Hal Duncan »The Book of All Hours 1: Vellum«, oder: Die Mythen-Jukebox voll aufgedreht
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Eintrag No. 483 — Nicht vollends von der Hand zu weisen ist der Vorwurf, dass mit dem Schotten Hal Duncan (1971) ein junger Autor auf die Erzählbühne tritt, der sich geradezu versessen nach der ganz irre großen Bedeutung streckt und dabei die Gemütslaken von schamhafteren, zurückhaltenderen Lesern unflätig mit seinen Hirnwichsereien voll sudelt. Wer sich also nicht bekleckern lassen will, möge einen großen Bogen um »Vellum« machen. — Aber den Unentschlossenen und Neugierigen möchte ich folgendes zu bedenken geben (und die nach ästhetischen Exzessen Suchenden können’s als Empfehlung nehmen): stilistisches und ästhetisches Hirnwichsen ist eine sooo schändliche Sache nicht. Immerhin: wie soll und kann Literatur die Herausforderungen durch den Weltensturm an Verunsicherung, dem Scharaden- und Ränkespiel mit interessenstützender Großraumphantastik der Echtwelt begegnen, wenn nicht zum Beispiel mit einer schon ins Unanständige gesteigerten Fabulations- und Mythenmixmanie?
Worum geht’s? Tja, puh, äh, diese Frage überfordert mich ein wenig, denn eine Handlung im üblichen Sinne (eine Geschichte wird von A nach Z erzählt) aus dem heftigen Mythen-Shake und dem fortwährenden Randomwechsel der Zeiten- und Welten-Jukebox herauszulesen, ist nicht so einfach, oh nein. Auf jeden Fall aber kann ich sagen, dass mich der Stil und die in »Vellum« zusammengeschmissenen Themen überwiegend bezaubern. Vom Gebaren her kommt Hal Duncans Roman für mich daher, als ob ein zum rotzig-romantischen Goth-Punk mutiertes »Finnegans Wake«[01] sich ‘ne Acid-Pappe geschmissen hat, um anschließend mörderheftig im Darkroom mit Grant Morrisons Comichelden aus »The Invisibles«[02] zu knutschten, wovon es sich dann erholt, indem es abwechselnd beim Wasserpfeifenblubbern chillt bzw. zu lebhafter Musik abzappelt. — Mit typographischen Besonderheiten, mal links, mal mittig, mal rechts stehende Zwischenüberschriften, werden verschiedene Wirklichkeits-Verfassungen gekennzeichnet, ebenso wie mit dem Wechsel zwischen zwei verschiedenen Serif-Schriftgestaltungen des Fließtextes. In der zweiten Hälfte von »Vellum« kommt es anhand in einer beeindruckenden SF/Cyberpunk-Szenerie auch zu informationstechnologischen Spielereien, die mit kurzen sans serif-Einschüben darstellen, wie sich ein Schwarm mit künstlicher Intelligenz gesegneter Nanopartikel, so genannte Bitmites, durch die verschiedenen Schizoschichten einer Anarchoterroristenpsyche zu hacken versucht.
Los geht alles mit einer brennenden Welt-Karte. Vereinfachend gesagt prallen Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftswelten aufeinander im großen Kampf ums Dasein. Das zentrale Phantastikelement sind die ›Unkin‹, sprich: engel-/dämonenhafte Wesen die es druffhaben, mit dem ›Cant‹[03] die Wirklichkeit zu formen. Außerdem werden höllische Tattoo- und Blutmagie sowie himmlische Chakra-Wummen und KI-Nano-Schwärme eingesetzt. Auf der einen Seite steht die Herrschaft der Erzengel, das Imperium, die Faschos, die kapitalistischen Unterdrücker; auf der anderen Seite die rebellischen Dämonen, die Anarchisten und Freiheitskämpfer, die Arbeiterbewegung. Das Ganze wird recht ungestüm durch Zeiten und Welten springend erzählt, von Babylons Inanna-, und Griechenlands Prometheusmythos, über verschiedenste historische Konflikte (Erster Weltkrieg, Spanischer Bürgerkrieg, Irlandaufstand, Irakkrieg, Terrorismus in der nahen Zukunft) bis hin zu Andersweltgebieten, durch welche die Flüchtlinge eines die Wirklichkeit verschlingenden Sturms zigeunern. Verstrickt in diesen Himmel-, Fegefeuer- und Höllestrudel finden sich drei Studikumpels und ein Mädel und ihr überirdischer Sohn wieder, deren Wege sich quer durch die Dimensionen im so genannten ›Vellum‹ kreuzen. Das Vellum ist die Welt als Buch, GOttes ultimative Gebrauchsanleitung für die Realität, das alle wahren Namen enthält, mit denen sich der besagte ›Cant‹ zwecks Wirklichkeits-Kontrolle bewerkstelligen lässt. Dieses ›Ewige Stundenbuch‹ löst sich aufgrund der unerhörten Eingriffe und Trinkereien der Konfliktparteien auf, beziehungsweise verwandelt sich drastisch, dort wo die entsprechend bratzigen Engel und Dämonen durchlatschen und aufeinandertreffen. Nur hat noch keine der Figuren einen wirklichen Plan davon, was eigentlich los ist; sie irren durch die Vellum-Welt(en), umflirrt von Traumfetzenwirbeln, Erinnerungen und Visionen, unterwegs auf Expeditionen um die älteste Kultur der Menschheit zu finden, in Irrenhäusern darbend, in Schlachtfeldgräben kauernd, in Pubs mümmelnd und in Hotelzimmern grübelnd.
