Jesse Bullington: »The Sad Tale of the Brothers Grossbart«, oder: Hexenzauber, Pestdämonen, Nixengesang & zwei Grabräuber auf der Suche nach ganz viel Gold
Eintrag No. 603 — Auch wenn ich mittlerweile wegen meines Brotjobs weniger Zeit habe, versuche ich mindestens ein-, zweimal im Monat einige Stunden frei zu machen für Anlese-Sessions im großen örtlichen Buchkaufhaus. Da geraten mir empörend viele Romane in die Finger, die sich offenbar an den so genannten ›Durchschnittsleser‹ wenden. Romane, die ich nach 10 bis 20 Seiten zur Seite lege, weil sie eben, nun ja, zu zahm, zu charakterlos und zu konformistisch sind. Wenn ich mal ich Bock auf solchartig stromlinienförmig-narrative Stangenwahre habe, dann vertraue ich mich lieber Filmen, TV-Stoffen an (und auch Comics; ich sag nur: Schauwerte). Da kann ich es verstehen, wenn Geschichten vor Angepasstheit strotzen, wenn das Produkt nicht zuuuuu schräg und originell sein darf und kann, da hohe Herstellungskosten wieder reingeholt werden sollen und/oder man auf die Befindlichkeiten von Sendern und Werbekunden Rücksicht zu nehmen hat. Bei Literatur hege ich allerdings höhere Ansprüche. Hier erwarte ich, dass sich der eine Macher darum bemüht, eine wirklich eigene, unverwechselbare Stimme und Geschichte zu bieten, und mich nicht langweilt mit Kompromissgedöns.
In entsprechend lebhaftes Entzücken versetzte mich schon der Beginn des Debüts von Jesse Burlington »The Sad Tale of the Brothers Grossbart«. Bereits der erste Satz (hier in meiner Stegreifübersetzung) faselt nicht um den heißen Brei:
Und ich denke nicht, dass ich unbotmäßig viel verrate, wenn ich die 6-einhalb Seiten des ersten Kapitels stichpunktartig zusammenfasse:
Die Zwillinge Manfried und Hegel Grossbart stammen aus einer Grabräuberfamilie. Mama war geistig zurückgeblieben. Papa hat sie mit den Kleinen sitzen gelassen und wurde irgendwo im Norden gelyncht. Ein Onkel hat die beiden erzogen und ihnen das Grabräubern beigebracht. Manfried und Hegel wollen dem Vorbild ihres Großvaters folgen, der es laut Familienlegende bis zu den opulenten Gräbern der Heiden von ›Gyptland‹ geschafft hat. Nun schreibt man das Jahr 1364, und in Bad Endorf wollen sich die Brüder sich für ihre Reise ausstatten, indem sie den Hof des Rübenbauern Heinrich plündern, aus Rache, weil Heinrich einst die rübenstehlenden jungen Grossbarts mit der Schaufel verdroschen hat. Als sie das Haus des Bauern stürmen, greift dessen Frau die Brüder mit einer Axt an. Im Handgemenge bekommt Manfried die Axt zu fassen und erschlägt damit die Frau. Dann haut er beim Stöbern durchs Haus der ebenfalls wehrhaften Tochter die Axt übern Kopf. Heinrich will in die nahe Ortschaft fliehen um Hilfe zu holen, doch die Grossbarts drohen das Haus, in dem sich noch die zwei Babies der Familie befinden, in Brand zu stecken. Heinrich bleibt, doch es nützt nichts: Die Brüder schlitzen dem Sohn vor den Augen seines Vaters die Kehle durch und zünden das Haus an (und die Babies verbrennen mit kläglichen Geschrei), klauen Karre, ein Pferd, Brauchbares aus dem Haus und Rüben und machen sich davon. — Kurz: die ›Helden‹ des Romanes sind richtig finstere Kerle.
