Molosovskys Wahrheitsbegriff (schnelle Fassung)
(Gesellschaft) — Kollege David und ich haben zwecks Begriffsklärung hin- und herkommentiert. Ein paar lose Gedanken hab ich noch übrig.
Völlig ohne Zusammenhang den Phantastikbegriff zu definieren ist schlicht ungeschickt … abgesehen davon, daß ich eh nicht an endgültig wasserdichte Definitionen glaube (also bei Sachen wie dem Ur-Meter und so schon, aber bei Begriffen der Ideenwelt sieht es da meist sehr gemischt aus). Wer mich für überskeptisch hält, möge kurz innehalten und zum Beispiel an den Bedeutungs- und Verständniswandel von Wörtern denken. Oder an die unterschiedlichen Zeitrechnungen der Kulturen, und daß verschiedene Völker ihr jeweils eigenes Sylvester an verschiedenen Tagen feiern.
Um abschätzen zu können, was Phantastik ist, muß man sich zuerst einmal klarmachen, von welchem Wahrheitsbegriff man ausgeht, und der ist ja schon mal vielgestaltig. Evidenz-Wahrheiten stimmen nur zum Teil mit religiösen Wahrheiten überein. Die mathematische Wahrheit, daß 1 plus 1 gleich 2 ergibt, beruht auf einer anderen Ideenarchitektur, als eine himmlische Offenbarung, für die man bereit ist zu sterben. Als sinnfällige Illustration können hier die Kreuzzüge der religiös motivierten Kreationisten gegen die Evolutionstheorie und das Erbe Darwins dienen. Hier konkurrieren zwei Wahrheits-Architekturen mieinander … nur, daß die erste aus den Hoffnungen der Menschen gespeißt wird, und die zweite durch das Beobachten der Umwelt entstanden ist.
Der Begriff von der Kulturellen Enzyklopädie erscheint mir nützlich. Darunter versteht man das gesamte überlieferte Wissen der Menschheit, vom Anbeginn der Zeiten bis heute, schriftlich, mündlich, medial halt. Von Höhlenmalereien, über alte Schriften, Massenmedien bis zur Antwort auf die Frage nach dem Weg zum Bahnhof, setzt sich die Kulturelle Enzyklopädie aus unzähligen Einzelinformationen zusammen, die sich in verschiedentlich weit reichenden Systemen kombinieren, variieren, reproduzieren und selektieren lassen, und das mal ehr deduktiver mal spielerischer. In dieser Gesamtheit der Kulturellen Enzyklopädie gibt es nun Bereiche von großer Verläßlichkeit, valide Information, sprich harte Fakten: z.B. die Wahrheit, daß meine Haare und Augen von brauner Farbe sind. Selbst wenn ich meine Haare schwarz färbte und mir grüne Kontaktlinsen einsetzte, änderte das nichts z.B. an der genetischen Determination meiner Haar- und Augenfarbe. Gäbe es handliche Gen-Lesegeräte, dann ließe sich so eine äußerliche Maskerade sofort aufdecken (was aber wiederum nur den Unterschied zwischen gefärbter und genetischer Wahrheit aufwirft, hrnch!)
An den ausgefransten Rändern der Kulturellen Enzyklopädie finden sich die unzuverlässigen Informationen, also Belanglosigkeiten, Irreführungen, Lügen, Gerüchte und dergleichen. So ziemlich alles, was Otto (Kelvin Kline) in »Ein Fisch namens Wanda« von sich gibt, sind krumme Sätze aus der unzuverlässigen Zone der Kulturellen Enzyklopädie (und sind deshalb auch komisch).
Auch Sätze wie: »Die spinnen, die Römer«, oder: »Alle Amerikaner sind verrückt« sind mehr melodiöse Stimmungsäußerungen, denn geformte Wahrheitsaussagen, und taugen daher herzliche wenig, um sich ein Bild der imperialen Antike oder der gegenwärtigen Weltpolitik zu machen.
Die Exoten unter den wild umkämpften Gebieten der Kulturellen Enzyklopädie werden zurecht z.B. als Verschwörungstheorien bezeichnet. Was soll man halten von Area 51? Vom Geraune über jüdische, kommunistische, nazistische, neoliberale, Geheimweltherreschergrüppchen? Gibt es tatsächlich ein Bielefeld? Wer hat Kennedy erschossen? Ist die Achse des Guten ein Kampf-Squad der Scientology?
