molochronik

Molos Empfehlungen für Web-Glotzer

(Eintrag No. 410; Gesellschaft, Medien, Phantastik, Bildung & Unterhaltung) — Obwohl ich schon einige Monate mit einer komfortablen Breitbandleitung durchs Web gurke, habe ich erst in diesem Monat angefangen, mich in entsprechenden Portalen umzuschaun, wie es um lohnende Filmchen bestellt ist. Hier eine mehr oder weniger munter-unsortierte Auswahl lohnender Clips und Streams.

Kann sein, daß meine Links nicht lange online, oder die entsprechenden URLs schnell wieder unaktuell sind und wieder verschwinden. Gebt halt ggf. als Kommentar hier bescheid, wenn dem so sein sollte.

Den Anfang macht das einzige Web-TV-Angebot der öffentlich-rechtlichen, das ich regelmäßig verfolge: »Das Philosophische Quartett« mit Peter Sloterdijk und Rüdiger Safranski. Für mich, der ich mir kaum leisten kann abends mal aufn Bier zum Klönen wohinzugehen, sozusagen mein Stamtischersatz. Glaubt bloß nicht, ich nehm alles ernst, was die Damen und Herren des Quartetts so daherphilosophieren. Aber genau das, Daherphilosophieren (und zwar unaufgeregt), ists, was diese Sendung für mich so reizvoll macht. Leider reicht das Archiv nicht allzuweit in die Vergangenheit.

Ein Abend mit Neil Gaiman. Ich habe Gaiman ja im Frühjahr 2007 in Leipzig erlebt und kann sagen: Der Mann weiß, wie man einen vergnüglichen Leseabend gestaltet. Der hier verlinkte Fora.tv-Beitrag dauert fast 2 Stunden. Neil liest aus neustem Kurzgeschichtenband »Fragile Things«, inkl. Frage und Antwortspiel. Nict versäumen sollte man die Story »Secret Brides Of The Faceless Slaves Of The Forbidden House Of The Nameless Night Of The Castle Of Dread Desire«, ein Muss für alle, die eine deftige Parodie auf Gothic Novel-Schwulst abkönnen (zugleich aber auch eine köstliche Verteidigung der Phantastik). — Knackig auch Neil Gaimans Gedanken über Horror- und Weird Fiction Papst H. P. Lovecraft.

Apropos H.P.L.: Hier gibt Howard Philip Lovecraft Auskunft (1933). Fast möcht ich meinen, daß es sich hier um einen geschickten Fake handelt, aber der Clip wurde augenscheinlich von Lovecraft-Experten S.T. Joshi beigesteuert.

J.R.R. Tolkien spricht über die seine Mythologie. Man braucht schlaue Ohren, um das murmelnde Gebabbel vom Papa Hobbit zu verstehen, aber es lohnt sich. Was dieser Clip zeigt: Ian McKellen hat alle zuhandenen Filmaufnehmen des Meisters studiert und gibt als Gandalf eine beeindruckende Hommage auf Tolkien.

Richard Dawkins: Der streitbare Atheist, Autor von »Das egoisische Gen« und dem jetzt vieldiskutierten »The God Delusion« geht in Teil 1 den Wirrnissen des Aberglaubens (Astrologie & Co) nach, in Teil 2 widmet er sich der Scharlatanerie alternativer Heilmethoden (Homöopathie & Co.).

Der Neurologe, Humorist, Theater- und Opernregiesseur Jonathan Miller hat für die BBC versucht eine »Rough History of Atheism« auszubreiten. Kein leichtes Unterfangen, haben doch aus Angst vor gröberer Unbill lange Zeit Atheisten gezögert, sich als solche zu outen. Die Dokumentation hat drei Teile, die jeweils in etwa 10-minütige Clips aufgeteilt wurden. Hier zu den ersten Abschnitten von Sendung eins (»Shadows of Doubt«), zwei (»Noughts and Crosses«) und drei (»The Final Hour«). — Eine der schönsten Gemmen dieser Reihe ist Millers Unwohlsein mit dem Begriff ›Atheist‹. Immerhin: Warum sollte man speziell dem Nichtglauben an GOtt (oder Göttern) einen eigenen Namen geben? Gibt es ein besonderes Wort für Menschen, die nicht an Geister, Kobolde und Einhörner glauben? Eben. — Zusätzlich hat Jonathan Miller mit einer Reiher prominenter Nichtgläuber (und einem Gläubigen) Interviews geführt, die schon in seiner »Rough History« gekürzt verwendet wurden. Unter dem Titel »Atheism Tapes« kann man aber die ganzen Gespräche goutieren. Hier gehts zu den jeweils ersten Clips der Interviews mit Colin McGinn (Wissenschafts-Philosoph), Steven Weinberg (Physiker), Arthur Miller (Dramatiker), Richard Dawkins (Biologe), Denys Turner (Theologe), Danniel C. Dennett (Wissenschafts-Philosoph). — Wer nicht glotzen will, kann die kompletten Transkripte der Gespräche hier lesen.

