molochronik
Sonntag, 11. Mai 2008

David Ramirer: »regen am morgen«

»der andere vogel ist dumm« — sagte das kind, welches neben dem brunnen seit zwei stunden gestanden hatte. die nase des kindes blutete leicht, es war nackt und der mann, welcher aus der seitengasse eben an die szenerie getreten war, verstand den sinn dieser worte nicht, er hatte aber auch keine lust, in den tieferen wert dieser paar worte einzudringen. der brunnen glänzte rotgolden im abendlicht, der gipsmantel des klassizistischen wasserspenders hatte durch die jahrelange bearbeitung des herabkaskadierenden wassers eine leicht oberflächenschleimige konsistenz. am boden krochen maden herum, tausende waren es, seit der weltumspannenden katastrophe vor wenigen jahren hatten die kleinen tiere auf dieser welt extrem an population zugenommen. der mann trat näher an den brunnen, hob seine augenbraue und streckte seine linke hand in den himmel, während seine schwarzschmimmernden schuhe auf den maden herumtrampelten. einige gassen weiter war unterdessen eine ausgelassene stimmung im zerfahrenen buffet ›glace d'north‹, schaufensterpuppen bewegten sich dort zur musik aus den lautsprechern und hunderte klaviere stürzten aus dem himmel, als die katze zu singen begann. es war ein lied der ewigen freude über das dasein auf diesem planeten, eine tragische ode an die ferne von allem, bedeutungslosigkeit kannte keine andere stimme als die ihre. die schaufensterpuppen hatten derartiges noch niemals gehärt und verwandelten sich in eine armee von straßenbettlern, die sich aufbäumten und den mond anflehten, er mäge ihnen das leben wiedergeben, welches in ihren händen derart schän geklungen hatte. die frau des gemüsehändlers versträmte ihren typischen morgengeruch, als die prozession der neuen bettler an ihrem geschäft vorbeirollte. es war eine sexuell erfüllte nacht gewesen, der inhaber des gemüseladens, der auch ihr mann war (seit 25 jahren waren die beiden nun durch den heiligen bund der ehe miteinander vereint) hatte sie liebevoll und auf manigfaltige art und weise genommen, rotbackig stand sie nun in der auslage vor den äpfelchen und präsentierte die ware. ihr mann saß im cafe ein paar straßen weiter, doch die liebe verband sie auch in diesem moment. hubert, so der name des ehegatten, trank eben einen kleinen cafe und nahm ein croissant zu sich, während er die morgenzeitung studierte. nichts stand in der schäbigen gazette über die seltsamen ereignisse in seiner umgebung, keine bildstrecken über den kleinen jungen am brunnen, nichts über schaufensterpuppen, die sich in bettler verwandeln, nichts davon. es war aber auch egal, hubert las die texte in der zeitung nicht, was auch daran lag, dass er analphabet war. in gedanken war er noch immer in der liebesnacht mit seiner frau, dieser drallen, weißen, vollen liebesgättin, die ihm seit so vielen jahren zu gebote stand, die seine perversionen zur gänze mit ihm teilte, und mehr als das ihn auch geschäftlich so wacker unterstützte. die türe des cafes ging auf, ein junger verschreckter kleiner schmutziger zehnjähriger knabe drang in die kleine stube des cafés ohne namen und warf sich mit einem messer bewaffnet auf hubert, der bald jämmerlich verblutete, all seine gedanken und all seine träume vergingen mit ihm in einem kurzen moment der sinnlosen gewalt. der junge wusste natürlich nicht, was er da tat, dafür fehlte ihm der überblick. seine perspektive kannte nicht das lebendige sein selbst, in seinen augen pulsierte nur der wunsch auf gräßere anerkennung, und er sehnte sich nach lebendiger anteilnahme. sofort wurde der knabe zum könig des ganzen landes ausgerufen, in dem sich diese schreckliche bluttat ereignet hatte, und da könige keinerlei demokratischem ernennungsprozess unterliegen kam es auch zu keinen protesten des volkes. in der zeitungslandschaft wurde die neue führung des schönen kleinen landes breit besprochen, es gab ausführliche analysen und polemische artikel mit schrecklichen karikaturen, welche zu ein paar exekutionen führten. jeder hatte verständnis dafür, sogar die betreffenden selbst. lächelnd bestiegen sie das schafott und trennten sich von ihren köpfen, die den meisten dieser ekelhaften schmieranten selbst lediglich als störfaktor erschienen waren. in dieser umgebung eine