molochronik
Sonntag, 11. Mai 2008

Simon Spiegel: »Es gilt zu erzählen«

Es gilt zu erzählen; — wenn nicht schon in diesem Satz die ganze Sinnlosigkeit meines Unternehmens offensichtlich würde. In diesen Worten einer toten Sprache. Einer Sprache, die nur noch in mir weiterlebt, und selbst ich spreche sie nicht, hüte mich davor, sie erklingen zu lassen, weil es mir lächerlich vorkommen würde, diese Worte, die heute nichts mehr bedeuten, auszusprechen, in einer Zeit, für die sie nicht gedacht sind, und sie so zu entweihen.

Erzählen. Vielleicht ist es nur ein wunderbarer Zufall, vielleicht auch die grosse Weisheit derer, die diese Sprache einmal sprachen oder einmal sprechen werden — wo ist da der Unterschied? —, dass bereits in dem Wort ›Erzählen‹ selbst die Zahl enthalten ist. Schon das Wort enthält den Kern seiner Auflösung und Vernichtung. Denn Zahlen sind es, nicht Worte, aus denen die Welt geschaffen ist. Wir können die Welt in all ihren Einzelheiten zählen und errechnen; doch sie zu er-zählen, diese Fähigkeit ist uns nicht mehr gegeben. Es gibt in der Sprache, die wir heute sprechen — doch was heisst schon heute? Und was heisst sprechen? —, kein Erzählen mehr, denn Erzählen setzt Gewissheit voraus, die Unterscheidung zwischen wahr und falsch, dem, was nicht ist, und dem, was sein könnte. Doch der Fortschritt — das alte Wort klingt wie Hohn ein meinen Ohren —, der Fortschritt hat dem Erzählen ein Ende gemacht.

Es gilt, mein Leben zu erzählen. Zeugnis über das Erlebte abzulegen. Doch was soll ich erzählen, wo ich nicht einmal weiss, ob ich tatsächlich lebe? In einer Zeit, wo uns die Zeit selbst abhanden gekommen ist. Wo wir nicht mehr wissen, ob das Gestern wirklich vergangen ist, wo Leben nicht mehr das Gegenteil von Tod ist, wo einer, der nicht lebt, noch lange nicht tot sein muss. Wo Erleben keine Angelegenheit des Einzelnen mehr ist. Wo das Blei in meiner Hand, das sich so fremdartig anfühlt und das ich mit linkischen, ungeübten Bewegungen übers Blatt führe, auch ein Trugbild sein könnte, die Kleider, die auch auf meiner Haut spüre, vielleicht nur der Einfall eines anderen.

Wer bin ich, dass ich auf solche Fragen Antworten geben könnte, dass ich es überhaupt wage, an ihnen zu rühren? Als ob ich mit meinem bescheidenen Verstande mehr verstehen könnte als der Carthesianer, für den die anderen Menschen bereits leblose, mechanische Apparate waren. Immerhin — ich werde mich nicht mit ihm vergleichen, denn er ist gross und hat die Zeit überdauert, ich dagegen werde schon bald vergessen sein, wenn man mich denn überhaupt je gekannt hat —; immerhin hatte er noch eine letzte Gewissheit, wusste er kraft seines Verstandes, dass er war. Heute — schon wieder dieses sinnlose Wort —, heute ist bereits dieses ›ich‹ eine Anmassung, können wir doch nicht wissen, ob wir wirklich sind. Bereits der Carthesianer spricht von dem ebenso bösen wie listigen Geist — und ich möchte nicht ausschliessen, dass es derartige Wesen damals wirklich gab, bevor sie im Lichte der Aufklärung verglühten. Einem so hellen Licht, dass es manchen, der es stolz vor sich hertrug, blendete — dem Geist also, dem Dämonen, der in böser Absicht eine Schattenwelt errichtet.

