Molos Wochenrückblick No. 38
Eintrag No. 694 — Hier nun, leider mit einem Tag Verzögerung, die Meldungen. — Bei den letzten Abstimmungnen der »Wer ist dir lieber«-Website habe ich gewählt: Beinbrech oder Roter Glitterling?, (Weder noch). — Wurst oder Käse?, (Wurst) — Freddie Frinton oder May Warden?, (Freddie Frinton). — Elwood oder Jake Blues?, (Elwood).
Zwei Petitionen auf den Seiten des Deutschen Bundestages habe ich unterzeichnet:
- erstens: Netzzugang – Rechtsnorm für Zugang zu kabellosen Netzwerken, denn ich bin dafür, freie WLAN-Zugänge zu erlauben;
- zweitens: Suchtgefahren – Entkriminalisierung von Cannabis-Konsumenten, denn ich bin dafür, dass die Drogenpolitik ent-ideologisiert wird, und Konsumenten weicher Drogen nicht länger als Fußsoldaten für internationale Machtpolitik fungieren.
Lektüre: Bin im letzten Drittel von Paolo Bacigalupis »The Windup Girl« von (Anfang Februar als »Biokrieg« bei Heyne) und weiterhin sehr zufrieden mit dem Buch. Am meisten erstaunt mich, dass der Roman sich hauptsächlich auf die Charakter-Entwicklungen und die Schilderung des Sozialgefüges konzentriert. Obwohl es mittlerweile einen großen Zwischenfall gab, wird Äktschn unterschnitten inszeniert (es gibt allerdings ein paar Szenen, in denen eine künstliche Frau zum groben Vergnügen des Publikums eines Nacht-Club malträtiert wird).
Großartige Neuigkeiten. Es ist endlich so weit! Nach 20-jähriger Suche gibt es nun einen »Codex Seraphinianus« (Auflage August 2010 der Rizzoli-Ausgabe von 2006) in meinem Haushalt. Als Andrea ihn ausgepackt hat, merkte ich, wie sich ein kosmisches Ungleichgewicht auflöste. Im Netz schreiben zwar die Kenner, dass der Druck dieser Auflage etwas dunkler (sprich: Detail-abträglicher) ist, als der von vorherigen Auflagen, aber immerhin habe ich meinen »Codex« und ich dafür nicht mehrere hundert Euronen hinlegen müssen.
Seit seinem Erscheinen 1981 gilt »Codex Seraphinianus« als eines der seltsamsten, phantasiereichsten, undurchschaubarsten und erstaunlichsten Bücher aller Zeiten (in seiner Exzentrizität nur noch vergleichbar z.B. mit Werken wie den BildCollage-Romanen von Max Ernst {»Une semaine de bonté« und »La femme 100 têtes«}, dem Voynich-Manuskript, oder Carrolls Nonsense-Versepos »The Hunting of the Snark«). Soviel kann man erkennen: Der »Codex« ist wie eine Enzyklopädie organisiert, und in verschiedene Sachgebiete eingeteilt. Einige dieser Sachgebiete kann man ziemlich sicher erkennen, wie Flora, Fauna, Schrift oder Spiele, andere bleiben auch nach x-maligen Lesen ziemlich rätselhaft, z.B. die Abteilung über zweibeinige Lebensformen (wobei man bedenken muss, dass in der seraphinianus’schen Welt auch Regenschirme und Wollknäul dazugehören). Es gibt viel Text, Tabellen, Gleichungen, doch ist das alles in einer Sprache und Schrift geschrieben, die bis heute nicht entziffert werden konnte, und die aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht entzifferbar ist … oder vielleicht doch? — Hier ein kleiner Ausschnitt aus dem »Codex«: die Illustrationen aus der Abteilung über Städtebau oder Stadtbau-Utopien, begleitet von dem wundervollen Stück »Music For A Found Harmonium« des einzigartigen Penguin Cafe Orchestra.
Weitere lohnende Einblicke und Texte über den »Codex Seraphinianus« bieten:
- Von den deutschsprachigen, kurzen jedoch anschaulichen Vorstellung, empfehle ich den Eintrag zum »Codex« im ›gleiche höhe ist kein abseits‹-Blog von Klaus Moser.
- Mit großer Freude entdeckte, dass in ihrer »Enzyklopädie des Imaginären« Monika Schmitz-Emans dem »Codex« einen eigenen langen Essay-Eintrag widmet.
