Notitzen für Argumente gegen einen Ausschluß des Filmes »Pink Floyd – The Wall« aus dem Feld der Phantastik
(Film) – Ich bin zwar nicht seiner Meinung, aber gerde deshalb Kollege J-Tull für seinen Anstoß-Beitrag in einem Thread bei SF-Netzwerk dankbar. Dort stellte sich die Frage, ob denn »The Wall« – (jene brilliante Umsetzung der Pink Floyd'schen Konzept-Doppel-LP durch Alan Parker, mit der genialen Mitarbeit des graphischen Satirikers Gerold Scarfe und des zu früh verstorbenen Komponist in allen Gassen Michael Kamen) –, ob dieser Film nun Phantastik ist oder nicht.
»Surreal« … auf jeden Fall, weil drastische Bildsprache für Sprachfiguren gezeigt werden: siehe Verwurstung der Jugend in der Schule, Mauernbauen um Gefühle usw.
Vier inhaltliche Stränge sind mir noch erinnerlich: A) Hauptfigur (Geldof) als Star-Wrack, Schauspieler, realistisch-autentisch; härter B) Rückblenden in Kindheit und Jugend, Schauspieler, realistisch-poetisch; zärter Allein das konventionelle Ineinanderverschränken von Jetzt und Damals ist bereits ehr abstrakt und damit phantastischer, als wenn dramaturgisch die Einheit der Zeit, also die chronologische Reihenfolge der Ereignisse gewahrt bleibt. Nun kommen aber zu diesen beiden Ebenen noch dazu: C) Wahnhafte Wirklichkeit; Schauspieler mit Masken, Groß-Puppen, filmische Verfremdungstechniken und Zeichentrick-Invasionen; halluzinatorisch-phantastisch; D) Traumhafte Wirklichkeit; Zeichentrick-Sequenzen, poetisch-phantastisch.
Oder wie läßt sich das Wesen dieser Animations-Sequenzen anders knapp beschreiben, denn durch ein Adjektiv mit -phantastisch, egal ob poetisch-, grotesk-, sozialtherapeuten- oder systemkritisch-, u.ä.?
»Drama«-, »Musik«-Film oder »Musik-Drama« sind freilich (gattungsbezügliche) sichere Einordnungs-Fächer für »The Wall«. Wie aber sieht mit dem Inhalt aus? Vorlage ist ein Werk (Pop-Album), das mittels Songs und Instrumentalmusik unter Verwendung von Hörspiel-Gewürzen die Geschichte einer empfindsam-aggressiven Identitätskrise (oder weinerlichen Nervenzusammenbruchs) erzählt. Die Musiker von Pink Floyd breiten Länge mal Breite ihre Autotherapie als ambitioniertes Gesamtkunstwerk auf, was freilich nicht jedermenschs Sache ist.
Ich pick mir mal nur die musikalische Dramaturgie des Filmes heraus, und kann mich wiederum an drei unterscheidbare Ebenen erinnern: A) Dramaturgische Song-Inzenierung: a la Musical (z.B. die Fascho-Rede). Das ist ja schon schwer phantastisch. Leider kennzeichnen sich die großen Momente unseres Lebens eben nicht dadurch, daß plötzlich alles zu singen und tanzen anfängt. – Man darf also Filme wie »Dancer in the Dark«, »Moulin Rouge« und »An American in Paris« getrost pauschal unter Phantastik einordnen. B) Illustrative Song-Inzenierung: a la erzählender Clip (Kindheitserinnerungen zum Song »Mother«, die Sachen des Vaters im Schrank entdecken). Wobei ich hier meine, daß der Song die Stimmung der Kindheit illustriert; die Filmbilder wiederum illustrieren die Songstimmung. C) Zeichentrick-Visualisierung für Instrumentalmusik: emotionelle und atmosphärische Stimmung der Instrumentalmusik geht eine Symbiose mit der ebenso sprachlosen Bild-Sequenz ein, die graphisch-magischen und nicht irdisch-realistischen Gesetzte unterworfen ist.
Mit diesen ehr formalen Eckwerten, konnte ich hoffentlich etwas dazu beitragen, den ein oder anderen Skeptiker mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß »The Wall« waschechte Phantastik ist, wenn auch keine bequeme und für manchen eine elendig jammerante.
