Cherie Priest: »Boneshaker«, oder: Alternativwelt-Seattle 1880 mit Luftschiffen & Zombies
Eintrag No. 601 — Okey, ich geb’s ja zu, dass ich derzeit eine Steampunk-Phase durchmache. Aber ich habe schon länger eine Schwäche für in Alternativ- oder Zweitschöpfungs-Welten angesiedelte Phantastik, welche entsprechend als Inspiration auf das 19. Jahrhundert (plus/minus einiger Generationen früher oder später) zurückgreift. Mir sind Wells und Verne als Väter von Fantasy-Bastards allemal lieber als die üblichen ollen verdächtigen Mittelalter- und Archaik-Schönträumer a la Tolkien. (Eigentlich müsste man mal anfangen ›Tolkien‹ statt Tolkien zu schreiben, besser noch ›McTolkien‹, denn sein Name wird in Phantastik-Argumentationen eh nur als Platzhalter verwendet … auch von mir freilich).
Auf »Boneshaker« von Cherie Priest wurde ich durch Empfehlungen des deutschen Steampunk-Blogs »Clockworker«, Hinweisen von Scott Westerfield und Jeff Vandermeer aufmerksam. Das Buch ist noch nicht auf Deutsch erschienen, die Übersetzungen liefere ich aus dem Stegreif. (Schon mal zum Seufzen, dass die beste Entsprechung für das knappe englische ›Boneshaker‹ das umständlich klingendere aber dennoch schöne ›Mark- und Beinerschütterer‹ ist.)
Zum Glück für den Roman hat mich beim Anlesen im Laden bereits der eröffnende 6-seitige Auszug des in Arbeit befindlichen fiktiven Sachbuchs »Unwahrscheinliche Ereignisse aus der Geschichte des Westens« eines gewissen Hale Quarter aus dem Jahre 1880 überzeugt. In »Kapitel 7: Der seltsame Zustand des ummauerten Seattles« wird prall das Setting vorgestellt: Goldrausch an der Westküste: Entdeckung einer großen Goldader unter Permafrosteis. Seattle ist noch nicht Teil der Vereinigte Staaten. Eine russische Interessensgruppe lobt einen fetten Rubelbetrag für eine Machine aus, die das Gold schürfen kann. Ein Erfinder names Leviticus Blue baut ein Riesenbohrerfahrzeug, verursacht damit 1863 bei einem Testlauf ein ansehnliches Desaster, mit dem das Geschäftsviertel von Seattle lahmgelegt wird. Aus den in den Untergrund gebohrten Tunneln wabert ein schweres Pestgas (engl. ›Blight‹) an die Oberfläche, das massenweise die Leute krepierten läßt und sie zu willenlosen frischfleischgierigen Untoten, vulgo, Zombies macht. Die Überlebenden bauen geschwind eine 61 Meter hohe Mauer um das verseuchte Gebiet und fünfzehn Jahre später setzt die eigentliche Handlung ein.
Fast hätte ich dann bei den ersten vier Kapiteln das Handtuch geschmissen, denn Priest meidet raffende Dramaturgie und läßt sich nicht hudeln, um die Heldin Briar Wilkes und ihren Sohn Zeke vorzustellen. Da wird Arbeitsklamottenausziehen, Essenmachen, jeder Wechsel von einem Zimmer ins andere, fast jede Wendung eines Dialoges mit entsprechender Mimikreaktion und Mimikdeutung beschrieben. — Briar schuftet in einer Wasserfilterungsfabrik im Siedlungsgürtel um das verseuchte Seattle. Als Witwe des verschollenen wahnsinnigen Wissenschaftlers Blue hat sie mit dem Groll der Leute zu ringen. Allerdings war ihr Vater ein legendärer Sherriff, der bei der Blight-Katastrophe sein Leben ließ um Gefängnisinsassen vor dem Tod zu retten. Immerhin sind also einige Leut der zwielichtigen Gesellschaftsschicht ihr wohlgesonnen. Ihr fünfzehnjähriger Sohn Zekes macht die Pubertätsphase durch, nicht auf Authoritäten und Anweisungen hören zu wollen, und bricht gegen den Rat seiner Mutter auf, mehr über seinen Vater zu erfahren, mit dem Ziel in dem ummauerten Seattle Beweise zu finden, um Leveticus Blues schlechten Ruf zu tilgen.