- Ein Essay von Justin Taylor für das »The Believer«-Magazin vom May 2007. Bietet ein Zitat des Berichts von Alberto Manguel über die Entdeckung des Manuskriptes; ein Zitat vom Beginn des Textes »Orbis Pictus« den Italo Calvino als Vorwort für eine Auflage des »Codex« schrieb.
Netzfunde
- Bei ›TED‹ gibt es einen neuen Vortrag von Naomi ›No Logo!‹ Klein, der Autorin des von mir geschätzte Buches »Die Schock-Stretegie«: Addicted to risk, indem sie am Beispiel der Öl-Leck-Katastrophe im Golf von Mexiko und des Tageabbaus in Kanada (= Häutung der Erde) die Mythen des Fortschritts kritisiert.
- Kultur: Wer schon immer mal sehen und nicht nur hören wollte, warum Johann Sebastian Bach als genialer Komponist gilt, der kann dieses Filmchen gucken, das zeigt, Wie ein ›einfacher‹ Kanon von Bach funktioniert, eben vorwärts und rückwärts, und beides gleichzeitig und auf den Kopf gestellt.
- Volker Breidecker hat für die ›Süddeutsche‹ eine Tagung zum Thema Verschwörungstheorien besucht: So finster die Macht.
- Bei ›Telepolis‹ erschien ein zweiteiliges Interview mit Rolf Jüngermann über das deutsche Schulsystem: Teil 1: Geschlossene Gesellschaft und Teil 2: »Deutschland hat weltweit das ungerechteste Schulsystem«.
- Feine Entdeckung: Es gibt ein recht ausführliches Kriminologie-Lexikon im deutschen Netz. Draufgestoßen bin ich, nachdem ich letzte Woche die CD von Georg Schramms Programm »Thomas Bernhard hätte geschossen« entlieh und gehört habe. Schramm, als Dombrowski, zitiert darin die Einschätzung des Bundes-Kriminalamtes Wiesbaden, demnach das deutsche Gesundheitssystem korrupt ist und sich in den Händen der organisierten Kriminalität befindet.
- Wiederum ›Telepolis‹: Gaby Weber berichtet über den neusten Stand der Vertuschungs- und Ausweich-Praktik in Sachen Eichmann, der BND und die Expertenkommission. — Für ›Der Freitag‹ kommentiert Tom Strohschneider ebenfalls diese Vorgänge: Bis zum Beweis des Gegenteils.
- Albrecht Müller hat für seine ›Nachdenkseiten‹ eine Übersicht zusammengestellt: Drei zerstörerische Jahrzehnte liegen hinter uns. Es reicht.
(Deutschsprachige) Phantastik-Funde
- Hier mein längerer Beitrag zur Frage »Wie steht es um die Fantasy« im Forum von SF-Fan.
- Zwei wohlwollende neue Besprechungen zu »Leviathan« von Scott Westerfeld und Keith Thompson gibt’s: einmal von Bine Endureit bei ›Fantasyguide‹, und zum zweiten von Erik Schreiber für ›Fictionfantasy‹.
Rüge
- Hochgradigen Schwachsinn hat Wolfram Eilenberger für ›Cicero‹ zusammengeschwurbelt, wenn er in seinem Text Kehlmann, Sarrazin und die Vermessung der deutschen Leserschaft nur aufgrund der in etwa gleichen Verkaufszahlen von »Die Vermessung der Welt« und »Deutschland schafft sich ab« mutmaßt, dass diese beiden Bücher Ausdruck des gleichen Volksempfindes sind.
Zuckerl
- In Zeiten ansteigender Überwachung wächst auch die Notwendigkeit, sich in städischen Gefilden zu tarnen. Wie das geht, zeigt die Website Urban Camouflage.
- Ganz vorzüglich finde ich die ›deviant art‹-Galerie von Uminga. Meine Lieblinge sind Death & Sandman, die Portraits von »Batman«-Charakteren wie dem Pinguin, der immer entzückenden Harley Quinn und freilich dem Joker, und grenz-cool ist diese Illu der Ermittler aus dem Fincher-Film Se7en.
- Das Blog ›Who killed Bambi‹ zeigt, was die Photographin und Diogramenkünstlerin Mariel Clayton fetziges mit Puppen anstellt: Killer Barbies.
- Online-Comic: Ein Superheld ohne Superkräfte, aber dem Willen, allen Ratten und anderen Tieren im Kampf gegen wahnsinnige Wissenschaftsprojekte beizustehen liefert Doug TenNapel mit Ratfist.
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