Zwei Dinge dünken mir bei »Vellum«, im Guten, bemerkenswert. Erstens der gewollt rand- und bandlose Umgang mit Genregrenzen, wenn mythische und utopische Register wechseln, wenn sich klar verortbare Genre-Stimmungen, wie beispielsweise Kriegs- und Spionageabenteuer, mit vom magischen Realismus bekannter doppelbödigen Stimmungspoesie verquickt. Da lässt sich nicht auseinanderklamüsern wie die mythische Archaik aufhört, in modernen Horror übergeht und die fetzige Cyperpunk-SF beginnt, denn gemäß der alles ihren Weltenbrandstrudel ziehenden Logik gemäß ist hier alles stets im Übergang und ein Vor- oder Nachecho seines gewandelten Selbst. Sprachlich versteht sich Duncan zuallermeist vorzüglich darauf, Punk-Jargon mit sakralem Mythenton zu kreuzen, zwischen legendengesättgtem Fantasygeraune und Science Fiction-typischen Gadgetsprech zu wechseln, auf abgefahrene Traumbildcharaden Schilderungen von realistischen Echtweltszenen folgen zu lassen. Zweitens, und das geht mit eben ausgeführten Stil- und Genremix prächtig Hand in Hand, beziehungsweise ist eine Folge davon, meistert Hal Duncan erzählend ein Desorientungshütchenspiel mit den fundamentalen Wirklichkeitskathegorien Ort, Zeit und Identität. »Nix ist fix« scheint das Buch mir als Leser einflüstern zu wollen, und nachdem ich mich damit abgefunden habe, dass Mich-treiben-lassen ohne Orientierung von diesem Durcheinander von mir gefordert wird, traten um so deutlicher die starken Gefühle der Figuren und die spezifischen Orts- und Zeitstimmungen (ob historisch oder andersweltlich) als eigentlich bestimmende Motive hervor. Da kommt dann unter anderem zur Sprache: Der Schmerz derer, die Verfolgung, Ausgrenzung und Folterung erleiden (oder zufügen), oder deren geistiger Halt durch den Verlust des/der Geliebten zerrissen wurde; der rebellische Trotz derer, die dem Schöpfer- und Ordnungszwang der selbstgerechten Positivisten ein trotziges Nein entgegenstellen; die schamgepeinigte Einsamkeit der Verräter und Feiglinge; das Erschrecken von Liebenden über die Mächtigkeit ihrer eigenen Leidenschaft.
Ich will nicht verhehlen, dass »Vellum« mir streckenweise auch gehörig auf die Nerven ging, vor allen mit seinen lyrisch-idyllischen Passagen, wenn wenig los ist, aber sich viel angeschmachtet oder weltschmerzlich gelitten wird, oder auch, wenn liturgisch-rituelle Partituren zu schematisch absolviert wird. Aber das ist nun mal der Preis, den man entrichten muss beim Lesen eines Buch, dass sich intensiv und mit zum Teil aktionsreicher Wonne auf alle möglichen Extreme einlässt, Orientierungs-Sicherheiten gewollt meidet, Grenzen zwischen Welten, Zeiten, zwischen Ich und Du, Innen und Außen mit Schmackes missachtet. Immerhin dauernd die Nervpassagen nie lange, da das Buch in hunderte kurze Tracks unterteilt ist. Anders gestimmte Leser werden vielleicht gerade die rrrromantischen Schmachtpassagen der in verschiedensten Weibchen/Männchen-, Männchen/Männchen-Kombinationen der Liebenden zu schätzen wissen, oder begeistert die formelhaften Schritte der Ereignis-Abfolge von altbekannten Mythen genießen (vor allem wenn man diese Mythen eben noch nicht durch das Selberlesen der klassischen Quellen kennt). — Leider habe ich den zweiten Band »Ink« nicht mehr rechtzeitig mit der gebotenen Sorgfalt zu Ende lesen können, um hier zu berichten, wohin die Reise mit Hal Duncans wildgewordener Mythen-Jukebox führt, und ob sich diese Reise letztendlich lohnt oder nicht. Nachdem ich aber bei »Vellum« die größere Mühe aufbringen musste, weil ich den Roman beim ersten Mal auf Englisch las, werde ich mich bei »Ink« (Deutsch »Signum«) zurücklehnen und gleich die höchster Bewunderung würdige Übertragung von Hannes Riffel genießen.
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ANMERKUNG:
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Hal Duncan: »Das Ewige Stundenbuch 1 – Vellum«; aus dem Englischen von Hannes Riffel; 594 Seiten; gebunden mit Schutzumschlag bei Shayol / Golkonda, 2007; ISBN: 978-3-926126-72-6
Taschenbuch bei Heyne, 2008: ISBN: 978-3-453-52254-1
Hal Duncan: »Das Ewige Stundenbuch 2 – Signum«; aus dem Englischen von Hannes Riffel; 648 Seiten; gebunden mit Schutzumschlag bei Golkonda, 2010; ISBN: 978-3-942396-00-4