molochronik

Molos Wochenrückblick No. 4

Eintrag No.623 — Viel passiert die Woche. Dennis Hopper ist gestorben. Ich muss gestehen, dass ich »Easy Rider« bis heute nicht kenne. Und Hopper-Fans müssen gestehen, dass er peinlich oft in lauen und/oder trashigen Filmen den Bösewicht gegeben hat. Wer aber wissen will, wie gut er war, der gucke erst »Blue Velvet« (Hopper als völlig durchgenallt-dämonischer Bösewicht) und dann »True Romance« (Hopper als weiser, herzensguter Looser-Papa des von Christian Slater gespielten Helden).

Apropos Bösewicht: Roland Koch zog sich letzten Dienstag aus dem Rampenlicht der Politik zurück. Wahrscheinlich, um sich seine lava-festen schwarzen Handschuhe anzuziehen und weiße Fluffikatzen zu streicheln.

Lektüre: Komme wenig zum Lesen, aber wenn, habe ich derzeit meinen Spaß mit Ian Tregillis »Bitter Seeds« (Band 1 der »Milkweed«-Trio). Nach dem ersten Drittel (von 352 Seiten) kann ich sagen: Ist sehr fein. Erinnert mich an Kim Newmans »Anno Dracula«-Romane (obwohl: Tregillis erzählt weniger extravagant) und Scott Westerfields »Leviathan« (obwohl: Tregillis liefert kein Jugendbuch ab und ist entsprechend ›härter‹). Die Nazis haben in der ›Reichbehörde für die Erweiterung des germanischen Potentials‹ mittels Götterelektron-Verstärkern Superhelden-Krieger & -Agenten geschaffen. Die Engländer bekommen über einen ihrer Spione in Spanien Wind davon und wagen es, sich hilfesuchend an englische Warlocks zu wenden (die blieben bisher nämlich lieber unter sich und können mit traditioneller Blutmagie Elementare beschwören). — Ach ja: »Bitter Seeds« ist Ian Tregillis Debut-Roman, nachdem er bisher im »Wild Cards«-Anthologieteam Kurzgeschichten unter Geroge R. R. Martins Mentorenschaft veröffentlicht hat, und Mr. Tregillis hat eine umwerfend schöne Website (Link führt zur Blog-Abteilung). — Und hier gehts zur Galerie des Cover-Künstlers von »Bitter Seeds«: John Jude Palencar.

NETZFUNDE

  • In Sachen Copyright / Urheberrecht gibt es hier eine heftige Denkanregung zu bestaunen. Johanna Blakley erteilt als TED-Sendung »Lessons from fashion’s free culture« (»Lehren der freien Modewelt-Kultur«). In dem 16-minütigen (englischen) Vortrag erfährt man, dass es in der Modewelt kein Urheberrecht auf eimzelne Design-Ideen gibt, sondern nur eines auf Handelsmarken. Also, ein bestimmtes Muster, eine bestimmte Kleidform ect pp ff wird in der Modeindustrie nicht urheberrechtlich geschützt (wäre ja auch ein Unding, wenn man Lizenzen für Dinge wie Pagodenschultern, oder Picadilly-Kragen, bestimmte Abnähvarianten usw blechen müsste). Durchaus unter Schutz stehen aber die Marken-Logos von Channel, Gucci, Versace usw.

    Sprung etwa in die 11 Minute des Vortrages: Verblüffend die Aufzählung von Industriefeldern, die mit äußerst geringem Schutz von geistigen Eigentum florieren: Nahrungsmittelrezepte und Aussehen, Gesamtform von Autos, Möbeldesign, Magietricks, Haarstilistik, Open Sorce Software, Databases, Tattoo-Künstler mögen kein Copyright (»Woll’n wa’ nich’. Iss’ nich’ cool, Dude«), Witze, Feuerwerkchoreographie, Spielregeln, Geruch von Parfumes. (Ich hab den Vortrag direkt bei TED gefunden. Die »Perlentaucher« haben ihn über »BoingBoing« gefunden und am 28. Mai in ihrer Feuilletons-Rundschau die gleiche Stelle wie ich in ihrer Meldung zusammengefasst.)

  • »Die Welt« glänzt durch Weisheit und ein gutes Händchen, denn für die hat am 25. Mai Frank Fischer vom genialen »Umblätterer«-Team den ›Nachruf‹ anlässlich der letzten Folge von »Lost« schreiben dürfen: Das letzte Abendmahl
  • Andrea hat am Samstag Grand Prix geguckt, zusammen mit Tine, Daniel und Eric. Ich selber habe an dem Abend gearbeitet und nix mitbekommen. Doch dank diesem Live-Ticker in den »Reisenotizen« konnte ich dann zuhause fast sagen: ich war dabei.
  • Ab morgen kann man die Ausstellung »Zelluloid. Film ohne Kamera« in der Schirn Kunsthalle Frankfurt besichtigen. Das Team der Schirn überrascht mich mich immer wieder damit, wie kontraststark die Ausstellungsfolge, und wie effizient die Räumlichkeiten gestaltet wurden (vielleicht nicht immer passend für den Andrang von mehreren gleichzeitig herumwuselnden Gruppen). Diesmal begibt man sich in ein dunkles, großes Kleinkinowabenwerk, das auf mich wie ›Caligari goes New Wave‹ wirkt. Zu sehen (und hören) gibt es direkt auf Filmstreifen gezeichnete, geritzte, collagierte oder chemisch hervorgezauberte Kunst (im Katalog habe ich eine Frau sogar mit der Heinz Ketchup Flasche hantieren sehen). Meine beiden Lieblingsclips im Youtube-Kanal der Schirn sind: Ian Helliwells »Orbiting the Atom« und Jennifer Wests »Wearing Thick Heavy«.

WORTMELDUNGEN

ZUCKERL

  • So sieht das Haus aus, bei dem die Bücher »Q« und »Altai« von Wu Ming (ehemals Luther Blissett) auf Japanisch erscheinen werden. Ich hoffe, bald mal mit einer Rezi zu »Manituana« aufwarten zu können. Dieser historische Roman aus dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg hat mich schwer beeindruckt. Er wird aus Sicht der ›Native Americans‹ der Six Nations erzählt. Eine beeindruckende längere Strecke schildert, wie sich englandtreue Siedler, Indianer und Mischlinge zwecks Ersuchen von diplomatisch-militärischer Unterstützung nach London begeben. Die Exotengruppe aus der Ostküstenwildnis und ihr Blick auf die wuselige Gesellschaft Londons des Jahres 1775-1776 ist ›phantastischer‹ als viele Fantasy- oder SF-Stoffe.
Quelle: Big In Japan im Wu Ming-Blog.
  • Hurrah! Klett Cotta bringt eine Neuausgabe von »Gormenghast« heraus. Molochronikleser wissen, dass für mich die »Gormenghast«-Romane von Mervyn Peake wichtige Klassiker und Meisterwerke der ›anderen Fantasy‹ sind (die ›eine‹, also ›übliche‹ Mainstream-Fantasy ist natürlich jene, welche von Tolkien, Rollen- und Computerspielen geprägt wird). — Kai Meyer und Tad Williams durften Vorworte für die ersten beiden schreiben. Und: Klett Cotta wird wohl auch den vor einigen Monaten in England im Nachlass von Peake gefundenen, und von seiner Witwe Maeve Gilmore kompletierten vierten Band auf Deutsch veröffentlichen. — Hier die Titelbilder der ersten beiden Bände der Neuausgabe, die im August 2010 erscheinen sollen. Ich bin zear nicht superduperhappy (das Schloss links ist mir zu europäisch, die Farben zu knallig und die Ornamente etwas zu arschgeweihig) aber immerhin: viel schöner als die bisherigen deutschen Ausgaben. Ungeschickt finde ich, dass die Bücher wieder um die 22,– € kosten werden. Ein Preis, den wohl größtenteils nur Leute zu berappen willig sind, die Mervyn Peake bereits schätzen. Dabei bräuchten wir (weil die deutsche Fantasy-Szene viel zu Tolkien-dominiert ist) mal eine deutsche Taschenbuchausgabe von »Gormenghast«, einfach, damit mehr Leut den Zugriff beim Einkauf wagen.

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Thor Kunkel: »Schaumschwester«, oder: Gesegnet seien die lieblichen Dinge

Eintrag No. 622 — Soweit ich das Feld der gegenwärtigen deutschsprachigen Literatur überblicke, ist mir kein ›Fall‹ bekannt, der die Urteilsfähigkeit der heimischen Literaturkritik derart in Frage stellt, wie die Besprechungen der Romane von Thor Kunkel. Sein umfangreiches Debut »Das Schwarzlicht-Terrarium« erntete Lob und Preise. Auch der schmale Folgeband »Ein Brief an Hanny Porter« wurde noch mit viel Wohlwollen aufgenommen. Dann erschien »Endstufe« und aufgrund der Skandalisierung durch einen »Spiegel«-Beitrag von Henrik M. Broder und des in diese Melodie einstimmenden Chors nachfolgender Rezensenten wurde Thor Kunkel für einige Zeit zum unerträglich geschmacklosen Nazi- und Holocaust-Verharmloser gestempelt. — (Eine ganze Reihe Einträge der Molochronik sind unter dem Stichwort ›Thor Kukel‹ dieser Angelegenheit gewidmet. Das sollte auch reichen als Hinweis, dass ich aufgrund meiner persönlichen thematisch-literarischen Interessen nicht mit distanzierter objektiver Haltung Partei für Thor Kunkel ergreife. Aber Literatur ist für mich zu einem Gutteil eine Sache der Leidenschaft.)

Aber zu »Schaumschwester«.

