Pratchett, Steward, Cohen: »Die Gelehrten der Scheibenwelt«, oder: Expeditionen in die Wirklichkeit der geschichtenerzählenden Affen
Eintrag No. 478
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Ich weiß, ich weiß! Terry Pratchett ist einer der großen lebenden kapitalen Platzhirsche der Phantastik, vor allem der humoristsichen Fantasy, und da mittlerweile sogar öffentlich-rechtliche Sender[01] und überregionale Feuilletons und Buchmagazine bei Erscheinen eines neuen Pratchetts wohlwollend über den Scheibenweltschöpfer berichten, warum also hier in einem Fantasyjahrbuch ›unter Kennern‹ noch viele Worte über ihn und seine Bücher verlieren?[02]
Pratchetts Scheibenwelt hat sich seit 1983 zur einer der erfolgreichsten und prägendsten Fantasy-Institutionen entwickelt.[03] Als attraktivste Eigenheit der Entwicklung von Pratchetts Schreiben empfinde ich, wie er sich im Laufe der Jahre vom parodistischen Satiriker, der vornehmlich (allzu) liebgewonnene Eigenheiten der Genre-Fantasy genüsslich aufs Korn nimmt, zu einem humoristischen Moralisten entwickelte. Über den Kurs der (derzeit etwa) 40-ebbes Scheibenweltbücher zeichnet sich Pratchetts Auseinandersetzung mit geschichtlichen, gesellschaftlichen und philosophischen Problemen und Spannung immer deutlicher ab. Als markante Stationen dieses Erstarkens von Pratchetts engagierten Zeitgenossenschaftskommentaren verweise ich auf das Geschlechterrollengerangel zwischen Magiern und Hexen (»Equal Rites«, 1987), die Gräuel des fundamentalistischen Monotheismus (»Small Gods«, 1992), den Missbrauch von sowohl fremdenfeindlicher als auch Multikulti-Denke durch Diplomatie und Politik in Kriegszeiten (»Jjngo«, 1997). Eine thematisch-stimmungshafte »Verdüsterung« der Scheibenwelt hat sich endgültig ab »Night Watch« (2002) etabliert, immerhin werden hier Revolutionsunruhen, Bürgerkriegsmassaker und Serienmörderpathologien ausgebreitet. Anders ausgedrückt, schafft es Pratchett scheinbar so nebenbei, sich für seine Fantasywelt Epochen wie die Industrielle Revolution oder die moderne Konsum- und Mediengesellschaft als Material nutzbar zu machen. Entsprechend abwechslungsreich finden sich in den Scheibenweltbüchern die verschiedensten modernen Milieus ein, wird spielerisch-erzählend vorgeführt, wie die Identitäten von Minderheiten Eigenleben entwickeln, individuelle Weltbilder von der sozialen Einbettung geprägt werden, und wie schwer die Bemühungen (ja leider oft gewalttätig die Konflikte) um eine vermittelnde, umfassende Sicht auf die Wirklichkeit sind.
Pratchett gehört zudem einer (wie ich finde begrüßenswürdigen) Avantgarde der Fantasy an, da er sich nicht scheut wissenschaftliches Bildungsgut und die moderne Informationsgesellschaft deutlich erkennbar in seinen Fantasyweltenbau einfließen zu lassen, und das eben nicht nur, um nette kleine Kalauer auf die Tücken der Technik zu platzieren, oder gar um der Wissenschaft vorzuwerfen, dass sie sich vom Menschen hat missbrauchen lassen, und damit den schrecklichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts (die beiden Weltkriege, Rassenhygiene und atheistische Gulags) förderlich gedient zu haben.[04] Das prominenteste Requisit[05] dieser erfreulichen Offenheit der Scheibenweltbücher für die tatsächlich stattfindende Moderne ist Hex, ein in »Soul Music« (1994) debütierendes Konglomerat aus Glasröhren, Ameisen und Magie, das als einfache mit Lochkarten betriebene Rechenmaschine anhob, und sich zu einer immer mächtigeren Denkmaschine und schließlich Großrechenanlage gemausert hat.[06]
Zur Reihe der »GELEHRTEN DER SCHEIBENWELT« selbst: Der erzählende Prattchet-Anteil[07] ist deutlich geringer als die Sachtextportionen von Jack Cohen[08] und Ian Steward (1945). Wer also zuvörderst neue Scheibenweltromane erwartet, wird vielleicht enttäuscht. Die Schreibenwelthandlung dient hauptsächlich als lockerers Korsett und kurzweilige Intermezzi des großen Sachbuchbogens. Steward und Cohen glänzen zwar oft durch ihren Schalk, aber verglichen mit dem Humorvirtuosen Pratchett erscheint ihre Kalauerei ab und zu ein wenig zu harmlos oder zu willkürlich. Wer wilde Bücher mit herumschlenkernden Habitus, z.B. solcher Sachbuchphantasten wie Robert Anton Wilson, Douglas R. Hofstadter oder Rudy Rucker mag, wird mit der stellenweise blumig-albernen Ideenjoungliererei von Steward und Cohen seinen Spaß haben. Was das Hin und Her zwischen Scheibenwelt-Novelle und Sachtext-Argumentation betrifft: Ich selber habe (beim ersten Mal) nicht gewagt, mich dem schwindelerregenden Wechsel auszusetzen, und habe die beiden Stränge jeweils für sich am Stück genossen.