Der Film ist sicherlich ein Bastard, ein Hybrid- und Hybris-Wesen, das geb ich gerne zu. Und Mischwesen sind – nun ja – immer etwas knifflig einzuordnen. Das macht sie um so interessanter.
david ramirer
hilfreich und wichtig, "the wall" einzuordnen?
in "the wall" kommen phantastische elemente vor, in manchen bereichen ist er aber auch ziemlich starke sozialkritik und positionsbestimmung (ein wichtiges element der platte ist ja auch das nachkriegstrauma der söhne, die ihre väter im ww II verloren haben, und das ist wiederum sehr stark die story von roger waters).
ich finde, dass "the wall" zwischen einigen genres hin- und herpendelt (musikfilm, video, opernhafte sequenzen (the trial)) und kaum eindeutig einzuordnen ist.
ist deiner meinung nach jedes musik-video phantastik...? ich meine, warum auch nicht...?
aber dann stellt sich doch irgendwann die frage: was ist nicht phantastik, oder? zumindest stellt sich die frage langsam mir.
molosovsky Besitzerin
…denn ich unterscheide allgemein schon zwischen Fiktion und Fakt.
Ich freu mich, Kollege David, daß Du was zum Rütteln an meinen Notitzen gefunden hast.
Also, Nachrichten sind freilich keine Phantastik, auch wenn die natürlich grundsätzlich ebenfalls entlang narratologischer Banden generiert und wahrgenommen wird. Vielleicht sollte es immer besser einschränkend seriöse Nachrichten lauten … wobei die Frage ja dann ist, WAS man jeweils unter seriös versteht. Was für die einen ne seriöse gute Nachricht und Wahrheit (Monotheisten) ist, scheint dem anderen nur eine weitere Fantasywelt-Variante zu sein (moi).
Ich wage zu behaupten, daß man allein schon zum Hin- und Herspringen zwischen Genres ein gerüttelt Maß an phantastischen Kulturtechniken braucht. Guck doch, wie HART der Diskurs um realistisch und un-realistisch zu Aristoteles' Zeiten ausgetragen wurde, als der alte Schubladenfetischist seine Einheit von Ort, Zeit und Handlung formulierte. –– Selbst in den Mainstream-Narrationen ist heute Ortswechsel, Vor- und Rückblenden sowie Zufall und Logiklöcher allerorten gewöhnlich, und sich streng an die aristotelischen Gebote haltende Erzählungen ehr die exotische Ausnahme.
Meine letzter Funde dazu: die spannenden Filme »Phone Booth« (seit »Falling Down« wieder ein guter Joel Schumacher), und davor »Nick of Time« (mit Johnny Depp und Christopher Walken), sowie der Dogma-Film »Das Fest« und van Triers »Dogville«. ––– Bevor jemand glaubt, daß auch die Echtzeit-TV-Serie »24« in diese Reihe gehört: hier wird zwar Zeiteinheit und Handlungseinheit (wietestgehend) beachtet, aber nicht die des Ortes.
Nun, all das Verstoß gegen die dramatischen Gebote von Aristoteles ist zwar abstraktionsbezogener, aber deshalb für mich noch lange keine waschechte Phantastik. Zeit-, Orts- und Handlungssprünge sind aber sehrwohl Teile des phantastischen Werkzeugkastens zum Geschichtenerzählen.
Für den Film oder das Album »The Wall« ist es herzlich Wurscht, wie und ob ich ihn der Phantastik zuordne. Aber um überhaupt zu illustrieren, was Phantastik (für mich) ist, taugt der Film ungemein.
So ist »The Wall« mit Filmen wie »Beautiful Mind«, »Twelve Monkeys« oder »Fight Club« insofern verwandt, als daß hier immer ein konfliktgeladenes Durcheinander von innerer und äußerer Wirklichkeit thematisiert wird (platt gesagt: Kafka-Fantasy-Technik). Sowas kann man auch realistisch darstellen, wenn die innere(n) Wirklichkeit(en) keinen bildnerisch-dramaturgischen Ausdruck erhalten; oder eben auch phantastisch, indem man den Zuschauer im Ungewissen darüber läßt, was in der Darstellung zur inneren oder äußeren Wirklichkeit gehört, bzw. beiden bildnerisch-dramaturgisch Ausdruck verliehen wird.
Musikvideos sind für mich nicht automatisch Phantastik, Musicals aber wohl.