Kulturkritik an den aus dem Ruder laufenden Entwicklungen der (im verwerflichen Sinne) hedonistisch-konsumistischen Industrie- und Mediengesellschaft, so wie Kunkel sie betreibt, verpackt in pulp-ige Stories, ist nun mal etwas, was den meisten deutschen Feuilliteonisten nicht schmeckt. Da schwellen den Kritkkern schnell Empörungsadern. »Der relativiert ja die Nazis!«, heißt es dann, wenn die Deutungshoheit zu der ›absoluten‹ Einzigartigkeit der Übels des Dritten Reiches verteidigt wird.

Ein mustergültiges Anschauungsbeispiel für eine zu heftig und zu flott mit dem ›Daumen runter‹-Urteil hantierenden Kritik ist die Rezension von Sandra Kerschbaumer in der F.A.Z. vom 14. Mai: »Mit Puppen kann man nur spielen« (Komplette Rezi nicht umsonst im Internet zu haben). — Die Ausführungen zum Inhalt stimmen zwar grob: In unbestimmter naher Zukunft sollen der ›Cyperpunk‹ Robert Kolther und seine Assistentin Lora Heisse in Nizza im Geheimauftrag der EU die Kundendaten von Paddy Scheinbergs Synthetischer Wohlfahrt AG klauen. Deren Schaumschwestern (= raffinierte technologische Weiterentwicklungen von Sexpuppen) verkaufen sich, und befriedigen ihre Besitzer derart erfolgreich, dass man sich um den Fortbestand der Menschheit sorgt. Mit der Hingabe an die Gymnoiden droht der Menschheit ihr eigener Untergang. — Was Kerschbaumer aber schon nicht mehr im Blick hat, ist, dass Kunkel es mittels der biopolitischen Ansichten der im Buch gegeneinander antretenden Gruppen schafft, das unbequeme Thema ›biopolitische Globalstrategien‹ anzusprechen. Beispielsweise ist den Hegemons der schrumpfenden ersten Welt bang wegen der Gebärfreudigkeit zurückgebliebender, fanatisierter Zweit- und Drittwelt-Populationen. Einige Strategen der Handlung kalkulieren deshalb, dass man den triebstarken Afrikanern, Islamisten und anderen Ressourcen-Konkurrenten halt Schaumschwestern schmackhaft machen und ausreichend andrehen müsste.

Worauf sich Kerschbaumer aber sehr heftig kapriziert, sind Anspielung auf die Nazis. Sie wertet die …

{…} in der Figurenrede des Romans immer wieder auftauchenden Erwähnungen {Molos Hervorhebung} des Nationalsozialismus als Provokationszwang des Autors.

Kunkel, so Kerschbaumer (in meiner Paraphrase) »dient ein bekanntes Muster dazu, den Nationalsozialismus zu relativieren«:

Der Hass auf die Moderne lässt das ›Dritte Reich‹ lediglich als eine ihrer Ausgeburten erscheinen. Dem singulären Grauen wird seine Singularität genommen, indem es vergleichbar wird {…}

Dabei gibt es genau drei Stellen mit Nazi-Anspielungen im Roman:

  1. Kapitel 3, Seite 40: Einsatzbesprechung des Spionageauftrages. Figur Ralf Schuhnicht (Interpol-Chef in Brüssel) referiert über die Schaumschwestern, dass sie der post-humanen Wirtschaft zupass kommen.
    »Die Nazis hätten wohl von Keimkraftzersetzung gesprochen und das Wort trifft – so krude es ist – den Kern der Sache.«

    Und Kriminalpsychologin Ulla Bartmann vom BKA ergänzt:

    »Die Geschlechter sind voneinander enttäuscht. Mit diesen Folgen hätte allerdings niemand gerechnet.«

    Kunkel präzisiert anhand seiner Figuren aber deutlich, dass es vor allem an ›klassichen‹ Geschlchtesrollenformaten klebende Männer sind, die von den Frauen enttäuscht sind. ›Held‹ Kolther wird ausführlich als Opfer seiner Ex-Frau inszeniert, dem u.a. durch die gemeine Art, wie seine Frau sich von ihm trennte, Lust und Liebe buchstäblich vergangen ist.

  2. Kapitel 5, Seite 72: Kolther und Lora bei einem ihrer vielen Gespräche über die Schaumschwestern, der Gründe für deren Erfolg, und der Ziele und Zwecke denen sie zuarbeiten. Kolthers und Loras Chef hat als Grund für den Auftrag »die Rettung der Menschheit« genannt. Kolther erklärt Lora während einer Beschattungstour im Naturkundemuseum, dass dies eine Verniedlichung von Sachverhalten sei, denn …
    {Kolther} »Je mehr Menschen, desto mehr Arbeitskräfte, desto mehr Konsumenten. Sex, nicht die Börse, ist der wahre Antriebsmotor der Ökonomie. Wenn wir Paddys Firma {= Synthetische Wohlfahrts AG} ausschalten, dann retten wir nicht der Menschheit den Arsch, sondern der Industrie und der Zinswirtschaft und der …«
    {Lora} »Aber der Chef …«
    {Kolther} »… ist ein Nazi.«

    Toll. Wenn eine Romanfigur eine andere als Nazi bezeichnet, ist das schon Teil einer Methode zur Verharmlosung des Dritten Reiches.

  3. Kapitel 6, Seite 89: Kolther und Lora im Hotelbungalow. Das Frauenbild der Musikclips im Fernsehen wird anhand von Lady Gaga und Shakira kommentiert.
    {Lora} »Waren die Frauen früher wirklich so anders? {…} In der fetischistischen Verwertungsgesellschaft des Westens haben Frauen schon immer ihre Kommodifizierung entschiedener als Männer betrieben {…} Wer es schafft als Traumfrau zu gelten, hat ausgesorgt, oder nicht?« {Kolther} »{H}ast Du diese haptische Wichsvorlage eben Traumfrau genannt? {…} Wenn es das ist, was alle wollen, sowohl Männer als auch Frauen {…} und wenn es niemanden juckt, dass die freie Welt gerade die Körpernormierungsphantasien verwirklicht, die auf dem Reißbrett der Nazis entstanden … warum ziehen wir dann einen wie Scheinberg aus dem Verkehr?«

    Puh. Ich habe meine liebe Not, nachzuvollziehen, wie man anhand dieser drei Stellen so einseitig urteilen kann. Und ich muss aufpassen, dass ich bei dem Zitieren hier nicht falsche Spuren lege.

Man kann und darf natürlich der Meinung sein, dass die Kritik des Romans am westlichen Kulturwesen und seinen Geschlechtsidealen übers Ziel hinausschießt, weil vielleicht die Mißstände so arg nicht sind. Man könnte sich aber auch eine Nachhilfe antun, z.B. mit dem Filmessay »Dreamworlds 3« (»Desire, Sex & Power Music Video«) von Sut Jhally und möglicherweise zu dem Schluss kommen, dass einer wie Kunkel den respektwürdigen Versuch unternimmt, die brutal-entmutigende Monstrosität des Themas mit den Mitteln des erzählerischen Zorns und des spekulativen Spottes zu bannen.

Kunkels ›poetologisches Programm‹, also seine Konzepte was Tonfall, Themen, Figuren, Erzählaufbau usw angeht ist in der derzeitigen deutschen Literatur ziemlich einzigartig. Einerseits nutzt er einen satten Kolportagestil (Äktschn, Schock- und Irritation mittels ätzender sprachlicher Drastik, spott- und hassglasierte Kommentierung prominenter Persönlichkeiten und Ereignisse, gemixt mit wild zusammengetragenen kulturgeschichtlichen Fundstücken, schließlich gewürzt mit Kalauerlust), der nicht verhehlt, dass Kunkel oberflächlich gelesen auf Unterhaltung abziehlende Räuberpistolen fabriziert. Aber er wagt es dabei, große Themenkomplexe wie Menschenbild-Konflikte, Zeitgeist-Kritik, Biopolitik, Hegemonie der Pornokratie im kulturellen Mainstream (um nur einige zu nennen) aufzufalten. Dass dabei nichts herauskommen kann, was bequem und konsensfähig ist, läßt sich an drei Fingern abzählen. Man kann Kunkels Romane diesbezüglich schlicht als Geschmacklosigkeit abtun. Andererseits ist es bei den genannten Problemfeldern so, dass Kunkel (aus meiner Sicht) sehr effektiv mittels seiner Schreibe die den angesprochenen Problemkreisen innewohnende Geschmacklosigkeit verdeutlicht.

Um zu klären, dass ich nicht mit dem Blick eines vollends unkritischen und einseitig wertenden Jubelpersers auf »Schaumschwester« blicke, sei eingestanden, dass ich mich der Kritik anschließe, die, was einige Stellen des Romans angeht, zu dem Schluss kommt, dass mindestens eine weitere Lektorats-Session dem Buch gut getan hätte. Vor allem im letzten Drittel des Buches ist der Wechsel von Tempo- und Erzählhaltung, zwischen brillanten Szenen und ›Draufsicht‹-Hetzte zu holterdipolter um den Roman als gänzlich rund bezeichnen zu können.

Dennoch bin ich weit davon entfernt »Schaumschwester« als misslungen oder auch nur mittelmäßig einstufen zu wollen, denn ich habe auch diesmal wieder den ›Kunkel-Sound‹ genossen und finde, dass er den Lesern einen erstaunlich unterhaltsamen Ritt durch eigentlich bitterstes Themengelände bietet. Auch wenn diese Themen und Motive (Bevölkerungsentwicklungen als Manipulationsfeld der internationalen Konkurrenz, Pornokratie, emotionell kaputte Typen, heilsgeschichtliche Aneignung der Evolutionstheorie, Ekel vor der Kultur der Ersten Welt, Misanthropie usw.) als Stoff für einen kurzweiligen, sprachlich frechen Phantastik-Garn für manche Leser völlig indiskutabel sind, ist das in »Schaumschwester« gebotene Gedankenspiel in meinen Augen gelungen und die somit vom Autor gegebenen Anregungen diesen Themen kritisch Aufmerksamkeit zu widmen sehr lobenswert.