Nach so viel ernsten Zeug über Glauben und Nichtglauben, hier noch ein Clip mit den englischen Humoristen, Schauspielern und Autoren Stephen Fry und Hugh Laurie, die in England berühmt sind für ihre Sendung »A Bit of Fry & Laurie«. — Unsterblich genial ist dieser Scetch »On Language«. Jupp: so isses.

Und als Schlußzuckerl schließlich noch zu den beiden haarsträubend grotesken kurzen Filmchen des amerikanischen Animationskünstlers Bill Plympton (einigen Freaks hierzulande bekannt als Schöpfer des gandiosen Films »The Tune«): »How to Kiss« und »25 Ways to Quit Smoking«.

Viel Vergnügen.

Lesende Weltenwanderer

(Gesellschaft, Phantastik) — Bücher SIND (buchstäblich) magische Gegenstände: sie ermöglichen uns Kontakte mit entfernten und verstorbenen Menschen. Allein beim Lesen, und doch zusammen mit einem kleinen Fruchtprodukt eines anderen Menschen, egal, wo der im Augenblick als Person sein mag. Schriftzeichen reihen sich aneinander, sprechen zum Leser, erzählen, beschreiben, argumentieren — und graphische Elemente erhellen als optische Ideen- und Zeitkapseln die Bleiwüste der Lettern.

Ganz schnell der Hinweis, daß ich mich seit kurzem auch bei Bibliotheka Phantastika herumtreibe. BibPhant ist eine der besten deutschsprachigen Seiten zu phatastischer Literatur, spezieller zur Fantasy. Viele Rezensionen, interessante Theorie-Texte und ein sehr munteres und angenehmes Forum bietet die Seite.

Neben meiner Vorstellung im Forum hab ich mich zuerst der Klassiker-Problematik gewidmet und meine (recht grobe und willkürliche) Top Ten an Phantastik BIS J. R. R. Tolkien (also bis zum Ende der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts) geliefert. Aus einer Bemerkung von mir über meine Tolkien-Skepsis, die ich fauler Sack anhand eines Links auf China Miévilles Text »MITTELERDE TRIFFT AUF MITTELENGLAND — Eine sozialistische Tolkienbetrachtung« verdeutlichen wollte, entstand dann der mittlerweile über 50 Seiten lange Thread »China Miéville vs JRR Tolkien«. Auf diesen langen ›Über Gott und die Welt‹-Thread folgten nun weitere Threads, und meine letzte Antwort in »Welchen Nerv trifft Tolkien/Fantasy?« möcht ich hier auch den Molochronik-Lesern anbieten, da ich dabei auf zwei aktuelle Magazine verweisen kann.

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Stichpunktartig meine Zusammenfassung von Norbert Bolz seinem Beitrag im »Cicero« 12/2005.

Ich meinte ja, das dies Teichs Frage vielleicht beantwortet:

Welchen Nerv trifft Tolkien/Fantasy allgemein und welche Umstände in unserer Gesellschaft führen dazu, das scheinbar immer mehr Fantasy gelesen/geschaut wird?