Musikvideos zeigen ja oft zum Song eine Bildgeschichte, also ein sich gegenseitiges Ergänzen von musikalisch-textlicher (Lyrik im weitesten Sinne) und visuell-gegenständlicher (Comic im weitesten Sinne) Narration. Sobald auf der visuell-gegenständlichen Ebene Phantastik betrieben wird (wie in »Human Behaviour« von Björk, oder »Sledgehammer« von Peter Gabriel), ist auch das Musikvideo Phantastik.
david ramirer
diese definition von phantastik immer noch zu verschwommen bzw. nicht verschwommen genug... gerade heutzutage ist doch das nachrichten-genre phantastischer den je und das erfinden von brandaktuellen news gehört nicht nur in der BILD-zeitung zum täglichen geschäft. ich behaupte, es ist gar nicht möglich täglich eine zeitung mit wahrheiten zu füllen, die lücken der wirklichkeit sind - wie thomas bernhard einmal sagte - "in den zeitungen, je boulevardesker sie sind, noch ausgestopft". also mit phantastik oder eben anderen erfindungen aufgefüllt.
ich habe irgendwie noch nicht ganz behirnt, wo sich die grenzsteine zwischen phantastik, erfindung, imagination und fantasie setzen, mir fehlt vielleicht hier das gespür (oder das blanke wissen).
die imagination jedenfalls (bzw. auf deutsch, das "vorstellungsvermögen") wird doch in nahezu allen kunstwerken bemüht (und ich zähle nachrichten nicht unbedingt zur kunst, was eventuell ein fehler ist)... und filme wie "falling down" und "phone booth" (den ich übrigens großartig finde) sind auch stark imaginierte moral-alegorien der sonderklasse um dem geneigten zuseher (wie auch bei dogville) so manches klarer zu machen, als es die täglichen nachrichten vermögen. so gesehen ist die phantastik immer auch auf ganz alltägliche dinge abzielend: nämlich auf die weiterentwicklung des publikums, und sei es nur durch träumende zerstreuung um sich darnach wieder für den harten lebensalltag frisch gestärkt einzufinden, vielleicht um ein paar wertvolle erkenntnisse reicher.
ein musikvideo ist sehr oft nicht einmal narrativ, sondern zeigt oft vielmehr weitgehend den/die sänger/in und dazu ein paar modisch wertvolle inszenierungen. es bedarf hier oft viel imagination und phantastik beim publikum, aus lied und bild ein ganzes zu machen, wenn überhaupt. dass das dennoch manchmal gelingt, ist ein surrealer vorgang.
molosovsky Besitzerin
Lieber David, –––– bin ich wieder mal zu schwurbelig gewesen :-)
Diesmal zu zuerst zu Musikvideos: Gruppe oder Sänger platt beim Zappeln ob im Studio oder Konzert zu filmen, ist freilich erstmal goor nüscht phantastisch. Doch bereits hier kann ein sehr begeisterter Betrachter des Clips sich angeregen lassen, sich vorzustellen, dabeizusein, beim Konzert, in der Fabrikhalle usw. In diesem Fall wird aber nichts dargestellt, daß in der Faktenwelt unmöglich wäre. Dabeizusein wenn Musiker spielen ist sehr irdisch. In diesem Fall versuchen Musikvideos oft ehr das Gegenteil von Phantastik, nämlich Autentizität zu vermitteln. Das jüngste mit bekannte kräftige Beispiel dafür ist das St.Quentin-Video von Metallica zu »St. Anger«.
Zum Unterschied der ähnlich gelagerten Begriffen Phantastik und Imagination:
Imago bedeutet heute = »1. {Psychol.} Im Unterbewußtsein existierendes Bild einer anderen Person; 2. {Biol.} Vollinsekt; 3. {Antike} wächserne Totenmaske«, und das ganze Wortfeld, ist Lateinisch; ursprüngliche Wortbedeutung ist schlicht »Bild, Bildnis, Abbild« und verrät viel über den menschlichen Fetischismus für das Visuelle; ist verwand mit imitieren, Imitat usw.
Daraus hat man nun viele lustige Begriffe gebastelt, die aber alle eben ehr mehr als weniger mit der optischen Seite der Vorstellungskraft zu tun haben. So gibt es das Imageorthikon = »Speichernde Fernsehaufnahmeröhre«; das Imaginalstadium = »Stadium der Insekten nach Abschluß der Metamorphose«; den Imagismus = »engl-amerk. lyrische Bewegung von etwa 1912-1917, die für die Lyrik den Wortschatz der Alltagssprache forderte & dabei höchste Präzision & Knappheit des Ausdrucks & Genauigkeit des dichterischen Bildes anstrebte«; und freilich das heute gebräuchliste Image = »Bild von jemanden in der Öffentlichkeit«.