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Thor Kunkel: »Schaumschwester«, Prolog, Epilog, 19 Kapitel und Vorschau/Ausszüge zu weiteren Titeln der Reihe »Neue Welt« auf 288 Seiten; Verlag Matthes & Seitz Berlin, 2010; ISBN: 978-3-88221-690-5.

Molos Wochenrückblick No. 3

Eintrag No. 621 — Am vergangenen Samstag trudelte bei mir »Red Dead Redemption« ein. Ich ärgere mich etwas, denn aus irgendeinem Grund funktioniert bei mir das Soundtrack-Runterladen nicht (für mich der Hauptgrund die 5 € Preisaufschlag für die Limited Editon gelöhnt zu haben).

Bisher habe ich etwa 12% der Story gespielt und kann sagen: zum Schwersten, was ich überhaupt jemals gespielt habe, gehört Pferde einfangen und einreiten! Und ich habe richtig Schiss in gewissen bergigen Gegenden, wo es Pumas gibt (die manchmal sogar zu zweit jagen!). So ein Puma wenn ordentlich hinlangt, ist dein Reittier ratzfatz ein Ex-Pferd, und man selbst höchstwahrscheinlich auch gleich ein Gewesener. — Aber ich sollte eh nicht daddeln, sondern schreiben, übersetzten und lesen.

Netzfunde

  • Neal Stephenson, der brillante Autor von »Diamond Age« und »Der BAROCK-ZYKLUS« ist Schirmherr eines ungewöhnlichen Geschichtenwebe-Projekts namens »The Mongoliad«. Los gehen wird es mit Kurzgeschichten von Stephenson, Greg Bear, Nicole Galland, Mark Teppo, und anderen Autoren, die zusammen eine halsbrecherische Abenteuergeschichte im von den Mongolen heimgesuchten Europa des Jahres 1241 vorlegen. Daraufhin sollen unter anderem Kampf-Künstler & -Choreographen, Illustratoren, Programmierer und Spieledesinger weiteres Medienmaterial beisteuern und schließlich den Lesern selbst Gelegenheit gegeben werden, mit eigenen Geschichten zum großen Garn beizutragen. Ich bin bespannt.
  • Verkündet wurden die Nominierungen für den Max & Moritz-Preis 2010 (= Comic-Preis, der auf dem Internationalen Comic-Salon in Erlangen verliehen wird). Ich kenne diesmal erstaunlich wenig. — Bin schockiert, dass »Hector Umbra« nominiert wurde. Zeichnerisch ist der Band ja ganz nett, aber Story und Dialoge sind einfach nur geistlos spätpubertär und nervig. — Entschieden habe ich mich für »Spirou & Fantasio Spezial – Ein Portrait des Helden als junger Tor« von Emile Bravo.
  • Schöner langer Artikel über Ayn Rand von Corey Robin (mit genau der richtigen Portion sachlicher Häme) am 20. Mai in »The Nation«: Garbage and Gravitas / Abfall und Gravität. Der erste Satz geht so:
    Aus dem St. Petersburg der Revolutionszeit stammt Vladimir Nabokov, Isaiah Berlin und Ayn Rand. Der erste war ein ein Romanautor, der zweite ein Philosoph. Die dritte hielt sich für beides, war aber keines davon.
    St. Petersburg in revolt gave us Vladimir Nabokov, Isaiah Berlin and Ayn Rand. The first was a novelist, the second a philosopher. The third was neither but thought she was both.

Wortmeldung

  • Im SF-Netzwerk habe ich mich in die Debatte um »Schaumschwester«, den neuen Roman von Thor Kunkel, eingeklinkt. Als Fan von Thors bisherigen Veröffentlichungen fühlte ich mich bemüßigt, einige (in meinen Ohren) schrillere Mießmache zu kontern. Meine ersten Einträge in dem Thread überspringe ich mal, hier aber meine Meinung bezüglich »Endstufe« , und dass (seit diesem Roman) mit der literarischen Rezeption von Kunkels Büchern einiges extrem, vielleicht sogar exemplarisch, schief gelaufen ist. (Dummerweise habe ich das Buch erst gestern – Montag, 24. Mai – bekommen, und bin grad erst mal drei Kapitel weit drinn). — Das Bild vom Cover hier habe ich mit einem Link zum Bucheintag beim Perlentaucher versehen. Dort gibts bisher nur die Zusammendampfung der FAZ-Rezi von Sandra Kerschbaumer, die, so finde ich, von Tuten und Blasen nur sehr wenig Ahnung hat. Mehr dazu in meiner Rezi.
  • Thomas Klingenmaier hat sich in seinem »Propellerinsel«-Blogeintrag »Batlektüre« als mutigster Batman-Fan aller Zeiten entpuppt.

Zuckerl

  • Ihr wollt niedlich? Vergesst Katzen-Content. Die absolut enzückensten Geschöpfe von Mama Natur, die jedes Herz zum Schmelzen bringen (und sogar Dath Vader ein sanftes ›Jööööh‹-Seufzen entlocken würden) sind Faultiere. Genauer: kleine Baby-Faultiere. Gefunden im Blog der amphibienliebenden Filmemacherin Lucy Cooke: »Sloth Love«.

Meet the sloths from Amphibian Avenger on Vimeo.

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»Medienlese«-Empfehlung und »Wohlgesinnten«-Dreierpack

(Eintrag No. 499; Woanders, Blogosphäre, Literatur, Nazi-Fantasy) — Das freut mich freilich, wenn (nun schon zum zweiten Mal) Klaus Jarchow die »Molochronik« erwähnt. Diesmal als eine von sechs Linkempfehlungen zu interessanten, skurrilen und bekloppten Blogs (ich bin mal so frei und pick mir die Sparte ›skuril‹ als für mich passend; ist nicht zu hoch und nicht zu selbstkasteiend): »Sechsmal um den Blog«. Ich finde die Umschreibung ganz gelungen (bis auf die Erwähnung von Tolkien, den ich ja eher skeptisch beäuge):

Der Herr Molosovsky hat umdekoriert - es geht derzeit höchst schwarzweiß und holzschnittartig mit viel ›horror vacui‹ dort zu - und zwischendurch gibt es immer noch diese seltsamen Rezensionen jener Bücher, von denen ich nie vermutete, dass irgendwer sie vermissen könnte. Worum es in ihnen geht? Um Tolkien hoch drei — oder so. Jedenfalls jede Menge Magie und auch andere Substanzen auf dieser Seite. Für mich ist’s der Blick in eine ›andere Welt‹ …

Habe mich auch gleich nach Entdecken der Meldung brav bedankt.

Außerdem …

Scheinbar überall wird ja dieser Tage der Roman »Die Wohlgesinnten« von Jonathan Littell besprochen. (Nebenbei: In der aktuellen »Literaturen« illustriert ein Photo des Nazi-Golem-Bösewichts Kroenen aus dem ersten »Hellboy«-Film den Artikel. — Und ich frage mich, wann die SF- und Cyberpunk-Kreise merken und kommentieren, dass der Debutroman des damals zweiundzwanzigjährigen Littell ein waschechter SF-Hardcore-Flick namens »Bad Voltage« war. Fetzigen Verriss kann man bei »Die Welt« genießen, und dabei die feine Vokabel ›Poshlust‹ lernen.) — Wie auch immer: Derweil ich darauf warte, dass in einem der Antiquas Frankfurts eine für mich erschwingliche Ausgabe von »Die Wohlgesinnten« angeschwemmt wird, bin ich über drei lesenswerte Reaktionen zu diesem Monsterroman gestoßen.

A: — Alban Nikolai Herbst traut sich, uns in seinem Blog »Die Dschungel« mitzunehmen auf seine persönliche Lesereise durch das Buch. Bisher gibt es fünf Einträge in der Themenfach »Notate«: 1. Iris Radisch / 2. Abwehr heilt nicht / 3. Banalität des Bösen / 4. Es ist nicht ausgestanden / 5. Unverfluchtheit. — Spannend zu lesen, wie Herbst sich beim Lesen über die Schulter schauen lässt. Herbst ist derweil begeistert von dem Buch (oder auch ›nur‹ von den Gedanken, auf die ihn selbiges bringt), macht aber aufmerksam darauf, dass seine Notate eben noch kein Schluss-Urteil sind, und er sich womöglich im Laufe der Lektüre noch widersprechen wird. Ich ziehe auf jeden Fall respektvoll meinen Hut, wie Herbst hier die Möglichkeiten des Schreibens im Internet nutzt.

B: — Thor Kunkel hat sich in seiner Blog-Rubrik »Unnatürlich natürlich« Littell und das Pahö um sein Buch vorgenommen und lässt keinen Zweifel daran, dass er beides für schwer überzogen hält. Bedenkenswert, wie Kunkel ausdeutet, dass Jorge Luis Borges mit seiner ca. 2300 Worte kurzen Geschichte »Deutsches Requiem« bereits knapper und eleganter auf den Punkt gebracht hat, was der Katharsisziegel »Die Wohlgesinnten« zur Sprache zu bringen trachtet. Nett auch der Hinweis, dass der Roman in Spanien floppte.

C: — Am differnziertesten hat das italienische Autorenkollektiv Wu Ming den Roman besprochen (auf Englisch). Bei uns sind Wu Ming bekannter unter ihrem ›alten Pseudonym‹ Luther Blissett (nebenbei: dessen historischer, zu Zeiten der Reformation spielender, Infowar-Roman »Q« ist sehr feiner Stoff). Sie vergleichen, wie mir dünkt, durchaus passend, das Hybris-Unternehmen von Littell mit Melvilles »Moby Dick« und unterstreichen die Zweischneidigkeit der Wirkung von »Die Wohlgesinnten«. Einerseits macht Littell schön deutlich, dass eben auch das sogenannte ›Unmenschliche‹ etwas völlig Menschliches ist (jeder kann zum Nazi werden, jedermensch nehme also zuvörderst ›sich selbst‹ suspekt in Augenschein). Andererseits warnt Wu Ming, dass man sich als Komplettleser des Wälzers und dessen zig Seiten langen Greulbeschreibungen in Gefahr begibt abzustumpfen.

