiten heraufand. So schlug dann scheinbar völlig aus dem Nichts kommend überraschend die Große Geschichte vier Mal auf die größte Bushtrommel der Welt.

Ich will die Comic-Adaption nicht als Poragandawerk abtun, auch wenn ich ab und an genau diesen Eindruck bei der Lekütre hatte. Jedoch: Die ehrliche Anstrengung der Kommission, die eigenen Versäumnisse zu ergründen erscheint mir zutiefst aufrichtig. Mir, als ›kritischen Europäer‹, ist aber dennoch mulmig. Zwar finden sich viele der sprechensten Ikonographien die seit 9/11 in den Bildermythos des Informationszeitalters eingingen im Comic wieder. Es fehlt aber z.B. das dumme Geschau von Bush jr. bei seinem Besuch einer Grundschule, als ihm die Meldung vom Anschlag in New York zugeflüstert wurde; es fehlen die schrillen Töne von Bush jr., als er sich verbal auf die Brust trommelte:

»We will hunt them down and smoke them out« (»Wir werden sie {die Terroristen und ihre Hinterleute} zur Strecke bringen und ausräuchern«).

Später im Comic, bei den zwei Seiten über den Vergeltungkrieg der Amerikaner gegen das Talibanregime in Afghanistan lese ich zwar, daß diese Aktion von »Symphatiebekundungen für die USA« begleitet wurden. Kein Wort aber über jubelnde Sympathisanten der Anschläge, kein Wort über die politischen Einsprüche der westlichen Nationen und der bis heute anhaltenden weltpolitischen Verstimmungen (»Old Europe«), die der Krieg gegen den Terrormismus zeitigte.

Gerechterweise aber kann ich die Adaption loben, wenn es darum geht, wie nüchtern und dennoch ergreifend die Anschläge als schockierendes Unglück darstellt werden. So sehr man die US-amerikanische Hegemonialpolitik, dieses breitbeinige Gebahren als Möchtegern-Rom verachtet, die Erschütterung und Verunsicherung der amerikanischen Seele welche die Terroranschläge bewirkten, kommt glaubwürdig rüber. Sind halt auch nur Menschen, die Amis.

Das beginnt schon beim Umschlag: ganz unten ein Panoramabild der Manhattenskyline mit WTC und einem nahenden Flieger; darüber das monströse Räucherwerk der brennenden Türme; und darüber ein Feuerwehrmann, der aus Fassungslosigkeit sein Gesicht mit der Hand bedeckt.

Die unheimlichste Passage aber ist für mich als Maximalphantast der Ausklang des Buches, wenn die 9/11-Kommission Überlegungen anstellt, welche Lehre man aus dem Unglück ziehen kann, was man in Zukunft besser machen kann. Neunzehn Terroristen waren in der Lage, der letzten Supermacht deshalb gehörig ins Gemüth treten, weil die entsprechenden Organe der Supermacht zu wenig Phantasie zeigten. Es ist mehr als bittere Ironie, daß die Wohlstandszonen bis heute von paranoiden Zuckungen und Verschörungshysterien gelähmt werden.

(Das markanteste Beispiel, daß Fabulatoren der Unterhaltungsindustrie diesbezüglich den strategischen Analysten und Planern aus Politik und Armee ›überlegen‹ sind: ein halbes vor dem 11. September bot der Pilotfilm des »Akte X«-Ablegers »The Lone Gunmen« genau den Terroranschlag-Plot, nur mit der Wendung, daß es finstere Klüngler des militärisch-industriellen Komplexes der USA sind, die mittels Fernsteuerung ein Flugzeuganschlag auf das WTC durchführen wollen, um sich ein sattes Budget zu sichern.)

