molochronik
Samstag, 12. Dezember 2009

Jeff Vandermeer: »Finch«, oder: Kriminal-, Rebellen- & Spionage-Wirren in einer von Pilzwesen unterjochten Metropole

Eintrag No. 599 Jeff Vandermeer hat es wieder getan! Wie schon bei seinen früheren, in der ›Secondary Creation‹-Welt der Stadt Amber angesiedelten, Büchern »Die Stadt der Heiligen & Verrückten« (engl. 2002 / dt. 2004) und »Shriek: Ein Nachwort« (2006) staune ich über »Finch«, bin durch die Lektüre verstört, hocherfreut und baff zugleich, und stelle respekterfüllt fest, dass sowohl mein Hirn wie mein Herz immer noch am trippen sind. Worum geht es? Hier meine Übersetzung der entsprechenden Passagen aus dem Presse-PDF zum Roman:

Was ist Amber? Es war einmal, an den Ufern des Moth-Flusses, dass eine mächtige Stadt wie keine andere innerhalb oder außerhalb der Geschichte entstand. Gegründet auf dem Blut der ursprünglichen Bewohner, der verstohlenen und nichtmenschlichen Grauhüte, und auf Jahrhunderte durch die Nachwehen dieses Kampfes geformt, war Amber lange ein Zentrum des Handels und der Künste — und der Herrschaft. Nun jedoch, hundert Jahre nach den Ereignissen die in den früheren Büchern geschildert wurden, bricht Amber zusammen unter der Herrschaft der Grauhüte, die sich erhoben und die Stadt unter ihre Kontrolle gebracht und das Kriegsrecht ausgerufen haben. Mit süchtig machenden Pilzdrogen, Internierungslagern und willkürlichem Terror kontrollieren sie Amber während sie an zwei Türmen arbeiten die das Schicksal der Stadt für immer verändern könnten. Die Überbleibsel der Rebellenstreitkräfte sind demoralisiert und verstreut. Partials, menschliche Verräter die durch die Grauhüte verändert wurden, patrouillieren die Straßen und drangsalieren ihre Bewohner.

Welchen Bezug hat »Finch« zu den anderen beiden Amber-Romanen? Obwohl jeder Amber-Roman für sich selbst steht, bilden die drei Bücher zusammen den »Amber-Zyklus«, eine enorme 1700-Seiten lange Erzählung. Viele Figuren und Themen kommen in allen drei Büchern vor, und »Finch« liefert Antworten auf Fragen zu den Grauhüten und die Natur der Stadt selbst betreffend, die zum ersten Mal in »Die Stadt der Heiligen & Verrückten« gestellt wurden.

Wie ist Jeff Vandermeer auf die Idee zu Amber gekommen? »Eines Nachts erwachte ich von einem lebhaften Traum und da war die Stadt in meinem Kopf. Sofort eilte ich zum Computer und schrieb die ersten Seiten der ersten in Amber angesiedelten Geschichte. Seltsamerweise benötigten diese ersten zwei-, dreihundert Worte kaum eine Überarbeitung. Von da an entwickelte sich bald die gesamte phantastische Stadt in meiner Vorstellung. Ich schrieb Erzählungen in diesem Setting, die schließlich zu Teilen von ›Die Stadt der Heiligen & Verrückten‹ wurden, und um 1998 herum hatte ich die groben Konturen des Amber-Zyklus ersonnen. Es dauerte zehn Jahre um die drei Romane zu beenden. Es war mir nie klar, dass ein Augenblick der Inspiration dazu führen könnte einen Vollzeitschriftsteller aus mir zu machen, oder dass er so bestimmend für mein Leben werden würde. Zudem haben mich die Reaktionen von Kritikern, Lesern und Fans Demut gelehrt.«