Vielleicht ist er, der den Zweifel zur ersten Tugend erhoben hat, tatsächlich einmal einer solchen Ausgeburt der Finsternis, dieser Gestaltwerdung der Lüge, begegnet. Doch solche Begegnungen waren damals noch selten. Wenn der Philosoph morgens in Paris über den Marktplatz schritt, wurden ihm die Dämonen nicht in farbig angemalten Flaschen feilgeboten, konnte er nicht unter den verschiedensten Mitglieder dieser teuflischen Familie auswählen, um dann schliesslich eine besonders kunstvoll geschmückte Flasche mit nach Hause zu nehmen, sie zu öffnen und sich mit ihrem Bewohner zu vergnügen.

Dämonen in Flaschen, nichts anderes ist es, was unser Leben bestimmt, was das Erzählen verdrängt hat, was alle anderen Formen der Mitteilung fehlerhaft und unvollständig erscheinen lässt. Denn was bedeutet schon ein Wort, selbst ein so mächtiges und grossartiges wie Liebe? Wie dürr und schemenhaft muss es doch erscheinen im Vergleich zum wirklichen Erfahren von Liebe, der Liebe des anderen. Erst, wenn Dein Dämon von mir Besitz ergriffen hat, wenn ich Du bin und fühle, was Du für mich fühlst, kann von Liebe gesprochen werden; das heisst: eben nicht gesprochen, sondern gefühlt. Was sind dagegen Worte? Zeichen für Dinge, die sich dem Zeichenhaften entziehen.

Ich merke es, je länger ich schreibe und Zeichen hinter Zeichen setze, dass diese Sprache, die Sprache grosser Denker, olympischer Geister, von denen heute niemand mehr weiss —, dass diese Sprache nicht in der Lage ist zu beschreiben, was an ihre Stelle getreten ist. Und so muss ich mir denn mit kümmerlichen Metaphern und Bildern behelfen, denn ein Dichter bin ich nicht — kann ich auch gar nicht sein, denn diese Zunft ist endgültig ausgestorben —, um zu erzählen, was nicht erzählt werden kann. Doch Zeugnis muss ich ablegen, ich muss berichten. Pietät freilich verbietet es mir, neue Worte zu erfinden, die Sprache mit Begriffen zu erweitern, die mir meine Aufgabe erleichtern würden. Die Toten soll man ruhen lassen, und meine kümmerlichen Erfindungen, sie wären ohnehin sinn- und kraftlos und könnten die Aufgabe, die an sie gestellt würden, nie erfüllen. Was könnte eine armselige Schöpfung wie ›Bewusstseins-Transmission‹ schon bedeuten? Dieses Unwort, diese Chimäre, kann nicht einmal annähernd die Gewalt des Augenblicks erfassen, wenn ich Du werde, wenn die Mauern der Wirklichkeit zusammenbrechen und den Blick frei geben auf eine neue Welt.

So unterlasse ich denn auch weitere Versuche und bleibe beim Bild der Dämonen, denn dämonisch hätten unsere Zeiten denen erscheinen müssen, deren Sprache ich mich bediene. Diese Sprache, die ich so liebe, die ich konserviere und in Zahlen fasse. Bald ist mein Werk vollendet, wird diese edle und hohe Sprache vollständig in einer langen Abfolge von zwei Ziffern beschrieben und aufgelöst sein, wird sie vollständig erfasst und endgültig tot sein. Denn wer wird sich noch die Mühe machen, sie zu erlernen, wenn alles, was es über sie zu wissen gibt, schon da ist, von einem einsamen Forscher in mühsamer und liebevoller Kleinarbeit in Nullen und Einsen gefasst?

Wir sammeln und konservieren. Neben mir gibt es andere, die die gleiche Aufgabe verfolgen, die ihren kleinen Teil der Vergangenheit erforschen und zergliedern, bis am Schluss die ganze vordämonische Welt in die zwei Ziffern gefasst ist und dann für immer vergessen werden kann. Gemeinsam tragen wir eine vergangene Welt zu Grabe, geben ihr das letzte Geleit, betten sie mit grosser Zärtlichkeit zur letzten Ruhe.