Im 9/11-Report und seiner Comicumsetzung heißt es entsprechend mahnend:

»Es muß eine Möglichkeit gefunden werden, wie Fantasie auch von Amts wegen routinemäßig eingesetzt werden kann.«

Man kann das von Donald Rummsfeld ins Leben gerufene ›Des-Informationskader‹ als eine Anstrengung dieser Routinisierung von Phantasie im War on Terror, im Rennen um das 21. Jahrhundert, im Dominanzgerangel des Informationszeitalters mit seinem Kampf um die besten Köpfe usw. sehen. Und dies ist vielleicht der unheimlichste Eindruck, den dieses spannend zu lesende Sach-Comic bei mir hinterlassen hat.

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Link-Service: Hier zu einer kleinen Sammlung Quicktime-Filmchens bei Bookwarp mit Selbstauskunft der Comicmacher Jacobson und Colón über ihre Adaption.

Der ›Erfinder‹ des Totenkopfsees hat den Planeten verlassen

Eintrag No. 325 — Robert Anton Wilson ist am 11. Januar mit 75 Jahren gestorben. Die Meldung erreichte ich via Volltext-Newsletter erst Anfang dieser Woche. Der Co-Autor der berüchtigten »Illuminatus!«-Trio und markanter Pionier der ›Sex, Drugs & Rock'n Roll‹-Phantasik der Siebziger ist (zumindest für mich) einer der schillernsten Autoren des Informationszeitalters.

Okey, es ist nicht ganz leicht sich Wilsons Werk zu nähern. Zuviel Deviantes, zuviel mittlerweile als haarsträubend geltende Alternativ- und Subkultur-Wüstheit macht seine Bücher zu einem verwirrenden Labyrinth.

Gottseidank aber war Wilson kein köchern-ernster Kerl und so wurde die flirrende Buntheit und Schrillheit vieler Aspekte seiner Bücher durch seinen anachristischen Humor ausgeglichen. Er ist ein Vorbild der These, dass man ruhig alle noch so durchgeknallten Ideen auf den Tisch legen kann, wenn man sich selbst nicht allzu ernst nimmt.

Herausragend finde ich, dass Wilson in seinen Büchern nicht nur ›aufregende‹ Ideen zuhauf unterbrachte, sondern daß er einer der vielseitigsten Formen-Spieler der phantastischen Literatur war (wenn man mal seine Sachbücher hintanstellt, weil deren Thesen eben zu ›abgefahren‹ für einen gepflegten Diskurs sind).

Hier zwei Feuillitonmeldung zum Tod von R.A. Wilson (soll keiner sagen, daß der deutsche Blätterwald die Genre-Phantastik völlig ignoriert):

  • »Wie die Welt wohl zu retten wäre«: Brigitte Heberling für die »Berliner Zeitung« — Schöne Stellen:
    Von Anfang an liebte ihn die intelligente, wenig sportliche, überwiegend männliche Jugend: die Nerds, die Garagenbastler, diejenigen, die uns Microsoft und Apple brachten und heute die Welt retten wollen. Und wie viel Anteil daran trägt wohl Wilson? {…} Wilson hat die Gründung von mindestens zwei Sekten inspiriert, man hat ihn den James Joyce der Kinderschaukel-Bauanleitung und den Arnold Schwarzenegger des Feminismus genannt, auf seiner Website ruft er in einem letzten Eintrag dazu auf, Kriege abzuschaffen und an ihre Stelle "selektive Attentate" zu setzen. "Mir fällt es schwer, irgendetwas noch ernst zu nehmen", so Wilson über die Folgen von Alter und Krankheit.
  • »›Illuminatus!‹-Autor Robert Anton Wilson gestorben«: Holger Kreitling für »Die Welt« — Schöne Stellen:
    Die Stadt Ingolstadt verdankt ihren Ruhm in der Weltliteratur eindeutig dem amerikanischen Autor Robert Anton Wilson. Es ist allerdings ein in mehrfacher Hinsicht zweifelhafter Ruhm. {…} Und Ingoldstadt? Nun, Adam Weishaupt, Gründer der bayerischen Illuminaten, stammte tatsächlich von da. Am Ende des Romans findet ein riesiges Woodstock-Festival am Ufer des nahe Ingolstadt gelegenen Sees statt, und aus der Tiefe des Wassers kommt ein Bataillon todeswütiger Nazis herauf, die dort Winterschlaf gehalten hatten.
  • Wer neugierig ist, kann sich in dem ordentlichen Wikipedia-Eintrag zur »Illuminatus!«-Trio informieren (sei aber gewarnt, daß es dort viele Spoiler gibt).