Betörendes Titelbild: John Coulthart hat ein mich begeisterndes Cover geschaffen. Der Umriss der Pistole macht klar, dass hier mal ›Secodary World‹-Phantastik geboten wird, die näher zu unserer Gegenwart angesiedelt ist als üblicherweise gewohnt. Die goldene Kreuzung aus Koralle, Seestern und Pilz ist ein technisches Gerät der Grauhüte. Im Griff der Pistole sieht man teilweise eine handschriftliche Chronik, ein Hinweis, dass Geheimnisse der Vergangenheit eine Rolle spielen. Im Lauf der Knarre erhebt sich ein Büschel prächtiger Türme, die jedoch überragt werden von einem großen Pilzturm der Grauhüte. Ein Detektiv im Anzug mit Kravatte und Hut (yeah!) kommt aus Schatten auf uns zu (wer meinen Klamottenstil kennt {siehe Kopfschmuck oben} kann sich denken, wie sehr mich das bereits anturnt). Wie es sich für ›Fungal Noir‹ gehört, ist das Cover farblich überwiegend von hübschen Schimmelpilzstrukturen überzogen.

Cooler Aufbau: Die Gegenwarts-Handlung erstreckt sich über eine Woche. Und die 42 Kapitel sind entsprechend auf Montag bis Sonntag verteilt. Montag bis Samstag werden eingeleitet von einem Verhör, dass sich im späteren Lauf der Handlung ereignet. Superspannend, da nicht vorweggenommen wird, wer da den armen Finch in die Mangel nimmt, und weshalb genau. Die auktoriale Erzähler›kamera‹ ist nüchtern immer nah bei Ermittler Finch, hie und da unterbrochen von dessen kursiv gesetzten Gedanken. Gewürzt wird das durch einige ›Handouts‹, sprich, Zeichnungen, Ausschnitten von gefundenen Notizen, Büchern und durch Ermittlungs-Protokolle.

Kecker Genre-Bastard: Krimi, weil es um die Aufklärung eines Doppelmordes an einem Menschen und einem Grauhut geht. Die Opfer werden in einer Wohnung gefunden, scheinen aber seltsamerweise durch einem Sturz aus größerer Höhe gestorben zu sein. Vom toten Grauhut liegt zudem nur der Oberkörper herum. — Spionage- & Polit-Thriller, weil Detektiv Finch bei seinem Versuch die Morde aufzuklären in einen vielstrangigen Konflikte-Knäuel verschiedener Interessensgruppen hineingezogen wird. — Fantasy bzw. Science Fiction, denn es wird Dank der nichtmenschlichen Art der Grauhüte und ihrer Kultur brilliant mit dem Thema Magie/höhere Technik gespielt, entsprechende Gadgets und Monster geboten. — Magischer Realismus und Weird Fiction da die Grenzen zwischen Wahrheit und Schein, Alltag und Transzendentem im Romanverlauf immer mehr verschwimmen und durch steigenden kosmischen Horror die einzelnen klar zu benennenden Phantastik-Genregrenzen solange miteinander kurzgeschlossen werden bis die Funken Sporen blühen. — Kriegs- und Überlebensgeschichte weil die Gegenwartshandlung in einer von Konflikten, Okkupation und Zerstörung gezeichneten Stadt(ruine) spielt, die normale Zivilisation zusammengebrochen ist und man von Tag zu Tag ums Miteinander- und Überleben ringt.