Doch nicht nur der Umstand, dass die Hauptfiguren des Romanes brutale, erschreckend rücksichtslose und eigensüchtige Kerle sind ist dazu geeignet sanftere und sich nach kuscheligen Fantasy-Träumen sehnende Leser abzuschrecken. Das 14. Jahrhundert von Jesse Bullington hat so gar nichts mit glatten, sauberen romantischen Mittelalter-Verklärungen gemein (a la »Der erste Ritter« mit Richard Gere), sondern beschwört nach Kräften ein schmutziges, matschiges, grindiges ›finsteres Mittelalter‹ (siehe z. B. »Jabberwocky« von Terry Gilliam). Wenn bei »Brother Grossbarts« gekämpft wird — und es gibt eine Reihe effektvoll und packend inszenierte lange Kampfszenen –, ist das eine blutige und schmerzvolle Sache. Und Bullington ist studierter Historiker und Volkskundler. Gehe ich also mal davon aus, dass er wohlrecherchierte Gründe hat, seinen Lesern ein harsches Mittelalter zusammenzubrauen.
Bullington schöpft aus dem Vollen, was hahnebüchenden Aberglauben und die Grenze zur Häresie übertretenden haarsträubenden (un-)christlichen Glauben betrifft. Das wird ebenfalls früh im Buch anhand einer theologischen Plauderei der Brüder Grossbart im dritten Kapitel offenkundig. Das geht ungefähr so: Hegel fragt sich, wie es sein kann, dass die Heilige Jungfrau Maria einen gar so verzagten Sohn zur Welt gebracht hat. Immerhin hat sich Jesus am Kreuz nicht ›ehrenvoll‹, sondern wie ein Weichei verhalten. Er hätte einen seiner Peiniger ja wenigstens mal treten können. Manfried erklärt seine theologische Sicht: der HErr wollte Maria schwängern, doch die wollte reine Jungfrau bleiben und ließ den lieben GOtt abblitzen. GOtt schwängerte sie dennoch (und wie Manfried später erklärt, blieb Maria trotzdem weiterhin Jungfrau, denn eine Vergewaltigung zählt ja nicht), und dafür hat sich Maria gerächt, indem sie Jesus zum Waschlappen erzog. Manfried stimmt ein Lob auf die Jungfrau an (Seite 28, Übersetzung von Molo):
Und darum ist Sie heilig, Bruder. Von allen Leuten die der Herr geprüft und bestraft hat, ist die Sie die einzige die es im heimgezahlt hat, und zwar schlimmer als er es Ihr besorgt hat. Deshalb setzt Sie sich auch für uns ein, denn Sie liebt diejenigen, die dem Herren die Stirn bieten, mehr als jene, die vor ihm knien.«
Kein Buch also für Leser die ein empfindliches christliches Gemüth haben.
Was gibt’s noch? Ach ja, Monster vom Feinsten! Und die Magie dieses Mittelalters ist stark vom überlieferten Volksglauben geprägt und entsprechend eklig (Eiter, Speichel, Samen und andere übelriechendere Körperflüssigkeiten quellen stellenweise reichlich). — Beeindruckend der Auftritt eines der Hölle entflohenen Pestdämons, der in den Körper eines jungen Reisen geschlüpft ist, wenn er nackt, vor Fieber im kältesten Alpenwinter dampfend auf einem Eber dahergeritten kommt. — Wunderbar die Darstellung der Hexe Nicolette und ihrer wahrhaftig grauenvollen Brut. Nicolette ist ein ganzes Kapitel Vorgeschichte gewidmet, Dank dem diese Widersacherin mehr ist als nur ›böse‹ (na ja, eigentlich kein Kunststück, wenn die Protagonisten selbst von derart zweifelhafter Moral sind, dass sie in den allermeisten Geschichten die besten Übeltäter abgäben). Aber dass Nicolette und ihr Dämonengatte im einsamen Wald die kargen Winter überstanden, indem sie Kinder zeugten die sie dann verspeisten ist schon starker Tobak. Wird aber noch gesteigert, wenn Nicolette zwei frische kleine Monsterbälger mit den über Jahren gesammelten Kinderzähnen versorgt, so dass dieser Brut dann am ganzen Körper gierig schnappende Mäuler wachsen. — Ach ja: eine geheimnisvolle (weil stumme) Nixenschönheit sorgt für (dezente) erotische Wirren, vor allem bei dem sensibleren Manfried.