»To put it clearly: once we've finished the reading we're meaner than when we started.«

(Nochmal nebenbei: Warum eigentlich wurde von Luther Blissett/Wu Ming nix mehr auf Deutsch herausgebracht. Der Roman »54« dürfte doch bei uns durchaus in für einen Verlag ausreichendem Maße Leser finden, oder? Kalter Krieg, Füfzigerjahre, Cary Grant als Geheimagent und so.).

»ENDSTUFE« von Thor Kunkel, oder: An welcher inversen Form von Eitelkeit krankt Molosovsky, wenn er gerne in solch einen schwarzen Spiegel schaut?

Reflexionen eines ehrenamtlichen Literaturfreundes

Eintrag No. 121 — Was für ein blauäugiger Narr muß ich sein, wenn ich mich im Folgendem mühe, meinem positiven Leseerlebnis, das ich mit »Endstufe« hatte, Ausdruck zu verleihen? Naivität oder Selbsttäuschung sind dabei noch die milderen Vorwürfe, Krypto- und Neofaschist oder antiamerikanischer Revanchist die strengeren Anschuldigungen, die deshalb auf mich fallen mögen. Nach längerem Nachdenken will ich dennoch wagen mein Quentchen beizutragen, denn die aggressive Deutungshoheit von Schwarz-Weißmalern stärkt mit ihrer vorliegenden Fülle in der deutschen Literaturlandschaft eine Rüpelhaftigkeit, mit der niemandem gedient ist.

Holsten {der Kameramann, untergetauchter Deserteur, Multitoxiker} lockerte sein Halstuch: »Ich meine, hatte ich eine Wahl? Manchmal kommt man im Leben an einen Punkt, eine Art Weiche, es könnte rechts oder links abgehen. Es ist ein Unterschied wie Tag und Nacht. Man überlegt hin und her, wägt ab, doch da …»

»… ist der Zug abgefahren«, ergänzte Ferrie {der Produzent, brauner Dandy des SS-Hygieneinstitutes Berlin mit Dadtscha Gefilderaldo nahe der Wolfschanze}.

»Eben nicht.« Holsten schüttelte den Kopf. »Du sitzt bereits im Zug. Und Ddu weißt weder, wie du zu deinem Sitzplatz gekommen bist, noch hast du einen Schimmer, ob, wie und wo du aussteigen wirst.«

»Herzliches Beileid.« Ferrie öffnete das Handschuhfach {und holt eine Schnupftabakdose mit Koks hervor}. »Im Leben kommt es nicht auf Entscheidungen an, sondern auf den richtigen Riecher.« •••Seite 55
Der schwarze Spiegel »Endstufe« und »Sechsundufzich kleine Nazis«

•••••Zum Photo: Das Buch ohne Schutzumschlag, schwarz schimmernd und matt reflektiv, wie vom Stiefelfetischist und Protagonist Fußmann ausgesucht Unterlage: »Sechsundfufzich kleine Nazis«, gemalt in Hepberg, 17. Februar 1994; Acryl & Tusche; ca. 820 x 600 mm. Notizen am Rand: (Um stupide kleine Geister zu malen, muß der Maler stupide, eintönige Arbeit verrichten). In der Ausstellung »Der zerbrochene Spiegel« {damals in Wien} behauptete ein Kurator, die Tafelmalerei habe zum Faschismus geführt!?! Fakt ist, das es keinen homogenen demokratischen modernen Malstil gibt. (Hommage auf Andy Warhols einziges Bild, das ich mir aufhängen würde »Onehundered and one Coke bottels«.)

In meinem Zimmer hing damals folgendes Motivations-Grafitti:

»Das Weiße im Auge / des Feindes zu sehn / heißt nichts als geduldig / vorm Spiegel zu stehn.«

Die Zeilen sind aus dem Lied »Der alte Herr« von der Heinz Rudolf Kunze-CD »Brille«•••••

Feuillitonmörserrauchschwaden

Wenn es etwas im Zusammenhang mit dem Buch »Endstufe« gibt, daß ich als Leser von Romanen und damit als Kunde von Autoren und Verlagen für beklagenswert halte, dann sind es die fehlende Ruhe der bezahlten Literaturvermittler und der verbissen geführte Überbietungswettkampf im Aufdecken oder Arrangieren(wollen) von Skandalen. Hysterie und Hype trüben jede gelassene Beschäftigung mit Konsumkunst. Leider kann ich mir nun lediglich in der Vorstellung ausmalen, wie sich rücksichtsvollere Berichte über die Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Hausverlag Rowohlt und dem Autor Kunkel auf die Aufnahme des Romans in der Öffentlichkeit ausgewirkt hätten. Ist es so schwer die Ablehnung Rowohlts oder das Einspringen von Eichborn unhysterisch zu respektieren? Henrik M. Broders* initialer Angriff im Rezeptionsraum – Kunkel der revanchistische Nazi-Relativierer und US-Leitkulturkritiker – gründet in einer exemplarischen Vernachlässigung journalistischer Anständigkeit (abgesehen, daß er vor Erscheinen des Buches stattfand): kläre den Standpunkt und wähle entsprechend die Mittel, hier: Berichterstattung oder Literaturkritik. Indem Broder unverhohlen einseitig Stellung für Rowohlts Bedenken bezieht, konnte aus einer ästhetischen Differenz ein ideologischer Konflikt werden. Große Kanonen rauchen ratzfatz den Ort des Geschehens zu, und für eine Weile kann man kaum ein Objekt vor sich klar erkennen.

••• * Ich bin nicht sicher, ob der Artikel überhaupt noch im Netz stehen darf, denn SpiegelOnline hat ihn spurlos verschwinden lassen und auf Herrn Broders Homepage findet er sich auch nicht mehr. Aus Vorsicht biete ich also keinen Link dahin an. Kann aber in jeder halbwegs ausgestatteten Bibliothek nachgelesen werden in Spiegel No 7/2004, »Steckrüben der Stalinisten« •••

Andere Lesermedlungen wußten das wummernde ideologisch-historische Gefecht außen vor zu lassen. Doch selbst unter denen, die es verstanden haben »Endstufe« als modernen Roman zu lesen, konnten nicht alle die überreich mit Konventionsbrüchen herausfordernde Lektüre ertragen, und kanzelten sie als eine geschmacklose ab.

••• Empfehlung dazu: Unglaublich schmissig und vergnüglich zu lesen ist die Kritik zu »Endstufe« des Blog-Kollegen praschl, deren Aussage und Urteil ich aber nicht zu teilen vermag. Aufschlußreich sind auch die der Besucher-Kommentare und deren ordentlich pubertäre Abwehr- und Bannungsformeln, sprich: Lächerlichmachungen des Autors und Lustfeindlichkeits- und Verklemmtheitsvorwürfe gegen ihn. Die Überlegung drängt sich mir auf, ob der Herrn praschl möglicherweise seinen verletzten Stolz als Besitzer einer exquisiten Dildosammlung zu rächen hatte. Kann sein, er ist so ein lockerer, offener Typ, auf dessen Wohnzimmercouch sitzend man einer Aussicht auf lustversprechendes Plastik ausgesetzt ist.}•••

Solch eine Einschätzung des Buches läßt mich lernwillig nachfragen, nach welchen Prämissen sich aus dem Ideenknäul Drittes Reich, Pornographie und Elitendekadenz etwas Geschmackvolleres stricken ließe? Globale Biopolitik ist ein kaltes und zutiefst verstörendes Thema, eines der unsentimentalsten Problemfelder der Gegenwart und das nicht erst seit gestern oder vorgestern. Doch warum sollte man gleich abwinkend zusammenzucken, wenn ein Sprachakrobat versucht, Romanlesern eine lächerlich-gruselige Aussichtsplattform auf diesen Abgrund anzubieten?

Das ist in keinster Weise höhnisch gemeint, sondern aufgrund der Erfahrung, daß für manche Narrationskundschaft die Leni Riefenstahl-Zitate in dem Disney-Zeichntrick »Der König der Löwen« schon ein zu selbstverständliches Aufgreifen von mit Nazis konnotiertem Medienhandwerk darstellen. Gerade weil »Endstufe« ein respektloses Graffiti an den manichäischen Mauern der Großdeuter von Gut und Böse darstellt, zog es wohl so viel Unbill auf sich. Dabei gehört das respektlose Beschmieren der Landmarken der Metaphysik zu den charakteristischsten Handlungen von moderner und engagierter Literatur. Es finden sich in Deutschland aber eben zu selten Autoren (oder Autorinnen) die den Mut aufbringen, sich mit den großen konkurrierenden Gesamtmenschheitswidrigkeiten auseinanderzusetzen, und nicht nur mit den lokalen Fieberdelirien zerbröselnder Nationalgemütlichkeiten.

Das Blobbel-Konzentrationslager Erste Welt

Abgesehen davon, daß mich schon Thor Kunkels Erstlingswerk »Das Schwarzlicht Terrarium« (2000) außerordentlich begeisterte, war ich neugierig, welche Spannungen und Harmonien zwischen Nazivergangenheit und Globalitätsgegenwart durch »Endstufe« wie zum klingen oder knattern gebracht werden.