In der Erzählung des ersten Bandes der Reihe, »Die Gelehrten der Scheibenwelt«, beginnt alles mit Ponder Stibbons (Hex-Experte der Unsichtbaren Universität) Projekt der Spaltung des Thaums (= elementare magische ›X-Teilchen‹), gedacht als billige und effektive Energiequelle und Möglichkeit die Grenzen des Wissens zu erweitern. Da der Energieausstoß so gigantisch ist, dass er das Scheibenweltuniversum zu vernichten droht, leitet man die Energie in eine Glaskugel um, in der es keine Materie, keine Realität und, am wichtigsten, keine Magie gibt. Durch das neugierige Rummgefummel der Zauberer entsteht sozusagen als Unfall unser Universum. Die Zauberer haben ihren ›Videospielspaß‹ damit Materieklumpen aufeinanderzudonnern (= Sonnen zu schaffen), mittels des Schnellvorlaufs die aberwitzig langfristige Entwicklung des Universums auf etwa einen Monat zu verkürzen, und der allerweil hochstressierte weil überängstliche Zauberer Rincewind wird in einer Art ›Virtual Reality‹-Tauchanzug in unser Universum geschickt, um sich vor Ort genauer umzugucken. Die Zauberer verfolgen erstaunt das hartnäckig als Unwahrscheinlichkeit erscheinende Aufkommen von intelligenten Lebensformen. Andererseits drohen kosmische (es reichen auch globale) Katastrophen höhere wie niedere Arten mit Massenexitus. Das Buch klingt damit aus, dass die Scheibenweltgelehrten beobachten wie eine höhere Lebensform die Erde mittels eines Weltraumaufzuges verlässt, rechtzeitig bevor die nächste fiese Eiszeit zuschlägt.
In »Die Philosophen der Rundwelt« gibt es dann mit den parasitären Elfen und ihrer Königin richtige Bösewichter, die sich aus der Scheibenwelt in die Rundwelt eingeschlichen haben, um mit ihrer verführerischen und täuschenden Magie die Menschen in abergläubischer Ehrfurchtsdummheit dümpeln zu lassen und damit zu versklaven. Da die menschliche Gabe der Vorstellungskraft das empfindliche Einfallstor für die Elfenmagie ist, sorgen die Zauberer der Scheibenwelt bei ihrem ersten Rettungsversuch in der Steinzeit dafür, dass die Frühmenschen ihren Hang zum Aberglauben nicht entwickeln[09]. Dadurch aber bleiben die Menschen so beschränkt, dass sie sich nie über das kulturelle Niveau der Steinzeit hinaus entwickeln. Beim zweiten Rettungsversuch, diesmal zur Zeit der englischen Renaissance, trachten die Zauberer deshalb danach, mit der richtigen Art von Geschichten die Kreativität der Menschen über das anfängliche Maß hinaus zu steigern, um die Menschheit gegen die unheilbringenden Elfenverführungen zu immunisieren (wobei Shakespeare und sein Theater ›The Globe‹ eine entscheidende Rolle spielen).
Der dritte Band »Darwin und die Götter der Scheibenwelt« nimmt sich dann insbesondere die Evolutionstheorie vor, sowie die Kontroversen über sie, was nichts anderes ergibt, als ein gründlichen Exkurs über die Rivalität zwischen Wissenschaft und Religion. Die Gegner der Menschheit sind diesmal die Revisoren der Realität, ein Rudel ›himmlischer Bürokraten‹, die alle höheren Lebensformen hassen, weil die mit ihrer quirligen Umtriebigkeit nicht zum Ideal der Revisoren von einem wie ein perfektes Uhrwerk ablaufendes Universum passen. Durch die Eingriffe der Revisoren verfasst Charles Darwin statt seiner »Entstehung der Arten« eine »Theologie der Arten«, in der er darlegt, dass die Evolution von der ordnenden Hand eines Schöpfer geleitet wird. Leider führt das Werk zu einer stagnierenden Denkblockade der Menschheit, der Weltraumaufzug droht wieder nicht rechtzeitig zur gnadenlosen Eiszeit fertigzuwerden. Es kommt zu einem aberwitzigen Krieg der Zauberer gegen die Revisoren, in der beide Seiten wieder und wieder in den historischen Zeitenlauf eingreifen. Schließlich verschlägt es Darwin auf die Scheibenwelt, wo er seine Unschlüssigkeiten zur ihn selbst arg beunruhigenden Evolutionstheorie[10] im Gespräch mit dem Scheibenweltgott der Evolution überwindet.
