molochronik
Sonntag, 5. Februar 2006

Zehn Etüden: Nr. Sechs — Die Unsichtbaren

Stücke für narratives Improvisationsklavier

»Von Dissonanzen, über Dissonanzen zu Dissonanzen.«
— Robert S. über Frederic C.

Die Unsichtbaren

Stefan stand in der vollgemästeten U-Bahn und grummelte still in sich hinein, denn er hätte jetzt zur Heimfahrt von seiner Arbeit bei der Deutschen Bank lieber einen Sitzplatz, um ein neues Comic lesen zu können. So aber stand er schwankend zwischen den schweigenden Menschen und gönnte den Sitzenden weder Zeitung noch Belletristik, ja verachtete besonders die, welche mit Textmarkern in lächerlich fetten Informatikhandbüchern herumschmierten. Seine Grummelei, Ungeduld und Mißgunst krabbelten kraftlos unter einer Käseglocke der Müdigkeit, wie sie sich nach einem Acht-Stunden-Tag Corona-Buchhaltung über sein Gefühlsbiotop zu stülpen pflegte.

»Fragen Sie sich, ob das so weitergehen kann? Ist dies das Leben, das Sie sich erträumt haben, oder sind Sie ausreichend domestiziert, um sich solche Fragen nicht zu stellen? Haben Sie einen kleinen Mann im Ohr, der Ihnen mit der Stimme Ihres Vorgesetzten sagt, was Sie zu tun und zu lassen haben?«, sagte gut vernehmlich eine junge Frau irgendwo hinter Stefan.

Nur die kein Deutsch verstehenden Ausländer blieben gelassen, die Blicke aller anderen aber kreisten herum auf der Suche nach der Fragenden. Das Schweigen hatte sich drastisch verändert. Geradezu trotzig klang das Rascheln einer umgeblätterten Bild nun in Stefans Ohr. Er war plötzlich ganz aufgeregt, wie nach dem ersten Abwärts einer Achterbahn.

»Mögen Sie Ihre Arbeit? Haben Sie sich freiwillig zur Entmündigung entschlossen, oder wurden Sie gezwungen? Konnten Sie schon mal kontrollieren, ob Ihr Gesichtsfeld von Scheuklappen begrenzt wird?«

Stefan mußte diese Frau sehen, aber die Menschen um ihn hinderten ihn sich zu bewegen, und er wollte sich an den fremden Menschen nicht reiben. Die Bahn bremste ab, die Türen öffneten sich und eine Handvoll Passagiere trollte von dannen wie Zirkustiere nach der Vorstellung. Durch die Scheiben riskierten sie einen ängstlichen Blick in den Waggon mit der fragenden Frau, wie Abergläubische, die befürchteten, Zeugen — wenn nicht gar Opfer — einer Hexerei geworden zu sein. Niemand stieg zu und die verbleibenden Fahrgäste arrangierten sich neu. Das ignorante Schweigen war zur angespannt räuspernden Farce geworden. Die Bahn setzte sich wieder in Bewegung.

Stefan lehnte sich an die Ausstiegstür, um das Innere des Waggon zur Gänze überblicken zu können. Der Zug verließ die gegrabene Nachtwelt und tauchte in das Sonnenstroposkop eines spätsommerlichen Abends. Stefan wartete voll Spannnung auf die nächsten provokanten Fragen, die die Unbekannte aus Stefans eingetrocknet geglaubtem Knochenmark abzulesen schien. Mit jeder Sekunde flehte er im Stillen jede der noch anwesenden Frauen an, daß sie es sein möge, daß sie mit dem Fragestellen fortfahren möge, doch keine öffnete den Mund, guckten nur wie abgelehnte Statisten zurück, wenn überhaupt. Die Fragende mußte den Waggon verlassen haben, zu diesem Schluß kam Stefan nach dem nächsten Halt und er gab sich einen Ruck und blies eine zu voreilig angezündete Kerze in seiner Brust aus.

Bis zu seiner Haltestelle — der Endstation — war es noch weit, und so ging er auf einen der inzwischen frei gewordenen Sitzplätze zu, hatte sein Comic halb aus der Tasche gezogen, da zuckte er zum Stillstand; vor seinem geistigen Auge war kurz Rosenkranz (oder Güldenstern?) aufgeblitzt, wie er wieder und wieder die Münze warf und immer zeigte sie ›Kopf‹. Stefan ließ das Comic in die Tasche gleiten. Er lehnte sich wieder an die Tür, schüttelte kurz Arme und Beine, wie ein Hochspringer bevor er anläuft, strich die Haare zurück und räusperte sich; dann begann er laut und deutlich seine Fragen loszuwerden.

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