molochronik
Montag, 2. Juli 2007

Sid Jacobson und Ernie Colón: »The 9/11 Report« — Das Comic

Eintrag No. 382 — Verwirrung erstmal. Zuviel Ungeheuerliches ist auf einmal geschehen. Wie der Fuß eines Riesen stampfte das ›Schicksal‹ einmal in den USAmeisenhaufen. Wie immer, wenn z.B. Präsidenten erschossen wurden, Schiffe sanken, Atomkraftwerke hochgingen, Raumfähren explodierten, Sekten in U-Bahnen die Apokalypse einläuten wollten oder Einzelgänger im Amokrausch einen Haufen Mitmenschen killten, sicher ist: Jedes spektakuläre Unglück zieht investigative Anstrengungen nach sich. Die Betroffenen und Hinterbliebenen möchten verzeifelt verstehen: »Wie es dazu/soweit kommen konnte?«.

Wie wohl so manch anderer auch, habe ich noch einen Stapel Berichte, kopierte Zeitungsartikel und Sonderausgaben verschiedener Magazine über IX.XI angesammelt. Da kommt mir nun dieses Sachcomic, das auf dem gleichnamigen, sehr dicken Report der 9/11-Untersuchungskommission beruht, gerade recht.

Immerhin führt gleich der Beginn eindringlich vor, welche großartigen Darstellungsmöglichkeiten die graphische Erzählform bietet. Statt die Unglückschronologie der vier entführten Flugzeuge nacheinander aufzubereiten, stellt das Comic auf den etwa ersten 30 Seiten in vier waagrechten Schichten die zeitliche Folge der Ereignisse gleichzeitig dar. Der Umstand, daß das letzte der vier Flugzeuge noch gar nicht gestartet war, als der erste Flieger in den Nordturm des World Trade Centers einschlug, wirkt auf diese Weise besonders verstörend.

An besagten September-Dienstag vor sechs Jahren kramte ich doch mal wieder (nach einigen Monaten der Vernachlässigung) damalige Kladde heraus und schrieb:

11. September 2001: Anschlag auf USA. Nicht überrascht. Habe ein solches mit dem zunehmenden Chaos seit Regierungsantritt von Bush jr. mehr oder minder erwartet. Inzwischen, nach 6 St. Infosucking breche ich (emotional & konzentrationsmäßig) a weng zusammen. Dies ist für die Meisten wohl der Beginn eines neuen Zeitalters. Die ›Moderne‹ ist vorbei, wobei die Chance ist, daß Amerika (und der Westen) zum Erwachsensein und Beenden ihrer Heuchelei ›geprügelt‹ werden. In SF-Welten wird manchmal etwas vorgestellt, daß im frühen 21. Jhd. anhebt: The New Dark Ages.

Auch heute noch empfinde ich die IX.XI.-Anschläg auf World Trade Center, Pentagon und Weißes Haus größtenteils als etwas Beruhigendes, Klärendes. Die Welt hat sich mal unumwunden als das entblößt, wofür ich sie (kleiner Katasthophikus der ich bin) schon lange halte; als chaotisches Jammer- und Jubeltal, als Arena der Rangelein um Verwöhnungsresourcen aller Parteien die auf dicke Hose machen. Jedes Kollektiv will halt erstmal für sich und seine Leute ein schickes Paradies abgrenzen. Zugegeben: seit den Anschlägen wurde deutlich, wie sehr ›dem Westen‹ — sprich: den Ex-Kolonialmächten der Globalierungstäter — das von ihren Aufbruchsdynamiken verursachte Ungleichgewicht und Elend der Globalisierungsopfer Wurscht war.

New York ist also entsetzt, die westliche Welt fällt auch allen Wolken vor geschockter Verdutztheit; im Orient aber werfen viele begeistert und freudig die Arme in die Höhe und heben zu gern den Aktions- und Konzeptkünstler Bin Laden als Robin Hood unserer Tag auf den Schild. »Kampf der Kulturen« nennen das dann jene, die beim Interpretieren von Politik und Geschichte über (zivilisierte) Cowboys und (bestialische) Indianer nicht hinauskommen. Groß ist die Verführung, den Hexenkessel der menschlichen Konflikte auf das Niveau eines Schachspiels zwischen zwei Parteien zu versimpeln.

Kein anderes Land der westlichen Moderne versteht es so glänzend wie die USA, seine Wahloligarchie (vulgo: Demokratie) zugleich sakral und pragmatisch zu inszenieren. Das Sakrale liefert dabei den Drive und die Aura für das mediale Auftreten, als erwählte Nation, als Heim der Mutigen, als Gottes ureigenes Land. Dass dieses gelobte Land dabei zutiefst durch die Offenbahrungswahrheiten fundamentalistischer Evangelikaler und die Chauvenismen z.B. der WASP-Minderheit pervertiert wurde, wird mittlerweile auch von den US-Amerikanern selbst kritisch verhandelt. Da kamen Topf und passender Deckel zusammen, als selbsternennte Heilige Krieger im Namen eines anderen montheistischen Obermännchens ein buchstäbliches Mordsecho als Erwiderung auf diese Machtarroganz verlauten ließen.

Mittlerweile sprechen ja die US-Amerikaner selbst über die auffälligen Ungerechtigkeiten ihres mehr oder minder unverhüllten Feudalismus, der krassen asymmetrischen Macht- und Wohlstandshierarchie, die die ganze westliche Welt mehr oder weniger prägt (und ja: auch ich halte diese westliche Schieflage noch immer für ›besser‹, als die traditionellen, vormodernen Stammesformate der Zweit- und Drittwelt-Gesellschaften).

