Wieder mal: Fantasy und Phantastik und was die wert sein sollen
Eintrag No. 476 — Ein Artikel erregte meinen Unmut, bzw. regt mich an, ein wenig ›Notizenmaterial zum Kapieren‹ oder auch des Widerspruchs unters Volk zu streuen.
In dem umständlich benamsten Artikel »Warum ein Jugendbuch literarisch noch viel bedeutsamer ist als das Lob der Kritiker erkennen lässt und der Buchbranche als Wegweiser dienen könnte« von Buchmarkt-Chefkolumnist Gerhard Beckmann, werden zwei Anliegen miteinander ungeschickt vermischt und dabei entsprechend wischi-waschi m.E. Blödsinn verbreitet. — Zum einen steht er dort als begeisterter Empfehler Wieland Freunds und dessen Phantastik-Roman für junge Erwachsene »Jonas Nichts« bei. Ich hab das Werk noch nicht angeschmeckt, aber wenn ich Beckmanns Ton den er anschlägt lausche, scheint das Buch bisher nicht so dolle angekommen zu sein. So legt sich Beckmann ins Zeug »Jonas Nichts« anzupreisen und zu loben, und tut (das allein ist ja noch nicht rügenswert) in dem er dieses Buch abgrenzt gegen vermeindlich Schlechtes und Zeihenswertes. Und so nennt er zum anderen das Übel pauschal ›Fantasy‹ und haut munter drauf ein, wenn er schreibt…
Erwachsene Leser, die für ihre Sehnsüchte in der modernen Realität keine Befriedigung finden und sich in solche Lektüre flüchten, riskieren, dass die schon entwickelten Keime und Energien schöpferischer Phantasie sich zurückbilden. Für Kinder aber besteht die viel größere Gefahr, dass diese kreativen Energien und Fühler sich gar nicht erst entwickeln und damit auch ihre Fähigkeit zu spielen verkümmert. So paradox es klingt: Die Fantastik der Fantasy-Literatur nimmt ihnen die Phantasie.
Das ist in mehrfacher Hinsicht so falsch, dass ich es als Gag so stehen lasse.
Mich ärgert was anderes: Phantastik wird bei sehr vielen unterschiedlichen Namen gerufen: ›Horror‹ oder ›Science Fiction‹ zum Beispiel, und schon immer wichen jene, denen diese Ettiketten (oder andere) zu lasterhaft dünkten, darauf aus, dass sie feinere Bezeichnungen heranzogen, wie z.B. eben ›Phantastik‹ oder ›Magischer Realismus‹ (mensch kann dieses Nobilitierungsspiel auch am Pärchen ›Comics‹ = Bäh und ›Graphic Novels‹ = Edel-edel beobachten). Und richtig wirr wird es, wenn ein holistischer Larifari wie ich zu Bedenken gibt, dass ›Phanastik‹ auch oftmals zum Schimpfwort verkommt, wenn man damit z.B. Parteiprogrammtiken (siehe ›christliche Wurzeln Europas‹ a la Söder und Co.) oder die reichlichen Erzeugnisse ideologischer und theologischer Dichtung als Blumen im Beet der Phantastik bezeichnet. Da schwingt dann deutlich der Vorwurf ›Hirngespinst‹ mit ›Täuschung‹ mit.
Im Anglo-Amerikanischen hat sich erst in der vergleichsweise jüngeren Vergangenheit in einem Prozess von ca. Mitte der Fünfziger bis Anfang der Achtziger des 20. Jhds. der Begriff ›Fantasy‹ für eine gewisse Fiktions-Spielart eingeschliffen; ein Begriff, der gerade durch seine oft undifferenzierte und den Vermarkungsschubladen der Verlagsprogrammatik naiv folgenden Nutzung m.E. mehr Verwirrung als Orientierung stiftet. In den letzten Jahren kommt es auch im Anglo-Amerikanischen wieder zu Wortmeldungen, die an die nicht so enge (Genre-)Bedeutung des Begriffs ›Fantasy‹ erinnern, an eine Zeit bevor vor allem die mächtigen Werke Tolkiens das Terrain erschütterten und eine Schar Nachfolge-Pfadfinder ermunterten, Derivative von unterschiedlichster Güte zu produzieren. (Auch der Aufstieg von Rollenspielen darf hier nicht unterschätzt werden. Rollenspiele kommen mit ihren Regelapperaten nicht umhin, die ›Sekundärwelten‹ die sie als Spielraum aufziehen, zu sortieren, schematisch zu unterteilen.) China Miéville, M. John Harrison oder Neil Gaiman geben Beispiele für derartige kritisch-genre(selbst)bewußte Reflektionen zum Begriff ›Fantasy‹.