Bei Phantasie sieht es schon schwieriger aus, den mein Fremdwörterduden reicht nicht aus, um die Bedeutung des Wortes zu klären. Dort steht der übliche Rattenschwanz: »1. (ohne Plural) a) Vorstellung, Vorstellungskraft, Einbildung, Einbildungskraft; b) Erfindugnsgabe, Einfallsreichtum; 2. (meist Plural) trugbild, Traumgebilde, Fiebertraum«. Die weiteren Bildungen wie Phantasma = »Sinnestäuschung, Trugbild«; oder Phantasmagorie = »1. Zauber, Truggebilde, Wahngebilde; 2. künstliche Darstellung von Trugbildern, Gespenstern usw auf der Bühne« verraten wenig über die eigentliche Bedeutung.
Dafür brauch ich ein etymologisches Wörterbuch.
Da steht nun, es kommt vom Lateinischen phantasia =»Gedanke, Einfall«; was abgeleitet ist vom gleichgeschriebenen griechischen Subsztantiv das »Vorstellung, Einbildung, Erscheinung« bedeutet und vom Verb phantazesthai = »erscheinen, sichtbar werden« und dieses vom Adjektiv phainein = »sichtbar machen, sehen lassen« sich ableitet.
Ich übersetzte und verwende Phantasie, phantastisch und Phantastik entsprechend so: alles, was geeignet, hilfreich und förderlich ist, sich eine Vorstellungen von etwas zu machen oder allgemeiner alle Tricks um vor allem nicht-gegenständliche Inhalte zu vermitteln. Einen Gegenstand zu beschreiben verlangt lediglich gute Beobachtung, das entsprechende Vokabular. Um aber zum Beispiel Gefühle zu beschriben, die zwar jeder hat, die aber nur vage äußere Erscheinungsformen (Erröten, Blaßwerden) zeigen, braucht es schon Phantastik. Fast könnte man es übersetzten mit »anschaulich, Anschaulichkeit«, aber da bliebe die un-realistische Qualität außen vor.
Beispiel: Objektiv realistisch wäre die Beschreibung: »Ich hatte 2,1 Promille im Blut« oder ungenauer: »Ich hatte 6 Weizen und einige Runden Scotch«. Gibt dem Zuhörer genug, damit der sich ein Bild machen kann, wie besoffen man wohl war.
Die phantastische Lösungen gehen etwa so: »Ich war so besoffen, daß ich einigen Bergen die Gipfel abgebrochen habe«, oder »… daß ich nicht mehr wußte, ob ich Männlein oder Weiblein bin«. Faktisch total ungenau, emotionell und menschlich aber sehr anschaulich.
Alle Sinn-Geschichten und die sie Verbreitenden SinnMachMaschinen wie Ideologien, Religionen, Kulte ect. MÜSSEN sich der Phantastik bedienen, um ihre Inhalte zu vermitteln. Wie über Dinge sprechen, über die man schweigen sollte, wenn nicht anhand der Bilderbücher die das kollektive Unterbewußte zu Verfügung stellt.
Uaa, ich komm zu spät zu meiner Hartz IV-Arbeit.
Ich hoffe, es ist jetzt etwas klarer, wie fundamental ich Phantastik verstehe.
david ramirer
lieber alex für die ausführliche schilderung deines phantastikbegriffes.
aus diesen ausführungen leite ich für mich ab, dass jede art von kunst (zumindest wie ich kunst für mich privat definiere) phantastik ist (zumindest zum teil). die nichtkommentierte schilderung von fakten - die nicht auch die eigene bzw. zu evozierende emotionalseite beleuchtet (egal ob jetzt mit worten, bildern oder herumgehopse auf einer bühne) - wird bei mir nicht als kunst eingereiht.
seltsamerweise findet sich derartiges nicht einmal oft in wissenschaftlichen arbeiten...
schmerles
ot: Ich habe mir erlaubt Ihren Beitrag zu verlinken.
molosovsky Besitzerin
… dafür sind Blogs doch da.
Vielen Dank Herr Nachbar.
Auf ein föhliches Wiederlesen.