Mein persönliches Verhältnis zu der Frage, wie offen oder abgeschlossen die Beziehungen zwischen dem Dritten Reich und der aktuellen Fortschrittszivilisation sind, möchte ich durch ein Zitat illustrieren. Der amerikanische Science Fiction-Autor Philip K. Dick schreibt in einer Anmerkung (1979) zu seiner Kurzgeschichte »Ach, als Blobbel hat man's schwer« (1963):

»Ich habe beim Schreiben {…} an den Krieg allgemein gedacht; vor allem daran, wie sehr der Krieg jemanden zwingt, so zu werden wie sein Feind. Hitler hat einmal gesagt, die Nazis hätten denn einen wahren Sieg errungen, wenn sie ihre Feinde, allen voran die Vereinigten Staaten, dazu zwingen könnten, so zu werden wie das Dritte Reich – d.h. zu einem totalitären Gesellschaftssystem –, um den Krieg zu gewinnen. Hitler hoffte, damals selbst bei einer Niederlage noch auf einen Sieg. Als ich sah, wie die amerikanische Rüstungsindustrie nach dem zweiten Weltkrieg immer höhere Zuwachsraten verbuchte, kam mir Hitlers These wieder in den Sinn, und ich wurde den Gedanken nicht los, daß der Scheißkerl verdammt recht gehabt hatte. Wir hatten Deutschland besiegt, doch sowohl die USA als auch die UdSSR mit ihren riesigen Polizeiapperaten wurden den Nazis von Tag zu Tag ähnlicher. Nun ja, ich hatte den Eindruck, die ganze Geschichte entbehre nicht eines gewissen sarkastischen Humors (in Grenzen).{..} Was mußte in Vietnam erst aus uns werden, um den Krieg zu verlieren, an einen Sieg gar nicht zu denken; können Sie sich vorstellen, was aus uns hätte werden müssen, um zu siegen? Hitler hätte sich wahrscheinlich nicht mehr eingekriegt vor Lachen, und zwar auf unsere Kosten… wie so viele Lacher letztlich auf unsere Kosten gingen. Und die klangen hohl und grausam, ohne jede Spur von Humor.«

•••»Zur Zeit der Perky Pat«, Haffmans 1994; nur die Geschichte auch in »Minority Report«, Heyne 2002.

Wie sehr wurde die Zukunft der Menschheit von den Nazis infiziert, und ist der entsprechende Virus ein genuin Deutsch-Nationalfaschistischer? Neben offenkundigeren Auswirkungen, wurde das 20. Jahrhundert durch das Dritte Reich auf eine sehr tückische Art infiziert, denn es hat sich bekannterweise erwischen lassen und wurde völlig zurecht – und mit Entsetzten – für seine unmenschlichen Untaten verurteilt. Mit gelassener Paranoia will ich vermuten dürfen, daß es nachfolgenden, allzu menschlichen totalitären Zukunftsgestaltern als lehrreiche Warnung gemahnte, sich eben fürderhin nicht erwischen zu lassen. Dem Auftreten von Verschwörungstheorien und anderen Harlekinaden der Phantasie sind damit Tür und Tor geöffnet, und zurecht mag man solche Spekulationen den Fabulieren, Mannierlichen und Nüchternen verzeihen, aber nicht den Berichterstattern, Gehässigen und Hysterischen. Schlechte Nachrichten – und die Entlarvung des Romans »Endstufe« als Rohrkrepierer revanchistischer Couleur wäre eine solche – sollten ruhig und klar begründet vermeldet werden.

Welche Entwicklungen seit dem Zweiten Weltkrieg bieten sich denn besipielsweise an oder drängen sich auf, wenn man heute (und in der nahen Zukunft) Ausschau hält, zum Beispiel nach Unternehmungen einer künstlichen Selektion und Zucht von Menschen im großen Maßstab? Versucht man sich das vorzustellen, bedenkt dabei den Wandel von der Industrie- zur Informationsgesellschaft, und orientiert sich grob an Allerweltsroutinen der Machtausübungspraxis – teile und herrsche; dezentralisiere und diversifiziere die Mittel; lärme im Osten und greife im Westen an; sähe Angst und bündle Hoffnung, und dergleichen mehr –, werden ehr früher als später Facetten des Unmenschlichen oder des Lebensentwertenden in der Gegenwart empfindbar.

Wenn mit der erwiesenen Umrundbarkeit der Erde, der Mensch traumatisiert ins unheimliche Äußerste ent-wohnt wurde, und durch die Reiseberichte der Ethnologen sich eine mannigfaltige Exotik der Conditio Humana verstörend vor uns kollektiven und individuellen Weltenentdeckern auftat, so hat das ans-Licht-Bringen der arischen Endlösungsmachenschaften größere Illusionsblasen über das Ausmaß menschenmöglicher Bestialität platzen lassen. Den sich ergebenden schmerzlichen Zwiespalt – die Wachsamkeit für ein »Nie wieder Ausschwitz!« zu wahren, jedoch auf die Gefahr von der permanenten Vergegenwärtigung des Grauens gelähmt zu werden – vermochte die Menschheit damals mit dem Anklagebegriff »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« zu bannen. Und während die Zivilisierten sich noch in Klausur darüber befinden, was in der Geschichte der (sagen wir) letzten 500 Jahre und seit Ende des Zweiten Weltkrieges ebenfalls als solches Verbrechen einzuordnen sei, bringen nur wenige den Mut auf klarzustellen oder zuzugeben, daß die posthumanistische Epoche nicht mehr abzuwenden ist, ja sogar im vollem Gange ist.

Mit dem Fiktionsvertrag ins Dritte Reich™

Vielleicht hätten mehr Rezensenten eine wohlwollendere Haltung gegenüber »Endstufe« gefunden, wenn der Roman sich weniger auf die Kokurrenz mit grellen und überzeichneten Narrationswelten, weitestgehend schon gewöhnlich bei Filmen, Bildliteratur und PC-Spielen, eingelassen, und sich zudem eines gemäßigteren oder erhabenerem Tons bedient hätte. Da mir das Buch gefallen hat, darf ich vielleicht eine Erklärung anbieten, warum der Autor mit seinem Buch und die Kritiker mit ihren Erwartungen sich beim Aufeinandertreffen weitestgehend mißverstehen mußten: Kunkel und Eichborn wiesen zu wenig auf den Komik- und Satireaspekt hin, wo die Kritiker doch einem Tatsachen-Enthüllungsroman entgegengefibbert haben. Bei solchen Ausgangspositionen nimmt es nicht wunder, daß faire Formen des Fiktionsvertrages nur selten zustande, und bislang kaum zur Sprache gekommen sind.

Betrachtet man eine Romanlektüre unter dem Gesichtspunkt des Fiktionsvertrages, wird Vertrauen zu einer entscheidenden Bedingung, und die Kontroverse um »Endstufe« stellt sich dann vor allem als aufgeregte Verunsicherung darüber dar, welche narrativen Bespiegelungen des Dritten Reiches zulässig sind und welche eben nicht. »Endstufe« bietet sich als Provokationsfiktion an, die als ernsten Basso Continuo die monströsen Diskurse zur Biopolitik und Anthropotechnik brummen, andererseits sprachparodistisch und thriller-komödiantisch Trivialgenre-Register präludieren läßt. Das Panorama, das »Endstufe« entfaltet, paart Zynik mit Slapstik, reiht Monströses an Haarsträubendes, jongliert mit Zitaten unterschiedlichster Herkunft und ratlos machenden Hinweisen. Selbst aus einer Nasenklammer – ohne die im Schlaf zu ersticken sich der Protagonist Fußmann panisch ängstigt –, wird ein Symbol des technikvertrauenden Menschen.

Es gehört zu den Fähigkeiten von Romanen, den Lesern Trost und Hoffnung zu spenden, Halt und Rat zu bieten, oder auf sinnlich-touristische Gedankenreisen mitzunehmen, und wie bereitwillig wird den Autoren denen solche Bücher gelingen Respekt und Lob entgegengebracht. Fern von solchen Annehmlichkeiten, kann man in »Endstufe« schon ziemlich vergeblich nach unbedenklichen Identifikationsfiguren für entspannungsbedürftige Leser suchen (abgesehen vielleicht von einem Frankfurter Privatdetektiv, dessen Recherchen nach dem in Amerika verschollenen Fußmann das Buch abschließen {oder für die ganz Abgebrühten: vielleicht Heinz Rühmann mit seinen Cameoauftritten als Spanner?}).

Keine Helden, keine poetische Moral, nur menschliche Abgründe und moralische Sprengsätze. Wer Fiktionsverträge mit »Endstufe« eingegangen ist, die zu Interpretationen führen, daß Kunkel den Holochaust nichten wolle, hat zum Beispiel die Furcht des Protagonisten vor dem KZ, daß ihm als kapitaler Sittenstrolch droht überlesen (S. 180), wie auch auffälligere Hinweise auf die Selektions- und Todespolitik des NS-Regimes. Thor Kunkel stellt noch vor Handlungsbeginn die Höllenfahrtscharakteristik und die auf den Kopf gestellten Konvention des Buches klar, beginnend mit hybriden Widmungspersonal

Für Jesus, Nietzsche, Mohammed{…}

fortfahrend mit punkderber Oswald Spengler-Zitatverfremdung als eines der beiden Motti

                                  Sex Das Geld wird nur vom Blut überwältigt und aufgehoben.

bis zum zweiseitigen Vorspann mit einer Opiumrauschvision über das heutige Berlin des Lebensborngynäkologen Pfister {Fickprotokollautor der Sachsenwaldfilme}, nebst seinen alternativen Rassegesetzten

1. Legislativ richtig ist, was evolutionär richtig ist. 2. Keine Jurisdiktion ohne genetisches Zeugnis. 3. Ist die Exekutive sexy, freut sich der Exekutierte.

Zumindest ich konnte mich nicht hineinsteigern in die Annahme, daß »Endstufe« beansprucht, eine argumentativ wohlbesonnene und beruhigend dargebrachte Narration zu sein.

Als Comicleser habe ich schließlich anerkennend genickt, als im Lauf des Handlungshollerdimott sogar auf das Superheldenmotiv und seine Herkunft (Doctor Magneto – Seite 487) angespielt wurde. Indem der Schluß ambivalente Lesarten zuläßt – entweder als Fußmanns Sehnsuchtshalluzination nach seiner toten Angebeteten, oder als indirekte Schilderung einer science-fictionhaften Begegenung der »elektrozoischen« Art –, lädt »Endstufe« seinen letzten Spott auf Humanismusutopien ab, in denen man für sich zwar beansprucht wie ein Vegetarier zu denken, sich aber wie ein Fastfoodkunde benimmt.