Neben Wäldern, winterlichen Bergstraßen, menschenverlassenen Klöstern gibt’s zur Abwechslung im weiteren Romanverlauf Abenteuer im frühlingsdurchlüfteten Norditalien und für einige Kapitel sind die Grossbarts im Stadtpalast eines ziemlich rumpeligen Piraten-Kaufmanns in Vendig zu Gast. Schließlich überquert man das Mittelmeer und erreicht Alexandria mit dem christlichen Kreuzzug-Überfallheers unter der Leitung von König Peter I. von Zypern.
Einige Leser haben bemängelt, dass die Episodenfolge des Roman einen etwas ruckelnden Verlauf bildet. Ich fand das keineswegs störend, sondern ließ mich berauschen von der bisweilen munter-knartzigen Sprache und genoss es, mich in ein magisches Mittelalter entführen zu lassen, in dem reichlich ungewöhnliche, sperrigere Figuren auftreten und das mich nicht nervt mit den üblichen langweiligen glatten Typen (der naive Gutmein-Held, die Unschulds-Trulle, der hämische Fiesling, der weise Kuttenopa ect pp ff).
Anfang Dezember 2009 hat Jesse Bullington froh verkündet, dass Bastei Luebbe die Rechte für eine deutsche Ausgabe des Romanes erworben hat. Ich hoffe inbrünstig, dass man für die hiesige Ausgabe der Umschlaggestaltung der englischsprachigen Originalausgaben treu bleibt und das Vexierbild von Istvan Orosz verwendet. Wenn nicht, möge die Heilige Jungfrau mit ihren gerechten Zorn Luebbe strafen!
Ich bin schon gespannt auf Bullingtons zweiten Roman »The Enterprise of Death«, der im November 2010 auf Englisch erscheinen soll und im selben Weltenbau wie die Grossbarts angesiedelt ist, allerdings diesmal zur Barock-Zeit der Spanischen Inquisition, und es soll weniger darum gehen, Gräber zu öffnen und Leut’ in selbige hineinzuprügeln, sondern darum, die Toten aus Gräbern wieder auferstehen zu lassen.
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LINK-SERVICE:
Ende November, Anfang Dezember 2009 hat Jesse eine Werktagswoche als Gastautor für das »Amazon«-Bücherblog »Omnivoracious« beigetragen:
- »History, Fantasy, and the Blurry Lines of Literature«
- »The Sweet Filth of History«
- »Any Genre, Potentially: The Stories of Now«
- »Film and Fiction as Partners in an Author's Literary Development«
- »Navigating The Intent of a Fickle Author«
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mythosoph
Tolle Besprechung, molo. Macht mir Lust auf das Buch - auch wenn ich da erstmal auf die (hoffentlich ansehnlich gestaltete) deutsche Ausgabe warte.
Ich hoffe, dass ein wenig off-topic hier im Kommentar machbar ist:
Wird's von dir in naher Zukunft auch ein paar erhellende Kommentare zu Gilliams "Dr. Parnassus" geben? Dürfte sich doch auch irgendwo zentral auf deinem Geschmackssensor bewegen... könnte ich mir jetzt so vorstellen.
Gruß vom (meist) stillen Mitleser
molosovsky Besitzerin
Danke mythosoph.
Zu den zig Projekten, die ich leider nicht mit der nötigen Disziplin umsetzte, gehört, mal flotter Filmrezis zu liefern. Genauer gesagt: thematische Bündel zu bestimmten Themen & Filmemachern. Terry Gilliam steht da in der Tat sehr weit oben auf meiner Will ich machen-Liste, denn er gehört zu der Handvoll Filmkünstler, die ich bewundere und die mich geprägt haben.