Weitere glänzende Erzählkunst-Facette: Ähnlich wie bei China Miévilles Romanen bin ich beeindruckt, wie Meister Vandermeer Stil und Atmosphäre seiner Bücher sehr gekonnt dem jeweiligen Inhalt anpasst. — »Die Stadt der Heiligen & Verrücken« bot als labyrinthischer Collage-Roman das Vergnügen, dass man sich in einem absichtlich vor barocker Unübersichtlichkeit strotztenden Rummelplatz der Ideen und Perspektiv- und Tonwechsel verliehren konnte. — »Shriek: Ein Nachwort« lud ein, sich auf einen durch die Erzähler Janice und Duncan Shriek geprägten autobiographischen Dialog einzulassen, war entsprechend persönlicher und individueller, näher an diesen Figuren dran. — »Finch« ist nun von der Gradlinigkeit eines ›typischen‹ Krimis geprägt und weiß mit seinem überwiegend knappen, herben Satzbau für sich einzunehmen, aus der die halluzinogeneren wilden Phantastik-Kunststücke um so effektiver hervorwuchern. Wie ein englischer Rezentent richtig bemerkte, gönnt sich »Finch« von allen dreien Amber-Büchern am wenigsten Humor, was aber passt und kein Verlust ist.

Krasser & zugleich berührender Schluß: {VORSICHT!!! Möglicherweise milde SPOILER} Das Ende von »Finch« erinnert mich (im Guten und Besten) wiederum an China Miéville und den Schluß von dessen zweitem ›Bas-Lag‹-Roman »The Scar«, teilweise auch an die Apokalyptik von Alfred Kubins »Die Andere Seite«. — Die Kriminalhandlung wird aufgelöst. Der größere Konflikt zwischen den Grauhüten, den Menschen und noch anderen Fraktionen allerdings nicht (wirklich). Wie es sich für einen ordentlich Phantastik-Roman gehört, kommt es zwar zu einer vorläufigen Überwindung der akutesten Widrigkeiten, aber der größere Handlungsrahmen um das Schicksal der Stadt Ambra mündet dennoch in einer atemberaubenden Entwicklung, durch die ein großes Fenster zu überwältigend vielen Möglichkeiten geöffnet wird. Kurz: richtig große ›Sense of Wonder‹-Portion.

Fazit: Jeff Vandermeer hat wieder mal gezeigt, das ›Fantasy‹ und ›Phantastik‹ als Genres keineswegs reaktionär oder altbacken oder simpel zu sein haben und lediglich dazu taugen Tagtraumvorlagen für kleine Fluchten vom langweiligen und nervigen Alltagstrott zu ermöglichen. Es besteht für mich kein Zweifel, dass er zu jener kleinen Schaar gegenwärtiger Autoren gehört, bei denen man der Phantastik beim Wachsen zuschauen kann. — Ich hoffe natürlich, dass auch diesmal wieder das Team von Klett-Cotta diese Gemme auf Deutsch verlegen wird.

LINK-SERVICE: Es ist mir ein Rätsel, wie Vandermeer so viel gebacken bekommt, wie er in seinem Blog und anderswo verbreitet. Gut für mich neugierigen Leser, der ich ich gerne einen Blick hinter die Kulissen des Schreibens werfe. In zwei Blog-Einträgen zeigt Jeff uns, wie der Roman »Finch« entstanden ist. Hier: »Finch: What a Novel and Novelist Look Like…« (wieder Mal ernüchternd, dass Autoren die großartige Bücher schreiben, nicht unbedingt eine lesbare, schöne Handschrift haben müssen); und hier: »Finch from Inception to Interior Layout«, mit Einblicken über Probeleser- & Lektoren-Anmerkungen.

Zum zweiten Mal hat Vandermeer einer seiner Lieblingsband dazu verführen können, einen ›Soundtrack‹ zu seinem Roman einzuspielen. Bei »Shriek« war es die Gruppe The Church (nicht soooo mein Ding), und nun für »Finch« hat Murder By Death einen mir sehr gefallenden Score geschaffen. Hier geht es zu einem Interview, das Jeff mit der Band für das Amazon-Blog ›Omnivoracious‹ geführt hat: »Murder by Death on Books, Touring, and The Soundtrack for Finch«

Und schließlich noch die ersten 52 Seiten von »Finch«.

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Jeff Vandermeer: »Finch«; 42 Kapitel in 7 Abschnitten auf 339 Seiten; Underland Press 2009; ISBN: 978-0-9802260-1-0
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