Von all dem ist in der Comic-Adaption nicht ausdrücklich die Rede, bildet aber für mich den Hintergrund, vor dem die Anstrengung des Verstehens sich lohnend lesen lassen. Zu komplex und undurchschaubar ist das ganze Geflecht aus Politik und Medialität.

Was das Comic aber schön herausgarbeitet, ist die seltsame Untätigkeit und ›Selbst im Weg Steherei‹ der Geheimdienste und Sicherheitsinstitutionen vor und während der Anschläge. Dass sich in den radikalisierten Kreisen des mittleren Ostens etwas zusammenbraut zeichnete sich lange vor IX.XI ab, wie der Kommissionsbericht rügt. Man hätte schon zu Clintons Zeit etwas unternehmen können. Was nicht im Comic steht abr für mich ebenfals zum wichtigen Hintergrund gehört, ist die peinliche Tatsache, daß die amerikanische-westliche Öffentlichkeit u.a. mit hysterischen Voyeurismus lieber der Ausbreitung der intimen Fehltritte ihres Präsis Clinton Aufmerksamkeit schenkte; auch das Pahö um den Hickhack der gefinkelte Wahlen und des umstrittenen Sieges der Bush jr.-Regierung trug nicht dazu bei, daß Amerika und der Westen aus ihrer notorischen Baunabelpuhlerei bei Zeiten heraufand. So schlug dann scheinbar völlig aus dem Nichts kommend überraschend die Große Geschichte vier Mal auf die größte Bushtrommel der Welt.

Ich will die Comic-Adaption nicht als Poragandawerk abtun, auch wenn ich ab und an genau diesen Eindruck bei der Lekütre hatte. Jedoch: Die ehrliche Anstrengung der Kommission, die eigenen Versäumnisse zu ergründen erscheint mir zutiefst aufrichtig. Mir, als ›kritischen Europäer‹, ist aber dennoch mulmig. Zwar finden sich viele der sprechensten Ikonographien die seit 9/11 in den Bildermythos des Informationszeitalters eingingen im Comic wieder. Es fehlt aber z.B. das dumme Geschau von Bush jr. bei seinem Besuch einer Grundschule, als ihm die Meldung vom Anschlag in New York zugeflüstert wurde; es fehlen die schrillen Töne von Bush jr., als er sich verbal auf die Brust trommelte:

»We will hunt them down and smoke them out« (»Wir werden sie {die Terroristen und ihre Hinterleute} zur Strecke bringen und ausräuchern«).

Später im Comic, bei den zwei Seiten über den Vergeltungkrieg der Amerikaner gegen das Talibanregime in Afghanistan lese ich zwar, daß diese Aktion von »Symphatiebekundungen für die USA« begleitet wurden. Kein Wort aber über jubelnde Sympathisanten der Anschläge, kein Wort über die politischen Einsprüche der westlichen Nationen und der bis heute anhaltenden weltpolitischen Verstimmungen (»Old Europe«), die der Krieg gegen den Terrormismus zeitigte.

Gerechterweise aber kann ich die Adaption loben, wenn es darum geht, wie nüchtern und dennoch ergreifend die Anschläge als schockierendes Unglück darstellt werden. So sehr man die US-amerikanische Hegemonialpolitik, dieses breitbeinige Gebahren als Möchtegern-Rom verachtet, die Erschütterung und Verunsicherung der amerikanischen Seele welche die Terroranschläge bewirkten, kommt glaubwürdig rüber. Sind halt auch nur Menschen, die Amis.

Das beginnt schon beim Umschlag: ganz unten ein Panoramabild der Manhattenskyline mit WTC und einem nahenden Flieger; darüber das monströse Räucherwerk der brennenden Türme; und darüber ein Feuerwehrmann, der aus Fassungslosigkeit sein Gesicht mit der Hand bedeckt.

Die unheimlichste Passage aber ist für mich als Maximalphantast der Ausklang des Buches, wenn die 9/11-Kommission Überlegungen anstellt, welche Lehre man aus dem Unglück ziehen kann, was man in Zukunft besser machen kann. Neunzehn Terroristen waren in der Lage, der letzten Supermacht deshalb gehörig ins Gemüth treten, weil die entsprechenden Organe der Supermacht zu wenig Phantasie zeigten. Es ist mehr als bittere Ironie, daß die Wohlstandszonen bis heute von paranoiden Zuckungen und Verschörungshysterien gelähmt werden.

(Das markanteste Beispiel, daß Fabulatoren der Unterhaltungsindustrie diesbezüglich den strategischen Analysten und Planern aus Politik und Armee ›überlegen‹ sind: ein halbes vor dem 11. September bot der Pilotfilm des »Akte X«-Ablegers »The Lone Gunmen« genau den Terroranschlag-Plot, nur mit der Wendung, daß es finstere Klüngler des militärisch-industriellen Komplexes der USA sind, die mittels Fernsteuerung ein Flugzeuganschlag auf das WTC durchführen wollen, um sich ein sattes Budget zu sichern.)

Im 9/11-Report und seiner Comicumsetzung heißt es entsprechend mahnend:

»Es muß eine Möglichkeit gefunden werden, wie Fantasie auch von Amts wegen routinemäßig eingesetzt werden kann.«

Man kann das von Donald Rummsfeld ins Leben gerufene ›Des-Informationskader‹ als eine Anstrengung dieser Routinisierung von Phantasie im War on Terror, im Rennen um das 21. Jahrhundert, im Dominanzgerangel des Informationszeitalters mit seinem Kampf um die besten Köpfe usw. sehen. Und dies ist vielleicht der unheimlichste Eindruck, den dieses spannend zu lesende Sach-Comic bei mir hinterlassen hat.

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Link-Service: Hier zu einer kleinen Sammlung Quicktime-Filmchens bei Bookwarp mit Selbstauskunft der Comicmacher Jacobson und Colón über ihre Adaption.

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