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Weitere Molochronik-Beiträge zu Thor Kunkel und seinen Roman »Endstufe«:

Wahnwellenversprengtes Denken aufgrund Melange aus literarischer Inkompetenz und mieser Profilierungspraxis {Gesellschaft – Über Angriffe des Frankfurter AStA gegen Andrea wegen der »Endstufe«-Lesung am 20. April im Uni-Campus West.}Die Welt durch die Brille von Kultur-Gonzos: Die Nazi-Mädels vom Kulturzentrum der Uni Frankfurt {Grafimente – Zum Kulturzeit-Bericht von Tilman Jens über die »Endstufe«-Lesung am 20. April.}Hitler-Geburtstag als Journaillien-Fetisch {Über die Zeitungsreaktionen auf die »Endstufe«-Lesung am 20. April.}Skribbel für Thor Kunkel {Grafimente – Zwei lustige Blätter.}Verlag mag nicht {Zur Meldung, daß Rowohlt »Endstufe« ablehnt und Eichborn übernimmt.}

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WOANDERS: Auf den Seiten von Single-Generation findet sich eine brauchbare Übersicht zu »Endstufe« und den Rezensionen.

Und: ich habe im Scifi-Forum einen Thread zu »Endstufe« gestartet.

Wahnwellenversprengtes Denken aufgrund Melange aus literarischer Inkompentenz und mieser Profilierungspraxis

(Gesellschaft, Alltag, Literatur) - Was sich hier bei mir zuhause abspielt ist bald nicht mehr in Worte zu fassen. Meine Partnerin Andrea sieht sich den heftigsten Anwürfen des neuen AStA der Uni Frankfurt ausgesetzt, weil das Kulturzentrum bei dem sie mitmacht, eine »Endstufe«-Lesung mit Thor Kunkel veranstaltet hat. Zu den neusten Entwicklung (nach Verhören durch die paranoiden hyperantifaschistischen Banausen, und geifernden Denunziationen in der jünsten AStA-Zeitung, April 2004, S. 18/19†) kommt nun das offizielle Aus: das Kulturzentrum gilt laut AStA als nicht mehr förderungswürdig, Mittel und Räume ab sofort gekappt.

{† Ich würd ja gerne auf diese AStA-Zeitung linken, aber die kommen mit dem Webseitepflegen nicht nach vor Antifaschismus.}

In »fear & loathing in ffm« und »Meine schärften Kritiker« berichtet Andrea; Verweise auf Reaktionen in den Medien finden sich bei ihr hier: »update«. Einen umfassenden Überblick vermittelt »Hexenjagd in Frankfurt«, der erste von zwei Artiklen zu den Vorgängen, geschrieben von Chuzpe.

Mich nimmt das alles naturgemäß auch ganz schön mit, der ich mich bemühe Andrea beizustehen, so gut ich es vermag. Schlecht schlafen und Nervenbröckeln bei Andrea sind die Auswirkungen von derart harter idelogischer Null-Toleranz, und da ich selbst einen Hang zur Polemik habe, gemahnt mich das selbstverblendete Bellen des AStA, selbst besser zu zielen, bevor ich meine Meinungen in den Raum stelle, und entsprechend klar meine Absende-Position zu klären.

Zur Einstimmung erstmal ein Zitat aus Norbert Bolz feinem Spiegel-Online-Essay »Warum Denken unmodern ist«:

»Im Skandalkonsum goutiert das Publikum die soziale Lust des Moralischseins.«

Das gilt natürlich verstärkt für jene, die sich ihre Lustkicks durch Tadeln verschaffen. Was für eine kreuzreaktionäre, denkfeindliche und sich dabei unangenehm expressiv gebärdende Autoerotik. Ein Gutteil der Frankfurter Antifa-Fundamentalisten ist sich anscheinend in ihrer jugendlichen Begeisterung nicht im Klaren darüber, daß sie gegenüber Kunkel und dem Kulturzentrum jene Art von Ausgrenzungs- und Vernichtungsrethorik betreiben, die sie selbst bei ihren Gegnern als Faschismus diagnostizieren. Eigenprofilaufbau durch Niedermachen des Gegners. Nur noch als Realsatiere optimistisch zu bezeichnen, lassen sich die Handlungen und Äußerungen des derzeitigen AStA kaum anders deuten, als daß es dem AStA um Macht und nicht um Kultur geht. Peinlich obendrein dabei, daß es sich dabei um einen Kreis von Leuten handelt, die sich blind auf die Medienberichterstattung verlassen haben - obwohl sie solche gutbenamsten neuen Referate für kritische Wissenschaft ins Leben gerufen haben. Sie - Alexander Witzig und Sirwa Kader - vertrauen dabei wohl blind dem, was zum Beispiel der berüchtigte Tilman Jens via Kulturzeit verbreitet hat, oder was Trittbrettdenker dem apostelhaften Dennunziator Herrn Broder nachplapperten. Das Buch »Endstufe«, um das es geht, haben die guten Kreuzritterknappen vom AStA aber wohl kaum gelesen und so sie es lasen, entblößen ihre Reaktionen eine flächendeckende Unfertigkeit im Umgang mit Literatur. Hätten sie nämlich auch nur rudimentäre Leserkompetenz, dann würden sie jubeln ob der vielen Inspirationen, die »Endstufe« einem zeitgenössischen Antifaschisten bieten kann. »Genau so isses«, würden sie sich bei der Lektüre denken.

Dabei ist mir die heftig ungestüme Leidenschaft des neuen AStA im Grunde sympatisch, denn in diesem »Den Faschisten keinen Meter«-Pathos erkenne ich meine eigene wilde Tweenzeit wieder, als ich mich in Wien in ziiiiiemlich linken Kreisen bewegte. Es schmerzt mich deshalb fast körperlich als Randzeuge zu erleben, wie prinzipiell löbliche Antifaschismus-Ambitionen - durch den AStA Frankfurt - auf ästhetisch verkümmerten Geröll errichtet und nur mit kümmerlicher intellektueller und moralischer Aufrichtigkeit umgesetzt werden. Gut formulierte und fundierte Kritik an den Mißständen unserer Zeit und Zivilisation werden allseits herbeigesehnt. So aber trägt das Team des AStA nur zum weiteren Auseinanderklaffen des Grabens zwischen den Diskutierenden und den Polemisierenden bei, und dieser Graben ist hierzulande - GOttseisgeklagt - schon groß genug.

Weil es viel besser formuliert ist alles, was ich sonst noch analytisch daherfaseln könnte, hier ein Zitat, daß zu dem AStA-Wirrwarr paßt, aus meiner derzeitigen Großlektüre »Sphären« von Peter Sloterdijk; Band 2: »Globen - Markosphärolgie«, Kapitel 7 »Wie durch das reine Medium die Sphärenmitte in die Ferne wirkt - Zur Metaphysik der Telekommunikation« {mit meinen Anmerkungen in eckigen Klammern}:

»Für die Parteigänger der ersten Worte, seien sie von Göttern, Königen oder Genies {oder politisch-ideologischen Zampanos von Der Spiegel oder der eigenen Uni-Gruppe} gesprochen, ist von Übel, was dazu beiträgt, das Zwischenreich des Kommentars aufzublähen, und böse, was darauf ausgeht, den Interpreten oder Experten für zweite Worte an die Macht zu bringen. … wenn die Exegeten frech werden und offen behaupten, es gebe in Wahrheit kein Original, sondern nur Visionen, die alle irgendwie gleich legetim wären: Dann ist für die Verfechter der ersten Zeichen der Ernstfall eingetreten, und der Augenblick gekommen, in dem der zornige Zeichendiener die narzistischen Zwischenhändler aus dem Tempel vertreiben muß.«

Seit ich von der empörten Ablehnung von »Endstufe«, der Lesung und des Kulturzentrums durch den AStA erfahren habe, beschäftigt mich die Frage, was die ästhetische (literarische) Bildung oder Theoriegrundlage der Kunkel-Verdammung durch den AStA (und das Referat für kritische Wissenschaften) bildet. Die einzelnen linken Gruppen der amtierenden AStA-Koalition liefern schon mal erstaunlich wenig Material zur Beantwortung dieser Frage. Soweit ich einschätzen kann, ist das Institut für vergleichende Irrelevanz (womöglich die lokale Spielwiese für die vermeitlichen Ideologieheroen) noch am ehesten ein Fundort. Dort zumindest finde ich in einem Positionspapier Hinweise auf einen exemplarischen Wahn, der das unfruchtbare Verhältnis der engagegiertesten Linken zur Kultur allgemein kennzeichnet.

»Ein zentrales Moment innerhalb von Kunst und Kultur ist das dialektische Verhältnis von Produktion und Rezeption, das durch das Form-Inhalt-Verhältnis vermittelt ist. Dieses Verhältnis ist notwendigerweise immer mehrfach gebrochen. Da es nicht möglich scheint sich ausserhalb dieses referenten Modells zu begeben, muss nun versucht werden ohne Krampf die Sphären von Produktion und Rezeption miteinander so zu vermitteln, dass sie theoretisch in eins fallen.«

Auch ich als Wohlstandskind der Siebziger kenne diese belebende Sehnsucht nach einem friedlich-innovativen Ineinander von Fakt- und Geistes-Welt. Man hätte gerne wieder so eine große, alles umfassende Welterklärungskuppel, in der Zweifel und Paradoxien sich angenehm auflösen oder einverleiben lassen. Schade um viele interessante Ideen und schmissige Formulierungen in dem Positionspapier, wenn es auf so eine Art von gestaltlos naiver Religiösität hinausläuft. Diese Mädels und Jungs hätten vor einigen Jahrhunderten - womöglich?, wahrscheinlich! - enthusiastisch bei jedem apokalyptischen Missionsfeldzug mitgemacht, und sich bei der Wahnsause eines König der letzten Tage ausgetobt.