Eigentlich wollte ich gestern gleich in Parnassus gehen, aber leider kam mir da ein Notruf meines Brotjobs dazwischen. Aber vorraussichtlich bin ich am Dienstag im Kino.
HPLCthulhu
Ich halte das wie mythosoph und hoffe auf eine baldige deutsche Erscheinung.
molosovsky Besitzerin
Grob übern Daumen würd ich schätzen: Frühjahr/Sommer 2011. — Mich würde ja interessieren, wer den Roman für Luebbe gefischt halt.
Sie nannten Ihn Kangaroo
Gestern bestellt und dann nach FFords "The Eyrie Affair" das nächste Buch in der Pipe...bin ja mal sehr gespannt, das klingt alles doch sehr gut
molosovsky Besitzerin
Willkommen bei der Molochronik, Kangaroo.
Ich hoffe, Du hast mindestens halb so viel (diebische) Freude wie ich mit den Grossbarts, denn das ist dann schon eine ganze Menge Freud. Ansonsten: ich habe gewarnt.
Sie nannten Ihn Kangaroo
Nach 100 gelesenen Seiten, mein erstes Fazit :
Das ist wohl eines der widerlichsten und bösartigsten Bücher die ich jemals gelesen habe...einfach genial ! Kann nur jedem mit auch nur einem Hauch schwarzen Humors, dieses Buch ans Herzen legen.
Hr. Molosovsky ich danke ihnen erneut für diesen ganz exquisiten Buchtip.
Einziger Wehmutstropfen ist wohl mein für das Buch mangelhafter englischer Wortschatz, da sich Bullington doch recht vieler in meinen Augen alter Wörter bedient. Eins der wenigen englischen Bücher, wo ich doch öfters meine Schwierigkeiten mit dem Verständnis habe...
molosovsky Besitzerin
Bei mir waren auch die ersten paar Kapitel zum Kalibrieren nötig. Weniger wegen der Vokabeln, eher wegen des Satzbaus und der Art, wie die Brüder sprechen.
Übrigens! Die Ideal-Besetzung für die Brüder wären ja (25-jährige) Volker Prechtl und Gottfried John. Leider ist das so gar nicht mehr möglich, denn Prechtl ist ja schon tot.
molosovsky Besitzerin
Da drohe ich extra mit einem Fluch und dann das! — Bastei mausert sich für mich schön langsam aber sicher zu dem Publikums-Verlag, dem der Titel des Cover-Barbaren No. 1 gebührt. Nicht nur, dass man auf die schöne und harmonisierende Gestaltung des Originals pfeifft (das ist ja eh Usus hierzulande: bloß nix Feines der Originalausgabe zu übernehmen, lieber was bescheidenes Eigenes zusammenschustern) und statt des schönen Holzschnitts ein augenschmerzend weichgespühltes ›McFäntäsy‹-Gepinsel auf den Umschlag klatscht. Nein, den optischen Kniff des Originals klaut man dann schon. — Ich Ärger mich und zwar fett. — Bin zu schockiert, um mehr über die schräckliche Typographie zu schreiben, außer: Arrrgh! — Heilige Jungfrau, zürne und räche!
molosovsky Besitzerin
Jesse Bullingten hat in seinem Blog verkündet, dass sein erster Roman unter dem Titel »La Triste Histoire des Freres Grossbart« in Frankreich erscheinen wird. Und was machen die mit Geschmack gesegnten Franzmäner: verwenden das nicht zu übertreffende Original-Artwork von Istvan Orosz. Nehmt Euch ein Beispiel, Bastei-Gestalter!
Bin mal gespannt wie die ebenfalls in diesem Jahr erscheinenden italienischen und polnischen Ausgaben aussehen werden.