Und hier noch ein Bildchen der (im Vergleich zu den Vorgängerauflagen) wunderfeinen neuen Taschenbuchausgabe bei Rowohlt.

Und hier noch ein paar nette Zitate aus dem ersten Band, die gleichzeitig schön ›Selbstbezüglichkeit in der Literatur‹ illustrieren (ich hab die alten Ausgaben von Rowohlt; entsprechend stimmt Seitenangabe der Zitate wohl für die neuen Ausgaben nicht):

  • Wahrlich, es werden noch wundersame Dinge geschehen.

    (S. 10)

  • Romanhelden holen sich keinen runter, wenn die Wogen der Handlung höher schlugen, besann er {George Dorn} sich. Zum Teufel damit, erstens war er kein Held, zweitens war das hier keine Literatur.

    (S. 80)

  • Und das Buch macht sich selbst nieder. Die (wie ich annehme fiktive) New Yorker Kritikerin Epicene Wildeblood soll ein Buch (eben »Illuminatus!«) besprechen und in ihrer Mitteilung an den Redakteur lästert sie:
    Es ist ein gräßliches Monster von einem Buch … und die Zeit ist viel zu kurz, es ganau zu lesen; aber ich werde es gründlich durchblättern. Die beiden Autoren halte ich für völlig inkompetent — nicht eine Spur von Stilgefühl oder für Gliederung. Es fängt als Kriminalroman an, springt dann über zur Science-Fiction, gleitet anschließend als ins Übernatürliche und ist überladen mit den ausführlichsten Informationen über Dutzende von entsetzlich langweiligen Themen. zudem ist der Zeitablauf völlig durcheinander, was ich als anmaßende Imitation von Faulkner und Joyce werte. Am allerschlimmsten aber ist, es hat het die obzönsten Sexszenen, die du dir vorstellen kannst. ich bin sicher, daß es nur deshalb verkauft wird. Sowas spricht sich am schnellsten rum. Und ich meine, die beiden Autoren finde ich einfach unmöglch; kein bischen guten Geschmack; stell dir vor, die beziehen tatsächlich lebende politische Figuren ein, um, wie sie einen glauben machen möchten, eine echte Verschwörung aufzudecken. Du kannst dich darauf verlassen, daß ich keine Minute vergeuden würde, einen solchen Schrott in die Hand zu nehmen … aber, naja, bis morgen mittag werde ich eine niederschmetternde Kritik für dich haben.

    (S. 261 f)

»Kniet nieder vor Maria Magdalenas Gebeinen«, oder:Dan Brown: »The Da Vinci Code«

EDIT: Neu formatiert und 1x überarbeitet.

Eintrag No. 222Prolog: Im Louvre mordet nächtlings ein bleicher Schreckensmönch den Kurator. Der Mörder flüchtet, das Opfer stirbt mit zwanzigminütiger Verzögerung und hat noch die Fassung, sich selbst zum Anfangsrätsel einer Schnitzeljagd zu drapieren. Das Abenteuer eines amerikanischen Historikers Landon und einer (jüngeren) fränzösischen Polizeikryptologin Sophie — deren Großvater das Mordopfer war — kann beginnen. Die Hatz wird ca. 24 Stunden dauern, und nach 105 knappen Kapiteln (oder 487 Seiten) im Epilog mit einem Kniefall enden.