derartige karikatur oder eine solch polemische wortwahl zu wählen kann nur als der wunsch interpretiert werden, möglichst bald abzutreten und den löffel abzugeben. es gab in den redaktionen der lokalen presse manchmal kleine runden, wo die redakteure, büroboten und lektoren sich zu kaffee und kuchen in arbeitspausen zusammenrotteten um zu diskutieren. manchmal fiel in diesen tagen dann eine kleine träne zu boden, wenn einer aus der runde dann fehlte, das minderte aber die kreative stimmung nicht im geringsten, nein, ganz im gegenteil. es wurden schon neue ›home-stories‹ erarbeitet, photographen machten sich auf den weg um vor ort genaue anatomische studien des neuen königs vorzunehmen und in ausführlichen interviews in gestapo-manier wurde der neue könig seziert wie ein frosch im medizinstudium. karl, ein neuer aspirant im größten blatt des landes, wollte die gewaltigste story des jahres liefern und machte sich (in seiner kargen freizeit!) auf den weg in die gedärme des schlosses, wo er den könig ficken wollte, um dann in einer story zu verkünden, dass der könig homosexuell sei, etwas besonders verwerfliches in diesem land, seiner meinung nach, denn er war von homophobie zerfressen. karl hatte schon in seiner jugend angst davor gehabt, in den arsch gefickt zu werden, und ihm graute davor, dass andere derartige dinge unternehmen. er dachte und erhoffte nun, dass sein großes opfer, nämlich die (vermeintliche) entjungferung des neuen königs, eine revolution einläuten werde, einen umdenkprozess in den köpfen aller menschen des landes, oder gar der ganzen erde, dieser verseuchten kugel aus moralischem müll, die ihre trostlosen bahnen durch die dunkelheit und kälte des kosmos zieht. so träumte karl vor sich hin in seinem kleinen büro im 34. stock des zärtlich ›bergwerk‹ genannten verlagshauses, als marianne an der tür seines büros vorbeiglitt. karl hatte seinen kopf auf den linken arm abgestützt, das eine bein phallisch hochgestützt am knie; am monitor seines computers flimmerte ein bildschirmschoner, der explodierende kreise aller mäglichen größe zeigte, behutsam porgrammiert von den zuständigen feng-shui apologeten des konzerns. dieser bildschirmschoner hielt die mitarbeiter wach, also auch karl, der das rauschen von mariannes gewand, das geklacker ihrer hochhackigen schuhe gehört hatte. karl drehte also, kurz bevor sie die tür passierte, sein stark überschminktes gesicht eines aufstrebenden jungen mannes zur tür und sah die tochter des konzernchefs in ihrer ganzen sexuellen gewalt an der tür vorbeirutschen … zuerst sah er rote vorboten des mehrere dezimeter rund um die figur mariannes auspendelnden kleides aus halb durchsichtigem feinstem seidengespinnst, bevor die weiße blendende farbe der haut ihrer hände sich durch den ausschnitt der welt ausserhalb seines büros schob. die beine trugen die süße last aneinander vorbeikippend, gestützt von den schwarzen stiefelchen, bei welchen die absätze wohl noch nachträglich mit metall verstärkt worden waren, damit jeder schritt das charakteristische klack machte. über dem breit ausladenden hüftbereich, der sich nach einer beachtlichen breitung im vergleich zu den relativ schmalen beinen wieder auf kleinkinderbeissringumfang einfriedete, erhob sich der gar nicht zarte busenraum, der schon jeden mann in diesem gebäude zu dummen witzen und anzüglichen bemerkungen hingerissen hatte. doch gnade gott diesen armen irren, die ihrer männlichen dummheit sich ergeben haben, denn mariannes informelle mitarbeiter waren überall: und wenn ihr zu ohren kam, dass über ihre obere beschaffenheit dumme witze gemacht werden, dann wurde der (oder die) betreffende sofort fristlos gekündigt, ohne angabe von gründen; in vielen fällen war das dann das ende einer karriere. karl sah also diese gewaltige ansammlung von brustfleisch heranwippen und versuchte, nicht nur darauf zu schauen, weil er auch das gesicht zur kenntnis nehmen wollte. irgendwie gelang es ihm, da die langen wallenden schwarzen haare von mariannes kopf sich rund um die weiß aus dem tiefen ausschnitt wabbernden busenrundungen tänzelnd anschickten eine arabeske hinauf zum gesichtchen vorzunehmen, das puppengleich in dem tiefschwarzen pandämonium aus dünnen haaren eingebettet war. dort war absolut nichts dem zufalle