Tröstlich stimmt mich trotz allem, daß sich im heutigen Medienzeitalter solchart Verwirrte nicht mehr so einfach zu militärisch relevanten Horden zusammenfinden und zur gewaltsamen Eroberung gesellschafts-taktische Stellung (einst Münster, jetzt Uniparlament Frankfurt) mobilisieren lassen. Der jetztige AStA ist eine (inzwischen wohl) verzweifelte Notgemeinschaft von extremistischen aber unerfahrenen Aspiranten einer politischen Korrektheit. Kaum haben sie den erspähten weißen Wal zum Abschuß freigegeben, rächt sich ihre Unkenntnis davon, daß alle Facetten des Korrektheits-Zeitgeistes ein Ringen um das richtige manierliche Benehmen widerspiegeln.

Es geht auch anders. Hier eine Erwiderung von Thor Kunkel auf seine Kritiker, erschienen im aktuellen Volltext, einem österreichischen Literatur-Monatsblatt. In der vergangenen Ausgabe hat ein Krikter den Roman noch verrissen, jetzt lassen die Volltext-Leute den Autor zu Wort kommen. Das nenne ich vorbildliches Diskursverhalten. Ein Hoch auf die Volltext-Redaktion, und pfui pfui pfui dem Frankfurter Panik-Asta.

Desweiteren lesenswert die Rezensionen zu »Endstufe« von • Willhelm Hindemith für den SWR2Schümer & Dorn im Büchertalk • und Alban Nicolai Herbst.

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Weitere Molochronik-Einträge zu Thor Kunkel und seinem Roman »Endstufe«: • Die Welt durch die Brille von Kultur-Gonzos: Die Nazi-Mädels vom Kulturzentrum der Universität FrankfurtHitler-Geburtstag als Journaillien-FetischSkibbel für Thor KunkelVerlag mag nicht

Hitler-Geburtstag als Journaillen-Fetisch

Eintrag No. 94 — Betrifft die Lesung von Thor Kunkel am 20 April 2004 im Poeltzig-Bau (so die richtige heutige Bezeichnung) der Universität Frankfurt.

Ich habe es gewußt, daß einige Autoren der öffentlichen Kulturrezeption ihre juckenden Finger nicht zu zügeln vermögen, wenn sie auf dunkle Zeichen oder hintersinnige Zusammenhänge aufmerksam machen können.

Der 20. April - ein Schwarzes Loch im Kalender, Gröfaz aus dem Uterus als Singularität die alles verfinstert, was an diesem Tag getan (oder dann doch besser unterlassen) wird. Ist der 20. April ein Feier- oder Gedenktag der Bundesrepublik? Meines wissens nach nicht, aber vielleicht ist er ein geheimes, ein invertiertes Jubiläum.

Von mir darf ich mit aller Bescheidenheit behaupten origineller und neugieriger reagiert zu haben, als ich nach Kenntnisnahme der Führer-Versautheit des Datums mal bei wissen.de nachschaute, wer denn noch alles Geburtstag an diesem Apriltag hat. Was soll ich sagen: müssen sich Brigite Mira und Jasmin »Blümchen« Wagner (Achtung! Nachname eines bekannten Antisemiten) an ihrem eigenen Geburtstag schämen? Dürfen Science-Fiction-Fans diesen Tag nicht als Geburtstag des Pioniers Kurd Laßwitz feiern? Und was ist mit Napoleon III, Harold Lloyd, Pietro Aretino, Jean Miro, Sir Eliot Gadiner, Karl I von Rumänien, der Heiligen Rosa von Lima und all den anderen (insgesamt 54) Personen, die, wie es der Zufall will, auch an Bad Adolfs Geburtstag geboren wurden, sei es vor oder nach ihm?

Nein meine lieben Journalisten, als jemand, der den Stress eures professionellen Schreibenmüssens nicht teilt und die Welt entsprechend unparanoider betrachten kann, muß ich tadeln: so geht das nicht.

Frankfurter Rundschau: »…weil Kunkel im ehemaligen IG Farben-Haus las und das auf den Tag genau 115 Jahre nach Adolf Hitlers Geburt.«
Perlentaucher (Referenz auf FR-Beitrag): »…als Thor Kunkel vorgestern (am 20. April!) im IG-Farben-Haus…«
Wobei ich sagen muß, daß der FR-Beitrag nicht halb so gehässig ist, wie der Bericht der F.A.Z.
F.A.Z.: »…dem 20. April, einem Datum, das für die Festkultur im Dritten Reich eine wichtige Rolle spielte (und für manche heute noch spielt): An Adolf Hitlers Geburtstag also las Kunkel…«

Der Autor verliert hier auffällig viel Worte über diesen Zufall, muß nicht nur auf das Datum hinweisen, sondern auf den Nimbus, die negaitive Heiligkeit desselben beschwören. Ist das nötig? Muß hier ein etwa ein Gedenken aufrechterhalten, verteidigt werden?

Außerdem bezeichnet Herr (oder Frau) rik in seinem F.A.Z.-Beitrag alle Anwesenden der Lesung als Ahnungslose (weil keiner gegen Kunkel protestiert). Na, wer urteilt, schmeißt da wahllos und undifferenziert eine Leutegruppe in einen Topf? Ich zumindest kann hiermit meine Empörung über diese auch mich betreffende Titulierung äußern, Frau (oder Herr) rik, denn 1972 geboren, habe ich die Geschichte des III. Reiches und der Shoa eben auch nur erlernen können. Vielleicht werden ja Angehörige anderer Gesellschaftsschichten mit geheimen teuren Zeitmaschinen in die Lage der Zeitzeugenschaft versetzt. Herr rik, dokumentiert zudem erst die (kritische) Nachfrage des Moderators, um dann einige Zeilen später zu schreiben, der Abend sei unkritisch verlaufen. Auch kann nicht nicht davon die Rede sein, Herr Kunkel habe sich inzeniert, er tat dies sogar weniger, als rik in seinem Beitrag im Nachhinein die Lesung darstellt.

Ich für meine Person als Leser möchte betonen, daß ich die Verbrechen des III. Reiches nicht leugne, ja, sie sind eine Singularität an Menschenverachtung und Wahnsinn und sie verursachen heute noch viel Schmerz in den Seelen der Überlebenden dieser Zeit und aller Nachgeborenen, deren Familiengeschichte davon berührt ist. Wenn ich mir ein heutiges Deutschland in einem Alternativwelt-Europa vorstelle, das weder Hitler noch die Nazis erlebt hat, das keine Judenausrottung und Vernichtung sonstigen unwerten Randgruppen-Lebens ertragen mußte, und wenn ich dieses Alternativwelt-Deutschland mit unserem tatsächlichen heutigen vergleiche, fühle ich den Schmerz des Verlustes, zum Beuspiel darüber, daß uns heute ein etabliertes jüdisches Bürgertum mit seinem Geisteswitz fehlt, daß uns heutigen Deutschen unerträglich viele der hervorragensten Köpfe (und Herzen) fehlen, die vernichtet oder vertrieben wurden.

Trotzdem kann ich mich mit diesem Schmerz vergnügen, wenn Kunkel seine nach präpubertären Kalauer miefenden derben Scherze mit der vermeitlichen Elite z.B. der SS oder der NS-Wissenschaft treibt. Zugegeben: Chaplin hat das in »Der Große Diktator« mit dem aus den Fenster springenden Raketentestern knapper und eleganter gemacht. - Kunkel hat wohl zu hoch gepokert, als er glaubte, daß man diesen Schmerz soweit angenommen hat, daß nicht jedesmal verletzt oder paranoid aufgebrüllt werden muß, wenn eine fiktionale Narration Dissonanzen zumutet. Als lustige Zeichnung bei Walter Moers mögen solche Scherze noch angehen, als reiner Text ist es anscheinend zu schwer, die Feinheiten groben Nazi-Porno-Trash zu erkennen. (Meine Entschuldigung an Herrn Moers - falls Sie das hier lesen und sich unangenehm platziert fühlen, wieder mal herhalten müssen, so als anerkannter Grenz- und Tabuüberschreiter.)

Man kann Kunkel mit aller Berechtigung vorwerfen, daß er einen ätzenden, bisweilen extrem geschmacklosen Humor pflegt. Eine Dauer-Verfremdung durch unerträgliche Sprachartistik, in der die Nicht-Provokation scheinbar Aussnahme bleibt.

Ein Herr aus dem Publikum der IG-Farben-Haus-Gröfaz-Jubiläums-Lesung hat es aber ganz richtig erfaßt:

»Das ist eine Satire auf das III. Reich.«

Spontaner Applaus des ahnungslosen Publikums. Darüber hat niemand geschrieben und es findet sich bei den Berufsschreibern auch niemand, der es für seine Sache hält, den (zugegeben grenzwertigen) Humor in Kunkels Darstellung von kranken, pathologisch mitleidsunfähigen Triebdeppen zu verteidigen. Auch gut, machs ich das halt.

Ach übrigens: Von den bisher berichtent habenden Journalisten war niemand so fleißig, mal Veranstalter oder Verlag zu fragen, wie es zum Ungeschick des Datums kam. Wie kleine Dr. Watsons ziehen sie lieber die Schlüße, die ihre Bildung und Fixierung zulassen. Nehmt entsprechend diese meinen Einspruch auf eure Deutungshoheit entgegen.

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Weitere Molochronik-Einträge zu Thor Kunkel und seinen Roman »Endstufe«: • Verlag mag nichtSkribbel für Thor Kunkel
Die Welt durch die Brille von Kultur-Gonzos : Die Nazi-Mädels vom Kulturzentrum der Universität FrankfurtWahnwellenversprengtes Denken aufgrund Melange aus literarischer Inkompentenz und mieser Profilierungspraxis

Skribbels für Thor Kunkel

(Grafimente) - Lustige Zeichnungen. Farbiges Skribbel, das ich Thor Kunkel bei der Lesung im IG-Farben-Haus geschenkt habe.