Nach all dem Gewese über »The Da Vinci Code« bin ich als den gehypten Narrationen gegenüber skeptisch Veranlagter baff, wie vergnüglich sich der Roman in knapp zwei Tagen wegschlürfen ließ. Keine tiefsinnige Lektüre, aber eine kurzweilige.

Der ganze Spannungs-Aufbau folgt der Tradition der Schatzssuche mit Rätselspielen. Stark erinnert hat mich das Gegrübel über Verse die einen mit ›thee‹ anreden an Justus, Peter & Bob (»Die drei ???«, »The Three Investigators« im britischen Original) — in z.B. »Geheimnisvolle Erbschaft« oder »Schreiender Wecker«. Einige der Rätselantworten habe ich vor den Schatzsuchern erraten (z.B. das Isaac Newton-Rätsel); genervt hat mich lediglich, wieviel Gedöhns um das Erkennen von simpler Spiegelschrift gemacht wird. Wobei ich nichts dagegen habe, wenn Leser rätseln sollen und auf die Folter gespannt werden. Aber ich finde es lächerlich, wenn ein Autor dem Leser ermöglicht, besserwisserisch über den Figuren zu stehen.

Die Polizei folgt der falschen Spur, denn der ermittelnde Kommissar hält Langdon für den Kurator-Mörder und ist eine Bedrohung für die Helden, die wiederum wissen, daß ihre Schatzssuche ein Rennen gegen den wahren Mörder des Kurators ist. Konventionell aber gut gemacht, wie das Zusammenspiel von Schatzsuche und Flucht Spannung erzeugt. Allein bis der Historiker und die Kryptologin der Hochsicherheits-Mausefalle des Louvre entkommen, verstreichen 146 Seiten. Dann gehts aber auch schon zu den Gnomen von Gringots, ähh, Zürich, die einen Schatz freigeben: freilich nur ein weiterer codierter Puzzlestein.

Das Fruchtfleisch des Romanes und der Intrigen bilden nun christliche Wahrheits-Streitigkeiten und Geheimverschwörungen (es gibt auch ›öffentliche Verschwörungen‹, wie H. G. Wells-Kenner wissen): Das Christentum wurde von machtfixierten Männern — noch dazu römischen Heiden wie Kaiser Konstantin — verhunzt. Alles Allzu-Menschelnde wurde aus der Bio von Jesus getilgt. Nix da, von wegen, daß Jesus der Rabbi mit Maria Magdalena verheiratet war, und schon gar nicht hatte er Kinder (Sarah) mit ihr, also eine menschliche Familie, die nach der Kreuzigung in Südfrankreich untertauchten konnte. Die Messias-Familie als ›Heiliges Blut‹, vulgo: DER GRAL, gehütet von seinen Untergrund-Gralsritten. Soviel geschichtlicher Hintergrund ist für den armen Langdon aus den USA freilich zuviel, da ist es trefflich, daß nahe Paris Sir Teabing lebt, ein reicher, exzentrischer britischer Historiker und Experte in Sachen Gralslegende, bei dem Langdon und Sophie Unterstützung finden. Nun können die beiden akademischen Geheimnis-Nerds die verwirrte Sophie zutexten mit Infos. Das Mädel wird auch sowas von geplagt von visionsartigen Erinnerungen an ihre letzte Begegnung mit ihrem Großvater {SPOILER markieren: •••Kultsex auf subterranen Altar•••}.