Meistens kann man diese Treibsandgebiete der Kulturellen Enzyklopädie leicht erkennen, weil entsprechende Schilder vor ihnen warnen, bzw. weil bestimmte Informationen dazu dienen, die dargebotenen Inhalte in einen nützlichen Zusammen zu verorten. Entpsrechend käme wohl kaum ein Rollenspielkunde auf die Idee, sich bei einer Reise in die USA ausschließlich auf ein RPG-Quellenbuch wie »Shadowrun: Seattle« zu verlassen, auch wenn man sicherlich die ein oder andere Anregung für eine Seattle-Tour aus dem Buch daraus gewinnen kann.
Das bekannteste klärende Label ist wohl der Fiktionsvertrag und sein selten genannter Zwilligsbruder, der Wahrhaftigkeitsvertrag. Wer die Nachrichten der öffentlich rechtlichen Sender verfolgt, kann ewig warten, und doch wird der Sprecher niemals die Sendung beginnen mit: »Es war einmal vor langer Zeit…« oder beenden mit: »… und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie heute noch glücklich zusammen.« Umgekehrt kann man sich darauf verlassen, daß niemals eine Ausgabe der »Märchen aus tausend und einer Nacht« mit einer Wendung beginnt wie: »Bagdad: Bei einem Gipfeltreffen der 5 führen Dschinn-Nationen, wurde der Vermittlungsversuch der Vertreter Unanhängiger Familiare zur Öllampen-Krise abgelehnt«.
Ich für meinen Teil als Phantast stelle fest, daß es in maximale Spannung versetzt zwei Grunstellungen gegenüber der Gesamtheit der Kulturellen Enzyklopädie gibt.
Entweder man glaubt erstmal gar nix; Oder man glaubt erstmal alles.
Weil ich schlicht nicht die Kondition habe, alles dauernd anzuzweifeln, beschränke ich mich erstmal darauf, alles für wahr zu halten. Bei den meisten Dingen ist es auch völlig Wurscht. Sind Helmut Kohl und weite Teile der CDU ein Infowar-Platoon des Vatikans und des im Untergrund agierenden Feudalismus? Sind Gerhard Schröder und weite Teile der SPD Handels-Agenten der illuminierten Gnome von Zürich? Würde sich meine Haltung zur Welt groß ändern, wenn in Area 51 wirklich ein UFO abgestürzt wäre?
Ich wage zu behaupten, daß solche Wahrheiten zumindest mir nichts ausmachen, egal ob sie bewiesen oder widerlegt werden, oder unentschieden bleiben.
Was bei anderen ihre komisch antrainierten Skepsis-Routinen und Zweifels-Reflexe sind, erledigt bei mir immer noch der gesunde kindliche Menschenhass. Ein umgänglicher und optimistischer Misanthrop zu sein, scheint mir eine da eine lohnende Herausforderungen auf dem Gebiet der Persönlichkeitsentwicklung zu sein. Aber das ist ein anderes Thema.
david ramirer
ennk.
molosovsky Besitzerin
it couldn't have happend to a nicer person.
Hurm.
david ramirer
watchmen zitieren.
it rocks.
hähä. cool. hähähä. hä.
cool.
molosovsky Besitzerin
daß Du nicht zum Beispiel:
«BURRUP»
aus Kapitel 2 zitiert hast.
Dä Dä Dä-Dä-täm Dädl-dädl-dädl Dä Dä-Dä-täm.
david ramirer
weil rorschachs ennk. als reaktion auf einen grenzgenialen kommentar von dr. osterman kam, also...
molosovsky Besitzerin
Eben! – Sowieso danke für die Blumen.
Ich tu mich ja verklemmt schwer mit Komplimente-Empfangen. So ein ENNK aber geht runter wie Alvorada-Kaffee. Und wegen dem BURRUP: Kann mir vorstellen, daß viele Blogger sich ab und an so bescheuert fühlen, wie Ozymandias in der Szene. Und alle Möchtegern-supercoolen-Alleschecker wollen so frech-kritisch sein, wie Comedian in der Szene. Wie fad, die guten.
Nebenbei: ich bin ja noch beim vorsichtigen Rannpirschen an »Sin City: Hell & Back«. Ist a weng schlampiger gezeichnet und gelettert als sein Kollegen. Dafür hats so so eine farbige Passage in der Mitte, die an Bergmanns Irrungen durch die Kunstgeschichte in »Ein Traum, vielleicht…«.
Und: endlich hab ich »Transmetropolitan« komplett, und fräß mich nun die 60 Hefte (zusammen ca. 1400 Seiten).
Orga – Jetzt denk ich mal drann:
Meine Sylvester Mails an Dich bouncten. Kannst DU mich bitte mal privat anmailen, damit ich check, was da hängt?
david ramirer
habe dich eben angemailt. hoffe, es klappt jetzt.