Entstufe Skribbel # 1

Und eine Variation, die ich Andrea geschenkt habe.

Entstufe Skibbel # 2, Variation

Vorstellbar ist natürlich auch ein Gag mit den Baummwesen bei Tolkien (--> Ents).

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Weitere Molochronik-Einträge zu Thor Kunkel und seinen Roman »Endstufe«: • Verlag mag nichtHitler-Geburtstag als Journallien-FetischDie Welt durch die Brille von Kultur-Gonzos : Die Nazi-Mädels vom Kulturzentrum der Universität FrankfurtWahnwellenversprengtes Denken aufgrund Melange aus literarischer Inkompentenz und mieser Profilierungspraxis

Verlag mag nicht: Zu Thor Kunkels »Endstufe«

Eintrag No. 44 - Vor wenigen Jahren im Cafe-Rowohlt der Frankfurter Buchmesse: ich hochnervös weil armer Hund stehe inmitten dieser gutgelaunten, einander ästheteisch taxierenden Gesellschaft, es gibt riesige Shrimps auf knoblauchgebutterten Baguetts, netter Cool- oder Bar-Jazz aromatisiert die Athmo. Verschiedene Autoren kommen in der Stehgruppe vorbei, zu der mein Herzelieb Andrea, ich und Freund HelK gehören. Beispielsweise wurde mir da der Herr Spinnen sympatisch wie Lottogewinn, als er mir gestand: »Ja, auf das Nikolaus Heidelbach-Umschlagbild für ›Belgische Riesen‹ bin ih sehr stolz … ja, ich würde mir gerne Originale von ihm zu Hause aufhängen, aber ein echter Heidelbach ist nicht billig.« »Ist er ja auch wert.« »Oh ja, gewiss« — ect.

Normale Gespräche und Begenungen dieser Art, bis auf einmal (endlich) auch ein waschechter irrer Autor für einige Zeit bei uns bleibt. Er redet schnell aber klar, wuschelt ab und an in seinen schulterlangen blonden Wuschelhaaren und erzählt, wie sehr ihn die Schreibarbeit freut, wie geil es ist sich vollkommen dem Manuskriptgebähren hinzugeben, vor dem Textprogramm zu verkriechen, Tür zu, HirnHerzBauchSchwanz auf und klapperdiklapperdiklapper die Buchstaben in das Manuskript hacken. Ich hatte Glück, denn dieser kleine Schreibteufel war Thor Kunkel und ich hatte erst vor wenigen Tagen seinen Erstling »Das Schwarzlichtterrarium« fertiggelesen. Ein großartiger Roman der Ende der Siebziger in Frankfurt/M spielt, und der - ganz kurz gesagt - es durchaus mit Pulp Fiction und Co aufnehmen kann. Ohne daß ich es merke, sind Thor Kunkel und ich am schnellschwätzen und loben/lästern über das Glasaugenschwemme-Cover von Schwarzlichtterrarium und irgendwann beginnt er zu umreißen, was sein derzeit in Arbeit befindliches Buch so bringen werde. »Da gehts umd die Pornogeschäfte der Nazis.« Seit damals gab es in meinem Hinterköpfchen einen Balkon, von dem aus ich manchmal in heimlicher Vorfreude in die Zukunft blickte und mich auf eben dieses Kunkel-Buch freute. Nix da. Nun, Jahre später, sollte endlich im März 2004 (sozusagen wieder als Geburtstagsbuch extra für mich - manchmal muß man sich die Welt zurechtinterpretieren, damit man noch was auf sich halten kann) dieser Roman unter dem Titel »Endstufe« erscheinen. Doch jetzt, so kurze Zeit vor Erscheinensollen macht der Rowohlt-Verlag einen Rückzieher, weil die Matrerie zu heikel ist oder was weiß ich. Genaueres erfährt man wie immer nicht in diesem Dünkelland und so werde ich weiter harren, auf eine Geschichte, in der Nazis mit Projektoren (Klack-Klack-Klack) in Wüstenzelten Scheichen Lichtspiele mit poppenden Herrenmenschen vorführen, in der Hoffnung, daß man für mehr solch rassige Naturkunst Rohstoffe tauschen kann. Wie bei vielem aus der Zeit des Dritten Reiches, glaubte ich zuerst, daß dies fiktiv sei, aber Thor versicherte, daß dies wirklich geschah, er hätte recheriert und sich einige der Pornos vorführen lassen, wäre herumgefahren und was nicht noch.

Romane von Maxim Biller (»Esra«) und Alban Nicolai Herbst (»Meere«) gerichtlich verboten, weil sich Ex-Lebenspartnerinnen der Autoren zu sehr in den Büchern abgebildet wähnen. Wirbel in der Die Andere Bibliothek um das Annonymia- (»Eine Frau in Berlin«) und das »Manieren«-Buch von Asserate, weil einigen Journalisten zu hoch ist, wie Bücher entstehen; oder private bzw. Freimaurerlogen-Pissigkeiten sorgen hier dafür, daß es eine Zeit lang heißt: nicht echt, kolportiert, Mosebach-Ghostwriterei usw.

Und bei anderen Verlagen sind Lektoren und Programmmacher wirklich so blind, dumm und geil, daß sie sich auf sensationelle Enten einlassen (obwohl, z.B. ein ganzes aus der Nase gezogenes Buch eines angeblichen Ex-Stasi James Bond ist keine Ente mehr, sondern eine ausgewachsene Gans).

Angesichts dieser Entwicklung (Donalds Des-Informationskader arbeitet offenbar mal ruckelzuckellos) kann man verstehen, daß Rowohlt Muffensausen hat und »Endstufe« erstmal wieder hintanstellt. Ein bischen Pa-hö um ein Buch ist ja ganz fein fürs damit man darüber spricht und das Ding bekannt wird, aber so mit Gericht und Verbieten und vom Markt nehmen wird das teuer und am Ende hat bustäblich niemand was davon.

Gar grimmig ärgert mich das diesmal, denn Thor Kunkel ist ein sehr guter Autor, ihm traue ich zu, diesen Nazi-Porno-Irrwitz adäquat zu erzählen. Mal schauen: vielleicht wird Endstufe gleich auf Englisch in Übersetzung erscheinen, denn Engländer und Amis sind bestimmt hochbegeistert, wenn sie diese Geschichte in die Hand bekommen. Ich drück Thor Kunkel die Daumen, wünsche dem Rowohlt-Verlag Mut und Glück und Herzeruck, das Buch doch noch zu veröffentlichen: ich habe Ende März Geburtstag.

(P.S. Bericht zu all dem stand heute in SPIEGELonline. Da die aber früher oder später alle Artikel auf Bezahlen-dann-Lesen stellen, habe ich jetzt keinen Link gelegt. Aber bei <a href="hoehereweltenblog.twoday.net" target=_blank">hoeherewelten berichtet auch darüber.)

Nachbemerkung: Inzwischen hat sich - hurrah - der Eichborn-Verlag gefunden und wird nun im April Endstufe erscheinen lassen. Selbst wenn Thor Kunkel sich entpuppen sollte als politisch bedenklich verantwortungsloser oder unumsichtiger Autor, überrascht davon können nur Leute sein, die seine zwei bisherigen Bücher nicht kennen, denn die erfrischende, ihm künstlerische Autorität verleihende Qualität ist gerade seine Amoralität - frisches klares Menschendenken, daß den Chor der Moral im Angesicht des faktisch Realen als heuchlerisch begreift.

Ich sage: Beweist ein Künstler Talent und Können sind seine Werke über Kritik erhaben, Wurscht was für ein Charakterschwein oder Extremist der Küstler ist … natürlich mit Ausnahmen, aber ich denke nicht, daß Thor Kunkel ein Künstler ist, der sich einen Krieg, Genozid oder Weltenuntergang herbeisehnt, ja ihn herbeischreiben will … er scheint mir vielmehr bewußter als die meisten zu spühren, daß unsere so selbstverständliche Zivilisation bereits all dies längst ist und zeigt halt auf Dinge und Probleme, die er interessant findet. Mehr kann/darf man von einem Künstler nicht erwarten.

Die massenhaften Vergewaltigungen der deutschen Frauen sind schlimmer als der Holocaust. Das reizt natürlich das morallische Empfinden, und stellt die geschriebenen und ungeschriebenen Hierarchien an Greul und dem was wir das Böse nennen in Frage. Deutungshoheit muß deshalb verteidigt werden. So aber ist die Kunst: sie deutet auch ohne Hoheit, aus bloßer Faszination widmet sie sich auf Leben und Tod einer erzählerischen Sache, bietet letztendlich immer nur Phantastik.

Letztendlich ist das Thema so ungeheuerlich, daß wohl jeder weiß: Liebe Leut', vergleichen hat hier eigentlich keinen Sinn. Wie ich aus den Berichten erfahre, wird es aber nicht nur solche Vergleiche zwischen Kriegsverbrechen verschiedener Parteien geben, sondern auch solche zwischen damals und heute. Ich vermute mal ins Blaue, daß dieses Buch viel Ablehnung erfahren wird, wegen der zweiten Art von Vergleich, denn keiner möchte aufgeschreckt werden aus seiner Gewißheit, mit den Verbrechen der Nazis liege sowas wie der absolute Nullpunkt der Zivilisationsscheußlichkeiten vor. Jaaa, damals hat die Weltgemeinschaft wirklich mal nicht aufgepaßt, als eben ausgerechnet in Deutschland alle Sicherungen im Mitmenschlichkeits-Sicherheitskasten durchbrannten. Aber seitdem konnte es ja Gottlob nicht mehr SO weit kommen.. Naja, zumindest nicht mehr so offensichtlich. Solange wir aber weltgemeinschaftlich in einer merkantilen Technokratie und nicht in einer altruistischen Amoenokratie leben, wird Menschenverachtung und -mord ein wesentlicher Bestandteil der Zivilisation bleiben.

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