Der Roman steigt dann richtig in die Eisen, kaum dass die Handlung sich ins von Zombiehorden (die hier ›rotters‹, also ›Verwesende‹ genannt werden) geplagten (Ex-)Seattle verlagert. Im Prinzip eine Variation des »Die Klapperschlange«-Motivs. Gesperrtes, mordsgefährliches Gebiet mit lauter hartgesottenen Durchgeknallten; wichtiges Quest-Ziel ist dort zu finden und dann heißt es wieder heil rauszukommen. — Da erscheint mir auch die Ausführlichkeit von Priests Prosa sinnvoll, wenn das Fluchttunnel- und Rettungsleitern-, AntiZombiebarrieren-, Luftschleusen- und Belüftungssystem der Überlebenszonen geschildert wird (übrigens sehr reizvoll wie sehr diese der tödlichen Blight-Gasumwelt abgetrotzten ÜberLebebsräume einer Raumstation gleichen. Buchstäblich die gleiche spannende Athmosphäre wie in Weltraum-Sagas, wo oftmals die Gefahr der lebensunmöglichen Weite des Alls beschworen wird.)
Zeke findet mit einem Tag Vorsprung durch die ehemaligen Kanalisiationstunnel unter der Mauer hindurch seinen Weg in die Stadt. Briar folgt ihrem Sohn, doch muss sie wegen eines die Tunnel zerstörenden Erdbebens mit Hilfe von Luftschiffschmugglern einen Weg über die Mauer finden. — Kein Zweifel: Neben den Zombies ist die waschechte Steampunk-Athmo der Luftschiffe eine der Hauptattraktionen dieses Phantastikweltenbaus. Und so darf der geneigte Genreleser sich auf kernige Männer, exotische Crewmitglieder mit entsprechenden Piratengebahren, Luftkämpfe und Absturztumult freuen. Zu den Besonderheiten des Blights gehört, dass sich aus diesem Unglücksgas eine opiumartige Droge herstellen läßt (die zum Beispiel bei den Soldaten des länger als in unserer Echtwelt andauernden amerikanischen Bürgerkrieges immer größerer Beliebtheit erfreut). Die Luftpiraten machen ein gutes Geschäft als Zwischenhändler dieses Stoffes, und lassen sich deshalb auf den eigentlichen Herrscher des ehemaligen Seattles ein, den geheimisvollen und gefährlichen Dr. Minnericht.
Cherie Priest weiß wirklich überwiegend mit einer gut arrangierten Reihe hervorragend inszenierter Kapitel zu unterhalten. Leider nervte sie mich aber manchmal mit einer Dramaturgie, in der durch den Wechsel der beiden Hauptfiguren, Briar und Zekes, Informationen doppelt und dreifach ausgebreitet werden, und Zufallsbegegenungen und -Ereignisse mir etwas zu oft aus der Klemme halfen oder diese erst bereiteten. Aber als schnell wegzublätternde Zwischendurch- und Unterwegslektüre fand ich »Boneshaker« unterm Strich durchaus gut.
»Boneshaker« ist der erste Roman aus einer Reihe für sich stehender Erzählungen aus der Alternivwelt des »Uhrwerk-Jahrhundert«. Zwar habe ich das Gefühl, dass ich ich, ähnlich wie bei Gordon Dahlquist, schon durch ein Buch gesättigt bin, aber wenn mich die kommenden Romane von Preist beim Anlesen ködern können (Dahlquists Fortsetzung konnte das nicht), greif ich gerne wieder zu.
P. S.: Vor kurzen in die Sparte ›Kunst‹ meiner Linkliste aufgenommen wurde die Website von »Boneshaker«-Coverkünstler Jon Foster.
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