Als ›Gegengift‹ zu Beckmanns Pauschal-Klatsche möchte ich deshalb ein Zitat des englischen Edel-Literarten Ted Hughes anbieten, der in seinem Essay »Mythen und Erziehung« von 1976! (aus »Wie Dichtung entsteht«, Insel Verlag, 2001) über den grundlegenden Sinn und Zweck von Phantastik schrieb, und besser ausdeutet, was die Attraktion und den Wert dieses fabulatorischen Modus ausmacht.
{…} Der dämonisierte Zustand unserer Welt ist millionenfach spürbar geworden. Wie kommt es, dass Kinder sich so zu ihr {der Phantastik} hingezogen fühlen? Jedes Kind ist eine Chance der Natur, die Fehler der Kultur zu korrigieren. Kinder sind ihr {der Welt} gegenüber höchst sensibel, weil sie am wenigsten durch wissenschaftliche Objektivität für ein Leben in der Kameralinse konditioniert wurden. Sie haben ein doppeltes Motiv, aus der Linse auszubrechen. Sie wollen der Häßlichkeit der entspiritualisierten Welt entfliehen, in welcher sie ihre Eltern eingesperrt sehen. Und sie sind gewahr, dass diese innere Welt, die wir von uns gewiesen haben, mehr ist als nur ein Inferno verkommener Impulse und verrückter Explosionen verbitterter Energie. Unser wahres Ich liegt da unten. Da unten, vermengt mit all dem Wahnsinn, liegt alles, was einst das Leben lebenswert machte. All die verlohrene Bewußtheit und die Kräfte und Bindungen unseres bilogischen und spirituellen Seins. Die Versuche, dieses verlorene Erbe wieder anzutreten, nehmen viele Formen an, und sind das Hauptanliegen eines Schwarms von Kulturen.
{…}Objektive Phantasie {welche die Äußere Welt betrachtet und erforscht und aneignet} also, so wichtig sie ist, riecht nicht aus. Wie wäre es mit einer ›subjektiven Phantasie‹? … Das eigentliche Problem kommt mit dem Umstand, dass die äußere und die innere Welt jederzeit voneinander abhängig sind. Wir sind einfach der Ort ihrer Kollision. Zwei Welten, mit einander widersprechenden Gesetzten oder Gesetzten, die uns als solche erscheinen, prallen jede Sekunde aufs neue aufeinander, kämpfen um friedliche Koexistenz. Ob es uns gefällt oder nicht: unser Leben ist das, was wir aus dieser Kollision und diesem Kampf machen.
Was wir also offensichtlich brauchen, ist eine Fähigkeit, die beide Welten gleichzeitig umfasst. Ein großes, flexibles Verständnis, eine innere Vision, die wie ein großes Theater die Wettkampfarena weit offen hält und die beiden Seiten gleichzeitig Respekt zollt. Die, wie Goethe sagte, der der Dinge und der Geisterwelt gleichermaßen die Treue hält.
Beckman tut mit seinem Artikel Wieland Freund m.E. keinen Gefallen. Welche potentiellen jungen oder erwachsenen Phanatstik-Freund werden nach seinem tollpatischen Rumpeln gegen ›DIE Fantasy‹ noch Bock haben »Jonas Nichts« eine Chance zu geben? Wer so mit dem Oberlehrer-Zeigefinger wedelt, macht keine Laune. Da bleibt mir nur, entsprechend mit dem Zeigefinger zurückzuwedeln.