Das alles bleibt für mich größtenteils unspannend, denn populäre ›Sachbücher‹ zum Thema (z.B. »Der Tempel und die Loge«, wuhaa) kenne ich seit Teenagerzeiten, wie auch die von Dan Brown erwähnte Gral-Tarot-Connection. Um mir zu denken, daß mit der katholischen Kirche (oder dem Christentum) was nicht stimmt, brauche ich weder einen Krimi, noch den ganzen Eso-Schmonzes aus dem Verschwörungstheorienbegiet. (So kann die hiesige Literatur sich rühmen, einen seriöseren Historien-Bespiegler und Fabulatur wie Karlheinz Deschner zu haben, der mit seiner »Kriminalgeschichte des Christentums« weitaus profunder den kirchlichen Nimbus entzaubert.) Die Früh-Katholen wollten, daß Jesus mehr Gott als Mensch ist und entsprechend Superhelden-mäßig empfangen (durchs Ohr) wurde sowie von uns ging (Himmelfahrt). Die Gralsjünger aber wissen, daß es eine Jesus-Familie gab, mit Jesus-Familien-Stammbaum und Nachkommen, die bis heute als gut gehütete Exilanten im Verborgenen leben. Soll von mir aus beides stimmen — meine Privatspinnerei zu Jesus geht gaaaanz anders: mir bereitet es Vergnügen, einiges von »Ben Hur« mit der Bibel (inklusive den Apokryphen) zu vermengen.

FIKTION:

Jesus war womöglich der Sohn eines mächtigen Römers und einer adeligen Jüdin (oder umgekehrt: Vater mächtiger Jude und Mutter adelige Römerin), der es als Revoluzzer-Prediger schafft, die Menschengesetzte der New World-Order-Imperialen und der starr-konservativen Lokal-Theokraten zu einem tragischen Knoten um den eigenen Hals zu schlingen. Christus hatte eindeutig einen zu heftigen Todeswunsch als Brennkern seiner holistischen Weltliebe.

FIKTIONENDE

Aber ich komme vom Thema ab. Moment — hmm, wundert mich, daß die Katharer nicht erwähnt werden. Sei's drumm — immerhin: Templer (Freitag der 13.), Troubadure und die Merowinger finden sich alle ein in »The Da Vinci Code«.

Die stärkste Figur ist für mich Sir Teabing, und ich freue mich schon auf Ian McKellen in der Rolle, wenn er (hoffentlich) meint: (»My friends, I am far more influencial in the civilized world than here in France«S. 309).

Die Abschnitte mit dem mordenden Albino-Mönch (komplett mit dornengespickten Kasteiungsgürtel; also ein Intimbereichs-St. Sebastian) mag im Roman manchen unheimlich und packend am Ende sogar »Das Parfüm«-artig tragisch anmuten — ich fands zu routiniert. Wer charakterlich gut entwickelte Fanatiker lesen mag, dem empfehle ich z.B. die ›H.E.I.N.Z.‹-Islam-Jungs in »Zähne zeigen« von Zadie Smith. — An sowas arbeiten wir noch, gell Mr. Brown.

Nett zu lesen ist der Roman auch noch als Touristik nach Paris und London, inklusive Bildbetrachtung von Leonardo-Gemälden, sowie Kirchen-und Louvre-Besichtigung. Die korrekte Genre-Bezeichnung lautet ungefähr: Krimi-Fantasy. (Nicht zu verwechseln mit einem Fantasy-Krimi wie den Lord Darcy-Geschichten von Randell Garrett.)

Dan Browns »The Da Vinci Code« ist ¿neben/vor? »Das Fouccaultsche Pendel« von Umberto Eco der wohl erfolgreichste Verschwörungs-Roman der letzten 20 Jahre. Darüberhinaus kann man beide Bücher kaum fair vergleichen, denn das Pendel ist für geduldigere Gemüther geschrieben, als der schnellgeschnittene Code. Das Pendel ist was für ›literarischere‹ Leser, wer zum Code neigt, bevorzugt schlicht ›'ne flotte Story‹. Wenn es Charakterklassen für Leser gäbe, würd ich sagen, daß Browns modernes Indiana Jones-Szenario für Erstlevel-PCs taugt, wohingegen Eco was fürs Experten-Set ist.

Die Seitenangaben beziehen sich auf die amerikanische Taschenbuchausgabe.

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