überlassen: weinrote lippen, eine makellose nase, riesige blaue augen … leicht gerötete wängelchen. in karls innerem bewegte sich nichts, und zugleich bewegte sich äußerlich alles auf ihn zu, denn marianne ging nicht vorbei, sondern bremste an seiner tür jäh ab und drehte sich um 90 grad gegen den uhrzeigersinn, so dass sie die exakte ausrichtung hatte, um sich bei einem weiteren schritt geradewegs in das büro von karl bewegen zu kännen. der atem karls blieb für ein paar nicht lebensgefährende sekunden stehen, was ihm aber nicht bewusst wurde. marianne schritt bereits in sein zimmer herein, als karl aus seinen leicht verklebten augen, denn es war noch sehr früh am morgen, einen strom von regen entließ, der am boden eine kleine pfütze bildete. marianne blickte vewundert in diese flüßigkeit, in der sie eine spiegelung ihrer selbst erblickte. solches hatte marianne schon einmal erlebt, in ihrer kindheit, jener so schönen zeiten, die so fern waren, unerreichbar. wenige büros weiter trafen gerade mehrere reporter die letzten vorbereitungen für eine expedition in die äußeren regionen des schlosses, was eine sehr gefährliche unternehmung darstellt. die vierzig mitarbeiter wollten eben aufbrechen, als aus dem radio die meldung hereinkam, dass heftige regenfälle aus den schleusen des grollenden himmels eben jede fortbewegung unmöglich machen. also wurde die expedition abgesagt und der krisenstab einberufen. auf den straßen rann das wasser nun, meterhoch brachte die zähe masse alles zum erliegen und das morsche gebälk der alten stadt knarrte unter dem ansturm des tosenden elements. die ohnehin schon armen viertel der stadt würden nun auf eine noch härtere probe gestellt, und selbst die reichen supermenschen würden entbehrungen auf sich nehmen müssen, denn die diener hatten nun große probleme, den lebensstil ihrer geldgeber mit den erwarteten speißen und dem gebotenen komfort aufrechtzuerhalten. es würde — soviel war den reichen klar — zu unangenehmen verzögerungen kommen, das frühstück werde manchmal etwas karger ausfallen, vielleicht werde es sogar manchmal totale ausfälle geben. erst vor ein paar jahren, als zwei flugzeuge in zwei hohe türme sich verflogen hatten, gab es diese störenden dissonanzen im brei des wunderbaren alltags. die ausformungen des elends verströmen ihre diffuse kälte selbst dort, wo sie keinen raum finden, wie ätherische wucherungen formt sich diese verworrene daseinsebene in die furchen dessen, was wir luxus nennen. im schatten des goldes, in der sauberkeit selbst ist das elend als spiegelung vorhanden. die goldberänderten spiegel in der empfangshalle des schlosses wurden eben gereinigt, der könig schritt, leicht irritiert über die heftigen regenfälle, an den spiegeln auf und ab. zu seinen liebsten vergnügungen gehörte es, seit er vor einigen monaten für ihn sehr unerwartet in dieses amt getreten wurde, einfach nur das unermessliche schloss abzuschreiten, sich in den zimmerfluchten zu verirren, von einem flügel in den anderen zu huschen, und die staubwölkchen zu beobachten, die seine lange robe hinter ihm aufwirbelte. seiner neuen gewohnheit entsprechend war er unter der robe nackt, nur der hermelin bedeckte seine kindliche blöße. sein glied hatte für einen zehnjährigen ganz normale dimensionen, war daher noch nicht wirklich einsatzbereit im kampf mit den hunderten frauen des harems, die ihre freude an dem jungen könig hatten, weil sie ihre durch jahrelangen gebrauch schmerzenden vaginas nun erholen lassen konnten. manchmal kam der könig vorbei und spielte mit den damen fangen, oder sie spielten dame, oder er vergrub sich in einem berg von frauen, die alle nackt auf einer matratzenwiese aufgeschichtet waren. für solche spielereien hatte er aber nur sehr selten zeit, meist nahm ihn das betreuende büro in beschlag, denn der könig musste entscheidungen treffen, das war sein beruf. das leben als kind war jedenfalls jetzt vorbei, seine spielsachen aus plastik, holz und metall waren in der elterlichen kleinstwohnung verblieben. selbstverständlich waren die eltern sehr stolz auf ihren kleinen könig, sie wussten schon immer, dass er es einmal weit bringen würde. rund um das elternhaus hatten sich viele menschen versammelt um alles rot anzumalen. jetzt wo der regen nach so vielen