molochronik
Freitag, 15. August 2008

Nick Harkaway: »The Gone-Away World«, oder: Ninjas, wandernde Städte nach dem großen Bumm und eine seltsame Freundschaft

Eintrag No. 521

Für die Sammelrezi »Wonniglich verirrt im Labyrinth der Phantastik« in »Magira 2009« überarbeitet und erweitert worden.

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Nick HarkawayNick Harkaway (1972 geborener Sohn von John le Carre) hat mit »Die gelöschte Welt« einen Debutroman hingelegt, der vollends meinem Verlangen nach kunterbunt-unterhaltsamer ›Anspruchs‹-Literatur gerecht wird. Zuerst aufgefallen ist mir die Sprache. Harkwaways Prosa suhlt sich mit Wonne in den vokabularischen Möglichkeiten, welche dem Englischen zuhanden sind (und ich bin sehr gespannt, wie die deutsche Übersetzung klingen wird), vermischt genussvoll hohe und niedere Ausdruckniveaus verschiedenster Milieus (mit besonderer Parodieaufmerksamkeit für Multi-Corperate-, Militär- und Studentenkneipen-Slang) und zuweilen durchquert man absatzlange Satzgeflechte, die sich durch exquisite Fizzelfreude auszeichnen.

Zur Szenerie: alles beginnt in einer an »Mad Max« oder »Fallout« erinnernden Restwelt damit, dass nach einer Explosion der Strom ausfällt, während der Erzähler und seine Kumpels und Kumpelinnen von der »Haulage & HazMat Emergency Civil Freebooting Company of Exmoor County« Billard in der »Namenlosen Bar« spielen. Irgend jemanden ist es gelungen, mit einem Sabotage-Akt die »Jorgmund Pipe«, das größte und wichtigste Objekt der noch bestehenden Welt empfindlich aus dem Gleichgewicht zu bringen. Die Welt wie wir sie kennen ist nämlich, pardauz!, vor einigen Jahren bei einem Nicht-Krieg durch den Einsatz einer neuen, seltsamen Sorte Bomben verschwunden. Die wenigen Überlebenden haben sich zurückgezogen in den schmalen Streifen der »lebenstauglichen Zone«, welche sich an das mächtige Jorgmund Rohr schmiegt. Aus diesem Rohr wird eine mysteriöse Substanz versprüht, welche die monstergebärende Unwirklichkeit auf Abstand hält. Und eben dieses Jorgmund Rohr steht nun in Flammen. Der Erzähler und seine Freunde sind Veteranen des »Un-Krieges«, nach dessen Ende sie wegen unseliger Entwicklungen während der Wiederaufbau-Anstrengungen desertierten. Nun sollen sie als freie Söldner und Transportunternehmer mit einem Haufen dicker Sprengladungen per Vakuumeffekt den Großbrand löschen, um die Welt zu retten. Soweit die Infos des ersten Kapitels, die reich garniert werden mit Abschweifungen beispielsweise zu von Schweinen angetriebenen Notstromgeneratoren und zu den unterschiedlichen Entmenschlichungsgraden von administrativen Schnöseln.[01]

In einer sich über mehrere Kapitel erstreckenden Rückblende berichtet dann der Erzähler von seiner Kindheit: wie er vom Spielplatz weg vom gleichalterigen Gonzo William Lubitsch und seiner Familie adoptiert wurde; wie die beiden Jungs mit viel Hingabe und Talent Kampfsportkünste lernten (wobei Gonzo sich der harten, der Erzähler sich der weichen Schule widmet). Haarsträubende Erzähl-Umwege legen die Historie des »Hauses des Stimmenlosen Drachen« von Meister Wu dar und seiner obskuren Feinde, der Ninjas der »Uhrwerk Zeiger Gesellschaft«. — Der Amateur-Kampfsportler Harkaway ist (zurecht wie ich meine) stolz darauf, einen anspruchsvollen Roman mit Ninjas geschrieben zu haben. Entsprechend bietet »Die gelöschte Welt« atemberaubend inszenierte Kämpfe. Da wird vorgeführt, wie gefährlich Tupperware in den Händen eines einfallsreichen Kampfmeisters werden kann, oder wie selbst ein älteres Ehepaar mit Pheromonen und afrikanischen Bienen einem Pulg gutausgebildeter Meuchelmörder beizukommen vermögen. — Desweiteren geht’s mit Studentenabenteuern (sprich: Kneipenszenen, angeschickerte Politdiskussionen & Beziehungswirren), Anti-Terror-Razzien, Folterverhören durch quasi-staaliche Sicherheitsorgane, und schließlich landen der Erzähler und Gonzo bei der Agentenausbildung des Projekt Albumen, wo sie nicht nur Auto-Kampfsportunterricht erhalten, sondern sich auch die Entwicklungslabore für die Unbombe befinden.

Die im ersten Viertel des Buches hervortretenden politischen Wirren konzentrieren sich in einer Abschweifung wirtschaftliche Begehrlichkeiten auf globaler Bühne, wenn Harkaway über das Hickhack um das fiktive Land Addeh Katir (irgendwo an den Ostausläufern des Himalajas gelegen) sehr trefflich über die finstereren Machenschaften des neoliberalen Großkapitalwahnsinns und fatal-hirnloser internationaler Gierdiplomatie fabuliert. In dieser Fremde geraten der Erzähler und sein Kumpel Gonzo schließlich in die Nicht-Kriegswirren um Addeh Katir, und hier, etwa zur Halbzeit, beginnt sich der Roman endgültig zu einem überwältigenden Pandämonium zu entfalten, wenn wir lernen die Go Away-Bomben zu lieben und das kosmische Grauen aus dem freigesetzten, wankelmütigen »Zeugs«-Gewaber und dem Gestobe menschlicher Träume und Ängste steigt. Durch Go Away-Bombon beraubt man Materie und Wesen ihrer sie in Gestalt haltenden Information und verwandelt sie damit in »Stuff«. Die nichteinkalkulierte Knieschußfolge ist, dass sich dieses »Zeugs« und alles was mit ihm in Kontakt kommt planlos neue Informationen aus der Noospähre[02] zuzelt und dadurch in alles möglich Vorstellbare verwandeln kann.