Für mich als gnadenlos von den phantastischen Literaturen und Modi Hingerissener besteht der Wert der Phantastik ganz allgemein darin, dass dieser Modus des phantastischen Erzählens, Reflektierens und Spekulierens über die Welt die stärksten und mächtigsten Instrumente eben dazu liefert um über sich selbst, ›Gott und die Welt‹ nachzudenken und zu verhandeln. Zugestanden: zugleich gehen damit aber auch intensivere Gefahren einher, da die Phantastik der Psychagogen, Demagogen, Schwarzmagier, (Stimmungs-)Giftmischer und Schadenszauberer dazu führen kann, dass die Leute und die Gesellschaft ihre kostbaren Tat- und Denk- und Empfindungs-Ressourcen verschwenden für Verwirrung, Missverständnisse, Täuschung, Illusionen, Zwist & Tatenlosigkeit. — Ich halte es jedoch für kreuz-fatal, wenn man angesichts dieser mit der Phantastik verbundenen Gefahren zusammenzuckt und sich auf ein (vermeintlich) sichereres Terrain des so genannten (puristsichen) ›Realismus‹ zurückzieht, oder Klein-Klein-Gefechte aufführt indem man verschiedene Ettikettenworte, die alle unter ›Phantastik‹ subsummiert werden können, gegeneinander auszuspielen trachtet.
Nicht, dass man mich falsch versteht: Natürlich lässt sich über Wert und Unwert einzelner Phanatstik- oder Kunst-Strömungen trefflich streiten, und das sollten wir (die Leser, Autoren und Kritiker) auch. Aber Werten hängt immer vom jeweiligen Standpunkt, der jeweiligen Lebenslage, Welt-Erfahrung und Befindlichkeit ab. Meiner Meinung nach kommt man also auch beim Versuch, möglichst objektiv über diese Dinge Aussagen zu tätigen nicht umhin, den Empfängern faire Einblicke in die eigene subjektive Sender-Verfassung zu gewähren, damit der Empfänger ‘ne Ahnung davon bekommt, von wo aus und zu welchem Zweck mensch Aussagen und Wertungen anstellt.
Dazu nochmal eine kleine Schau auf ein Gegensatzpaar in das mensch, wenn mensch will, die Bedeutungs- und Werte-Ebenen auseinander sortieren kann. (Ich mixe dabei munter den bereits erwähnten Ted Hughes mit Fetzen aus den Werken von Peter Sloterdijk und dem Ethnologen Hans Peter Duerr … Fetzen, die sich halt in meinem Hirn sinnfällig zusammengefunden haben):
- Die intimere, intensivere Ebene der eigenen Person, der eigenen Gruppe oder Kultur (der kleineren und mittleren ›Blasen‹). Das sind die Werte der überschaubaren Gruppe, des Stammes, Clans, der Familie, des Dorfes und der Kleinstadt usw. Man nennt das auch die tribalistischen Werte der Untergruppen gegenüber der Welt. Die entsprechenden Zusammengehörigkeits-Mythen werden oftmals als spießig, altmodisch, beschränkt und einengend bezeichnet oder empfunden (man denke an die ständige Beäugung durch die eigene ›Peer Group‹, den eigenen Stamm, die starken Spannungen, Vergleichs-Animositäten und wilden Gerüchte dieser ›Bei uns hat man das immer schon so gemacht‹- und ›Wo kämen wir denn dahin‹-Werte).
- Die konfusere, relativistischere Ebene des Verbundes oder der Summe von Gruppen (die kleinen, mittleren und größten ›Blasen‹ die zusammen als ›Schaum‹ gesehen werden können … maximal eben der Schaum der globalen Menschheit, der sich aus den vielen vielen Untergruppen-Blasen mit ihren jeweiligen Traditionen und Interessen zusammenfügt). Die entsprechenden, arg in Verhandlung und deshalb Wandlung befindlichen Global-Mythen werden oftmals als flach, beliebig, leer, degradiert und herabsetzend bezeichnet (man denke an den Vorwurf gegenüber der Moderne oder Postmoderne, nur Wischiwaschi zu liefern, an die Gefahren des Nihilismus, der Entmutigung angesichts von Entfremdung durch Zweckrationalismus).