Es ist zweifellos diese Sprache, die Sprache des Königsberger Philosophen, die mich zweifeln lässt, denn im Zeitalter der Dämonen gibt es keine Zweifel mehr. Zweifel bedingt Wirklichkeit, aber in einer Welt, die keine Wirklichkeit mehr kennt, einer Welt, in der die Dämonen die Herrschaft errungen haben, kann kein mehr Zweifel existieren. Wirklichkeit und Illusion, Vergangenheit und Zukunft, Wahrheit und Lüge sind eins geworden. Wir haben die Philosophie überwunden, und nur wer wie ich das Überwundene kennt, wer die Sprache der Denker versunkener Epochen versteht, kann noch zweifeln, kann den Schmerz fühlen, die Unsicherheit, die pure, namenlose Angst. Ich kann niemandem mitteilen, was ich fühle; das heisst, was ich fühle vielleicht, aber nicht, was ich denke. Denn Denken ist Sprache, und Denken in einer toten Sprache ist totes Denken.

Der Gedanke, dass ich vielleicht tatsächlich nicht hier bin, in diesem gut geheizten Zimmer sitze, sondern im Gegenteil in eisiger Kälte liege, oder — nicht auszudenken! — gar nicht bin, und nur nachfühle, was andere für mich erleben, was sich die Dämonen ausdenken, dieser Gedanke ist mir unerträglich. Er bringt mir keine Ruhe. Vielmehr treibt er mich an, nach dem Blei zu greifen und Zeugnis abzulegen.

Die Überwindung der Wirklichkeit, das ist der Fortschritt, das Ende des Suchens. Die Gewissheit, dass es keine Gewissheit gibt, beruhigt. Sie relativiert alles, nimmt die Angst, bringt heitere Gleichgültigkeit. Wie ein weiches Tuch legt sie sich vor die Augen und deckt die Wirklichkeit zu. Wenn es keinen Tag mehr gibt, verliert auch die Dunkelheit ihre Schrecken. Ich aber habe Kunde von einer Zeit, in der das Tuch noch nicht fertig gewoben war, in der Löcher im Gewebe den Blick auf die Wirklichkeit frei gaben, in der noch Zweifel und Unsicherheit herrschen konnten. Ich kenne die Angst vor der Dunkelheit.

Es ist eine Schreckensvision, die mir den Verstand zu rauben droht, ein Gedanke, der so schrecklich, so infam ist, dass es über den Glauben geht. Was wäre, wenn dies alles, die Sprache, und die Zeit, aus der sie stammt, auch nur das Werk eines Dämonen ist? Wenn es dies alles nie gab, wenn ich diese Zeilen in einer Sprache schreibe, die nie gestorben ist, weil es sie gar nie gegeben hat! Wenn mein Zweifel nicht meinem Verstande entspringt, sondern von Wesen, deren Wirken mir verborgen ist, gezielt gesät wurde. All die Unsicherheit, die heilige Raserei meines Geistes, der Schmerz, der Schrecken, das Grauen, all dies nur zur Belustigung einer teuflischen Brut, die amüsiert meine Verrenkungen beobachtet. Es ist nicht auszudenken — und doch: wenn selbst ich, ein unbedeutender Erforscher einer toten Sprache, eine derart teuflische Intrige ersinnen kann, welche diabolischen Einfälle müssen sie dann erst haben? Sie, die ich nicht einmal benennen kann, die mir für immer verborgen bleiben werden!

Und so muss ich denn erzählen. Muss schreiben, die Sprache verlangt es von mir. Die Sprache, die sie ersonnen haben, um mich zu quälen, die nie wieder jemand verstehen wird. Muss Seite um Seite mit Zeichen anfüllen, die für den Aussenstehenden wie das sinnlose Gekritzel eines Wahnsinnigen aussehen müssen. Zeile um Zeile, Seite um Seite, Heft um Heft. Muss schreiben, muss Zeugnis ablegen, denn dies sind Fluch und Schicksal dieser Sprache.

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