Die zweite Hälfte des Romanes schildert die Ereignisse nach dem Un-Krieg, wenn die Reste der überlebenden Menschheit improvisierend mit Hilfe der zugänglichen technischen Großmitteln der zur Unwirklichkeit gewordenen Erde Überlebenszonen abtrotzt, kurz: das besagte Jorgmundrohr wird errichtet. Das lässt die dabei gebildete Jormundfirma zum alleinigen unheimlichen Weltherrscher der wenigen Komfortzonen alten Stils aufsteigen, und wahrhaft erschreckend sind die Grundlagen ihres Erfolges. — Nach der Rettungsaktion, zu welcher man im ersten Kapitel aufbrach, wird der Erzähler von seinen Kumpanen getrennt und er bricht auf zu einer Queste, um die dunklen Geheimnisse der Jorgmundfirma zu enthüllen, aber auch, um die Rätsel seiner zweifelhaften Freundschaft mit Gonzo Lubitsch und schließlich die trügerische Natur seiner eigenen Existenz zu ergründen.

Durch all diesen quirligen Garn zieht sich auch ein frech-zarter romantischer Faden der verhäkelt ist mit Elisabeth, der Adoptivtochter von Meister Wu. Hier ist auch eine interessante Argumentationsebene eingebettet, in der ergründet wird, was kraftmeierische Helden eigentlich liebeswürdig macht. Zudem ziehe und werfe ich meinen Hut johlend vor Begeisterung, immer wenn Harkaway einen anarchistisch-ulkigen Trupp Pantomimen auftreten lässt, über seine Idee und Schilderung eines Zirkus von Aussteigern, die sich Egalität halber alle K. nennen; wegen Zaher Bey, Pirat und Widerstandskämpfers von Addeh Katir; sowie wegen einem mit Safran handelndem, extrawortgewaltigem, dauerstreitendem Ehepaar. Die amüsanten Auftritte all dieser Figuren, und die stets gegenwärtige Schlagfertigkeit der Gedanken des namenlos bleibenden Erzählers ließen mich willig mit Milde über die zwei, drei dreisteren Hau Ruck-Kniffe des Handlungsverlaufes hinwegsehen, welche das ›In die Irre führen der Leser‹-Spiel des Romanes zumutet. Wer derartige Herausforderungen einzugehen gewillt ist, dem wird anhand dieses

Fantasyromans für Leute, die normalerweise Fantasy scheuen[03]

vorgeführt, wie vorzüglich produktiv sich reißerische Äktschn, relevante Satire, kosmisches Grauen und spekulierende Fabulierlust miteinander verschränken lassen.

(P.S.: Die Umschlaggestaltung der UK-Ausgabe ist perfekt. Hier geht es zu einer kleinen Flickr-Dokumentation der Entwicklungsgeschichte des Covers.)

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ANMERKUNG:

[01] Hier als Beispiel für Harkaways Systemsatire eine Zusammendampfung seiner Schreibtischhengst-Klassifizierung:
Typ M bis E: wirkliche Menschen die kreischend der seelenverschlingenden professionellen Beamtenpersona entkommen wollen;
Typ D: kecker Möchtegern-Zahlmeister mit verkümmerter Menschlichkeit;
Typ C: glucksender Lakai des entmenschlichenden Systems;
Typ B: herzlose bürokratische Maschine;
Typ A: wäre eine Person, die derart umfassend von den Mechanismen des Systems für das er oder sie arbeitet aufgesogen wurde, dass die Person aufgehört hätte eine eigenständige Wesenheit zu sein. ••• Zurück
[02] Noosphäre (in etwa: ›Welt der Gedanken‹) ist ursprünglich die Wortschöpfung eines heilsgeschichtlich überspannten Jesuiten aus den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts, entsprechend theo- und teleologisch aufgebrezelt als Phase des kollektiven Menschengeistes auf dem Weg zum Omegapunkt, das heißt, dem am Jüngsten Tage wiedererscheinenden Christus. Die weltlich-mildere, heute gebräuchlichere Bedeutung bezeichnet mit Noosphäre schlicht die Welt der Ideen und denkbaren Gedanken. ••• Zurück
[02] So Harkaway selbst in einem Interview über seinen Roman. Man darf das auch lesen als Empfehlung des Romanes für »Fantasyfreunde, die die Schnauze voll von Formel-Fantasy haben«. Wobei das Wort ›Fantasy‹ sich hier als ›Phantastik‹ sinnvoller begreifen lässt, und weniger als ›Fantasy‹ im Sinne von ›aufgewärmte Mittelalterromantisierung mit Offenbarungsglasur‹. ••• Zurück

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Nick Harkaway: »The Gone-Away World«; 531 Seiten (16 Kapitel); William Heinemann 2008; ISBN-Trade Paperback: 978-0-4340-1843-7
Nick Harkaway: »Die gelöschte Welt«; aus dem Englischen von Jürgen Langowski; 800 Seiten, Piper Taschenbuch 2009; ISBN: 978-3-492-26704-5
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