Zwischen diesen beiden Ebenen gibt es eine Barriere, einen Zaun, und alle Menschen sind mehr oder weniger ständig auf einer ›Queste‹ zwischen dem Hüben und Drüben zu vermitteln, einen persönlichen Ausgleich zu schaffen.
Herr Beckmann als Chef-Kolumnist des angesehenen Branchenblattes »Buchmarkt« inokkuliert seinen Beitrag leider nur ungeschickt. Statt sich darüber aufzuregen, dass die Verlage und Marketingleute uns ärgerlicher weise zuschütten mit schlechter oder auch nur seichter Serien-Phantastik, sollte er sich lieber weiterhin (wie er es lang schon macht) für eine bessere Ausbildung der Buchhändler einsetzten. Phantastik (und Fantasy) ist ein riesiges Terrain. Da tut’s so ein plattes Zitieren überkommener Vorurteile kaum. So hätte Beckmann z.B. ruhig den Mut haben können, auszudeuten, dass es schon die Werke der ehrwürdigen ›Fantasy‹Klassiker Lewis und Tolkien sind, die nur so strotzen vor platt-naivem Mittelalter-Nostalgik, und dass es aber heutzutage durchaus ›Fantasy‹-Novitäten gibt, die — obwohl sie einige Aspekte dieser Strömung weiterführen — von einem sehr modernen Weltverständnis ausgehen, wie Hal Duncan, Steven Erikson oder eben mein persönlicher Favorit China Miéville.
simifilm
... ich werde für einmal nicht den Begriffspolizisten spielen, aber so ganz verstehe ich nicht, über was Du Dich aufregst. Ok, auch dieser Beckmann warnt mal wieder vom verderbenden Einfluss schlechter Literatur. Das ist dumm und nun wirklich nicht originell, aber das lohnt doch die Aufregung nicht. Dass es nun gerade Fantasy ist, über die er sich auslässt, ist doch wirklich sekundär. Entscheidend ist hier doch nicht das Ziel seiner Warnung, sondern der an sich völlig falsche Gedankengang, der dahinter steht. Die Warnung würde auch nicht gescheiter, wenn er vor Comics, Fernsehserien oder Killergames warnen würde. Insofern erübrigt sich Deine ganze Definitionssuada doch.
Ach ja, und das Beckmann hier seine eigene Meinung vertritt, versteht sich ja von selbst. Da verstehe ich auch Deinen Einwand nicht, dass er seinen Standpunkt besser markieren soll. Natürlich geht er von seiner "eigenen subjektive Sender-Verfassung" aus, objektive Urteile über den Wert von Literatur gibt es nun mal nicht.
molosovsky Besitzerin
… da danke ich Dir, dass Du nicht Begriffspolizist spielst.
Ich schreib ja, dass sich trefflich streiten läßt, und man das eben auch sollte. Beckmann weise ich ja zurück und auf seine Fehler hin. Ich finde es eben völlig ›normal‹, wenn jmd. vor schlechter Literatur warnt. Aber damit finde ich eben auch normal, dass man reagiert, wenn einem mal solches Warnen nicht taugt.
Was Du richtigerweise noch mal unterstreichst, sind eben solche elendigen Pauschal-Verurteilungen. Nicht DIE Fantasy ist schlecht, sondern die schlechten Fantasy-Sachen sind schlecht, und die guten Fantasy-Sachen sind gut, manchmal sogar exzellent. — Umgekehrt ist nicht alles was (einige wild zusammengeklaubte Beispiele) PEN-Schriftsteller, Nobel- & sonstige Edel-Preisträger (hinthint: Mosebach) oder vorlesende Literaturhäuser-Touristen oder Schreibschul-Absolventen zusammenfabulieren gute Literatur. Es gibt überall Gemmen und hohle Nüsse. Wir können zwar jetzt darüber diskutieren, aber die bleibenden Urteile fällt die Zeit.
Über die Worte hinaus ging es mir u.a. hier ja darum, auf Beckmanns Beitrag zu verweisen (denn der ist eben aus bestimmten Blickwinkeln gelesen durchaus unterhaltsam), bzw. die Gelegenheit zu nutzen und die Ted Hughes-Fundstellen hier anzubieten. — Auch ich vermische also, womöglich ungeschickt, verschiedene Anliegen.