jahren endlich wieder einmal aufgehört hatte, war das möglich. mit vielen lackdosen zu je 100 liter mit der prallen kadmiumrotfarbe traten die menschen an. es war eine absolut sinnentleerte, unangekündigte, spontane aktion, alles rund um das elternhaus rot anzumalen, die mit einer erschreckenden präzision über die bühne ging. die eltern saßen im haus auf ihrem fernsehsofa und betrachteten alte videos aus den besseren tagen, als ihr sohn noch bei ihnen war und nicht vom schloß aufgesaugt worden war. es war doch alles besser gewesen in der guten alten zeit, dessen waren sie sich absolut sicher. aus dem fernseher kam die musik eines jahrmarktes, auf dem sie früher oft zu gast waren, hübsche schaubuden standen dort aufgereiht und die bunten lichter glänzten abends im dunkel der einsetzenden nacht. es war vor allem die musik dieses jahrmarktes, der die erinnerungen für die beiden älteren leute lebendig werden ließ, die gerüche der früheren, besseren jahre waren wieder da. behutsam legte der vater die hand um die schulter der mutter und blickte mit tränennassen augen in ihr vertrautes gesicht. im keller des elternhauses saß gremlok der magier und drehte sein gesicht zur decke. all das war sein werk, diese ganze welt mit all ihren problemen und vorzügen, jedes detail war mit akribie ausgearbeitet. nachdem er mit dem gottkaiser hinter den schwarzen bergen nach dem jahrtausendelangen krieg gegen die gnome der unterwelt ausgehandelt hatte, hier ein ruhiges plätzchen zu bekommen, war alles besser geworden. der gottkaiser hatte seine gesamte magische energie damit endlich in ein kleines schwarzes kästchen verbannen kännen, und die dramatische schwarze oberfläche seiner äußeren hülle zerplatzte in einer tröstlichen explosion am horizont. aus dem inneren entschlüpfte die larve des gottkaisers, neu und strahlend. gremlok betreute damals dieses neue herrscherlarvenstadium bei allem, was es benötigte. rund um das schloß, welches aus großen kristallkugeln zusammengesteckt war, wurden viele versammlungen abgehalten, aus welchen eine neue philosophie hervorging. die stadt wurde rund um diese neue philosophie errichtet und die zivilisation besiegte endlich die gnome, viele tiefe sonden wurden in die erde getrieben, stahlrohre mit kilometertiefer bohrkraft saugten alles an unterweltabschaum heraus, was da zu finden war. ganz nebenbei wurde dabei auch das herz des planeten ausgesaugt, gold, edelsteine, öl, kohle,… und endlich wurde es möglich, autos zu bauen, damit die bürger freier über die noch zu errichtenden straßen ihrer wege gehen konnten. gremlok beobachtete aus seinen kleinen roten albinoäuglein die rasante entwicklung in seiner umgebung und wartete den rechten moment ab, den gottkaiser in einer finte zu besiegen. die kinderzeit des neuen homunkulus war einfach, sehr schwierig war die pubertät, doch gremlok war auf alle unwägsamkeiten gut vorbereitet. in der pubertät war es durchaus üblich, dass der neugeborene gottkaiser nichts anderes wollte als religionen zu gründen. jeden tag eine neue religion, mit allem was dazugehört. die bürger waren irritiert und verängstigt, weil es sehr schwierig war, die eigene wahrheitsempfindung täglich aufs neue auf die probe zu stellen. aus dem geblähten bauche des seltsamen wesens, das formlos im zentrum des audienzsaales herumkroch, streckten jeden tag etliche neue religionsauswüchse sich in den wabbernden raum rundum. gremlok war dabei, er ergriff die empfindlichen schwarzen fäden und wickelte sie zu kleinen knäueln auf. diese wanderten dann in die interpretationsmaschine, wo sie zu druckerschwärze destilliert wurden auf tausenden bücherseiten, die dann in der universität interpretiert und analysiert in die gehirne der bevölkerung eingang fanden. jeden tag widersprachen sich die unterschiedlichen metaphorismen und metaphysikalischen überlegungen mehr, der gestank der gedanken war kaum zu ertragen. die bibliotheken konnten nur noch mit gasmasken betreten werden und beschämt verwandelte sich der zuvor noch angesehene beruf des bibliothekars in eine verschmähte hilfsarbeitertätigkeit. das lesen von büchern wurde zu einer sache, die nur noch in der stillen stube als perversion geduldet aber keineswegs gefördert wurde.

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