Die Sachtextabschnitte erzählen vom Werdegang der wissenschaftlichen Durchdringung der Welt. Es gibt spannende Anekdoten über Forscher und Philosophen und ihre Heureka- und Homer Simpson-Momente. Berühmt-berüchtigte und nicht so bekannte Gedankenexperimente und Spezialmetaphern sprühen hier Funken und es wird (ziemlich aktuell) über den Stand von kontrovers verhandelten Fragen referiert. Löblich vor allem, dass Wissenschaft hier nicht als Hort absoluter Wahrheiten dargestellt wird. Immerhin, desto eingehender man sich mit irgendeinem wissenschaftlichen Thema beschäftigt, um so deutlicher wird, dass wir Menschen eben nicht genau wissen wie und warum etwas so oder so funktioniert oder beschaffen ist. In einem Podcast der BBC anlässlich des 100-jährigen Jubiläums von Albert Einsteins Publikations-Wunderjahr 1905, sprechen die drei Scheibenweltgelehrten munter über die Ambivalenz der Begriffe Technik und Magie[11], und dass die Phantasie ein eminent wichtiges Talent für jegliche Wissenschaft ist. Tatsächlich muss ja jeder Person, die nicht nicht hinreichend in die Mysterien der Technik eingeweiht ist, ein Mikrowellenherd, Lichtschaltermagie, Fernsehen und Telefon wie Zauberartefakte erscheinen. Banal umschrieben wurde Magie dann angewandt, wenn am Ende eines Prozesses augenscheinlich mehr Ergebnis / Produkt / Auswirkung geerntet wird, als man anfänglich Aufwand / Arbeit / Tat investiert hat. – Die Evolutionstheorie kann hierzu als Beispiel für konkurrierende Erklärungs-Phantasmen dienen. In ihren Rückzugsgefechten um die Deutungshoheit zur Beschaffenheit der Welt, berufen sich die fundamentalistischen Religiösen auf einen Schöpfergott (oder in kosmetischer Verschleierung: auf Intelligent Design), um hochkomplexe Hervorbringungen der Natur, wie das Auge oder den Menschen selbst mit seinem wundersamen Bewusstseinsvermögen, zu erklären. Solche Leute hängen ihre Argumentation an dem Himmelshaken ›Schöpfergott‹ auf, und Gott wird schlicht als wahr vorausgesetzt, basta.[12] Wissenschaftliche Denke aber ist zu der Erkenntnis gelangt, dass genügend Zeit und Variation in kleinteiliger, aufeinander aufbauender Krahnarbeit eben vollkommen ausreichen, um die wundersamen Höhen an Gestaltungsarbeit zu erreichen, als die wir Menschen uns selbst gerne wähnen. Und bezügliche menschlicher Selbsterhöhung hat mich der feinsinnigen Spott des Trios beeindruckt, wenn sie derartige allzumenschliche Schwächen bloßstellen und z.B. lausbübisch statt der selbstglorifizierenden Bezeichnung ›Homo sapiens‹ (Weiser Mensch) den – zumindest auch für mein Empfinden – zutreffenderen Begriff ›Pan narrans‹ (geschichtenerzählender Schimpanse) vorschlagen.
Abschließend ein paar Worte zur neuen deutschen Auflage der Reihe bei Piper-Taschenbuch. Gut übersetzt von Andreas Brandenhorst (Pratchett) und Erik Simon (Cohen & Steward); erfreulich, dass die Paul Kidby-Illustrationen für die Umschlagszier übernommen, und die Reihe schön einheitlich gestaltet wurde. Ein Ärgernis aber ist das Papier, bzw. die Untugend, durch schweres und dickes Papier das Volumen von Büchern künstlich aufzublähen.[13] Die englischen Taschenbücher kann man in der Gesäßtasche einer Jeans mitnehmen, für die deutschen Ausgaben braucht’s schon mindestens Military- oder Baggy-Klamotte mit großen Beintaschen. Zudem finde ich es betrüblich, dass die ausführlichen Stichwort-, Namens- und Werksregister der Originalausgaben nicht übernommen wurden. Nur schwachen Trost spendet da der bibliographische Anhang mit weiterführende Lektüre des dritten Bandes. So lästig diese Makel auch sind, mindern sie nicht die einzigartige Bereicherung, die diese Reihe Wissbegierigen zu bescheren vermag.
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»Die Philosophen der Rundwelt« (»The Science of Discworld 2 – The Globe«) engl. 2002; 478 Seiten; Piper Taschebuch 2006; ISBN: 3-492-28624-6
»Darwin und die Götter der Scheibenwelt« (»The Science of Discworld 3 – Darwins Watch«) engl. 2005; 430 Seiten; Piper Taschenbuch 2006; ISBN: 3-492-26622-3
Alle drei Bücher übersetzt von Andeas Brandenhorst (Pratchett), Erik Simon (Steward & Cohen) und mit Titelbildern von Paul Kidby.
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ANMERKUNGEN:
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molosovsky Besitzerin
… habe ich für Felix vom »Mile High Blog« trefflich zusammengefasst.
Freut mich und vielen Dank für das Lob!