»Warum Brown und Potter?« soll wohl dem Cicero-Leser eine Draufsicht-Erklärung bieten, warum (eine gewisse) Phantastik so populär ist. In einem Kasten hats die 10 erfolgreichsten Bücher des 2005er-Jahres: Sechs Titel sind Genre-Kernbereich (Brown mit »Sakrileg« und »Diabolus«, Rowling mit HP6, Schätzing mit »Schwarm«, Funke mit »Tintenblut«, Colfer mit »Artemis Foul«), drei weitere rechne ich zum Randgebiet der Phantastik (Coelho mit »Zahir«, Lelord mit »Hectors Reise« und Leon mit einem Brunetti-Krimi) und nur ein Titel der kaum phantastisch ist (Fröhlich mit »Familienpackung«).

Warum Donna Leon für mich sehr Phantastik-ähnlich ist: weil Krimi als Genre viele Gemeinsamkeiten mit anderen U-Genres hat; und Venedig ist für viele Leser sicherlich genauso gut als Exotik vergnüglich, wie erfundene Welten. — Zudem ist Brunetti eine Serie, also auch bessere Soap. Viel Genre-Phantastik kommt als Serie mit mehr oder minderen Soap-Charakter daher.

Der Nebentitel des Bolz-Beitrages lautet »Die Konjunktur der Deutungsmächtigen in einer entzauberten Welt«. — Auch Bolz umschreibt also die Moderne und Aufklärung als Entzauberung. Er schreibt:

»Im Zeitalter der Informationsüberlastung wird Bedeutsamkeit zum ultimativen Luxus.« … »Wir erinnern uns: Aufklärung bedeutet Enttäuschung††. Der Prozess der Wissenschaft beraubte uns der Einfachheiten und Naivitäten.«

†† Man beachte den Doppelsinn: ›Enttäuschung‹ als was trauriges, weil sich etwas nicht erfüllt, vertrauen gebrochen wurde und ›Ent-täuschung‹ als etwas Befreiendes, Klärendes, Durchschauendes.

Die Welt ist also im Fortgang der Moderne gehörig komplizierter geworden, das Leben wurde zwar durch allerlei ›Schnickschnack‹ erleichtert, aber insgesammt alles andere als einfacher. Überall wimmelt es von Zeichen, Symbolen und Bedeutungen, alles mögliche will gewartet, programmiert, mit persönlichen Einstellungen versehen werden.

Bolz führt — wie ich finde sehr richtig — den Detektiv und Spion als die neue Archetypen der Moderne an, denn sie…

»üben die neue Optik des Dechifrierens ein. Nun erscheint uns die Welt nicht mehr als vertrauter Horiziont, sondern als unverstandener Text. Und der Kryptologe, der Code-Brecher wird zum Helden der modernen Welt. Wo wir nur sinnlose Daten und Zeichen sehen, zaubert er Bedeutung hervor.«

Das gilt auch für Genre-Leser oder Phantastik-Leser. Jeder Leser entschlüsselt beim Lesen. Und Fantasy-Welten verlangen einiges Geschick vom Leser, wenn er sich mit all den exotischen und fremdartigen Dingen was Sinnvolles vorstellen will.

Dieser Zugang zu Bedeutung, Wahrheit fasziniert. Symbole zuordnen zu können, die Kompliziertheiten der Welt aufgedröselt zu bekommen, wie dies eben Brown-Held ›Symbologe‹ Robert Langdon macht, oder die Gut-Böse-Milieus von Fantasywelten a la Potter (oder Tolkien) vorführen.

Bolz wertet diese Angebote als

»›Heilmittel‹ gegen das Chaos, gegen die Regellosigkeit und Unübersichtlichkeit unserer Welt«

und meint zum Ende:

»Uns fehlt heute die Horizontbegrenzung, die früher der Mythos leistete; also das was Nietzsche als ›umhüllenden Wahn‹ bezeichnet hat. Und wir spühren heute, das uns ein funktionales Äquivalent für die Mythen fehlt, die Wache an der Grenze zum Unvertrautem hielten. Gegen die Entzauberung der modernen Welt durch Wissenschaft und Technik setzt ein Marketing heute auf Strategien der ästhetischen Wiederberzeuberung. {…} Das religiöse Bedürfniss siedelt sich auf dem Ulterhaltungsmarkt an — in einer Welt der Magie, des Totemismus und Fetischismus.«

Da ballt sich einiges, und mag ein bischen schwurbelig klingen. Je nachdem, wie man ›Religion‹ und ›Mythos‹, ›Fetischismus‹ usw versteht, kann man diese Bolz-Sätze ganz schon respektlos deuten oder quer in den Hals kriegen. Ich les so was meist mit großer Gutmütigkeit.

Ergänzend dazu ein weiterer aktueller Lese-Tip:

Die aktuelle Ausgabe von »Literaturen« widmet sich dem Glauben, und bietet Herrn Safranskis knappe Unterscheidung zu ›heißer‹ und ›kalter‹ Religiösität an:

»In der christlichen Überlieferung kommt alles darauf an, dass Gott ein transmundanes, weltjenseitiges Etwas ist: eine Größe, die es mir erlaubt, im Akt des Glaubens in der Welt zu sein, aber ganau diesen Schritt des Transzendierens vollziehen zu können. Und es gibt eine ganz andere Art von Religiosität, die ehr monistisch verfasst ist. Ihr geht es darum, eine Vertiefung der Erfahrung zu ermöglichen, die uns an den Weltengrund bringt, der in uns selbst als Spiritualität enthalten ist.«

Entsprechend denkt Safranski nicht, daß das neue Interesse an Religion den Offenbahrungsreligionen gilt, sondern

»ehr einer psychotechnischen Religiosität. {…} Jeder bastelt im Hobbykeller seine eigene Religiosität mit esoterischen Einschlägen.«

Unterm Strich: als Hobby-Semiotiker interssieren mich schon läger diese Übergänge aus Zeichendeutungs-Freude und Sinnmach-Systemen. Phantastik-Literatur und ihre Genres bieten wunderbare Übungs- und Unterhaltungsparkours zum Deuten und Sinn-Ausprobieren an. Ich stimme hierbei Eco zu, daß

»Indem wir Romane lesen, entrinnen wir der Angst, die uns überfällt, wenn wir etwas Wahres über die Welt sagen wollen.«

Entsprechend möchte ich auch Bolz widersprechen, wenn er sagt, daß es heute so gar keine funktionalen Mythen gibt. Ich sage: sie machen sich schon seit seit einiger Zeit immer mehr im Mainstream breit (indikatorisch für mich die ersten Generationen, die mit Blockbuster-, Serialien-Stories, RPG-Welten, Computer-Spielen aufgewachsen sind). Auch geforscht wird dazu, z.B. bezüglich Subkulturen und Urbanen Legenden.

Die Genres selbst zeigen grobe Bereichsumgrenzungen der modernen Mythen: Agenten, Spione, Piloten, Prospektoren, Wissenschaftler aller Art (vor allem solche, die mit Seltsamkeiten in Kontakt kommen, wie Zoologen, Geologen, Ethnologen, Quantenschieber usw). Räuber und Gendarm treiben sich verwandelt ebenfalls noch im Mainstreambereich herum, ebenso die Reichen und Schönen sowie die Ausgestoßenen und Verdammten.

Safranskis Religiositäts-Unterscheidung kommentier ich im Geiste u.a. so: ›kalt‹ ist individualisierte Spiritualität nicht nur, weil ›wir Konsumenten und Hobbysinnmachmaschinen-Bossler‹ zwischen der eigenen Spiritualität und der rational-sekular formatierten Gesellschaftverfassung unterscheiden, und uns vom Absolutheitsanspruch (auch Ausrichtung des Lebens, der Gesellschaft nach spirituellen Richtlinien) distanzieren; ›kalt‹ ist diese auf dem Markt und in Fan-Kreisen gehandelte Spiritualität auch deshalb, weil an ihr Firmen als unterhaltungsindustrielle Teilnehmer mitgestalten.

Einen Ausblick, was das auch bedeutet, bietet der Artikel »Der Mensch als Tourist« von Krystian Woznicki bei Telepolis.

Von Bolz und Safranski (oder anderen öffentlichen Deutern) kann man halten was man will. Safranski schätz ich schon (gute Schopenhauer-Bio von ihm gelesen), Bolz kenn ich nur von kurzen Texten. Beide dünken mir aber ganz interessante, moderne Köpfe in einem sonst doch mMn recht biederen intellektuellen Medien-Milieu.

»Ich mach mir die Welt, wiediwidi-wie sie mir gefällt.« — Ganz so einfach ist das zwar nicht, aber es ist eine gute Praxiseinstellung.

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