molochronik
Montag, 22. März 2004

Umberto Eco: »Mögliche Wälder« — Zusammenfassung

Eintrag No. 87 — Wieder ist es ein Text von Umberto Eco, in dem ich hilfreiche Anregungen gefunden habe, um die die Frage nach den Qualitäten von guter Science Fiction (oder allgemein Phantastik) zu verhandeln.

Die Havard-Vorlesungen aus dem Jahre 1994 »Mögliche Wälder« umfaßt 25 Seiten (zu finden in Im Wald der Fiktionen — Deutscher Taschenbuch Verlag 1996, S. 101ff).

••• Musik beim Zusammenfassen: H.R.Kunze »Korrekt«, Track 01: Der Wald vor lauter Bäumen.

Gemeinsam mit der Zusammenfassung des Vortrages »Die Welten der Science-Fiction« (und erst recht, wenn man Eco selbst kosultiert) hoffe ich allen Phantastik-Lesen ein wenig Handhabe liefern können, mit der sich ahnugslose Verächter und Geringschätzer von SF-, Horror- und Fantasyliteratur schön genüßlich in der Luft zerpflücken lassen.

Zusammenfassung »Mögliche Wälder«:

Eröffnungs-Anekdote: Über die Lächerlichkeit der Frage von König Vittorio Emanuel III anläßlich seiner Betrachtung eines Gemäldes (ländliche Idylle):

»Wie viele Bewohner hat das Dorf?«

Grundregel Fiktionsvertrag:

(Zitat Coleridge:

»Willing suspension of disbelief«

= willentliche, freiwillige Aussetzung/Unterlassung der Ungläubigkeit/des Zweifels)

  • Der Autor tut so, als ob er die Wahrheit sagt;
  • Der Leser tut so, als wäre das, was Autor erzählt, wirklich geschehen.

Ecos Beobachtung: bis zu einer Auflagenstärke von einigen 1000 Büchern kennen die Leser den Fiktionsvertrag; aber spätestens ab einer Millionen haben viele scheinbar nie von ihm gehört.

Beispiel: Ein Leser des »Foucaultschen Pendels« (der moniert, daß ein Brand aus wirklicher Welt in der Beschreibung Paris fehlt) geht also für Eco zu weit, …

»…als er verlangte, eine ausgedachte Geschichte müsse restlos und vollständig mit der wirklichen Welt, auf die sie sich bezieht, übereinstimmen.«

Also:

»Wie es scheint, suspendieren wir unsere Ungläubigkeit auf einige Dinge, und nicht auf andere«

z.B. wenn Leser bei den Brüdern Grimm zwar den sprechenden Wolf akzeptieren, jedoch erstmal annehmen, daß Rotkäppchen tod ist, ›nur‹ weil der Wolf sie gefressen hat.

Die Frage von König Vittorio Emanuel III ist also gar nicht sooo lächerlich, denn der Zauber jeder erzählenden Fiktion ist, …

»… daß sie uns in die Grenzen einer Welt einschließt und irgendwie dazu bringt, diese Welt ernst zu nehmen.«

{Wobei entsprechend ihrer Art eine Fiktion ›Ernst zu nehmen‹ sich zwei verschiedene Grundhaltungen unterscheiden: einerseits der des logischen, andererseits der des empathischen Mitdenkens und Nachvollziehens.}

Fiktive Welten basieren immer auf der realen Welt.

Manzonis {»Die Brautleute«} Landschaftsbeschreibung gründen auf geographischen Merkmalen der realen Welt. Kafka führt in »Die Verwandlung« die ungeheuerliche Veränderung von Georg Samsa vor dem Hintergrund einer realistischen Welt ein (sprich: das Zimmer, die Reaktion der Familie). Noch unwahrscheinlicher als Kafka: Edwin Abbott und sein »Flatland«: Die Beschreibung einer zweidimensionalen Welt, deren Bewohner und ihrer Kultur;

»…die ganze in der realen Welt erworbene geometrische Erfahrung wird aufgeboten, um diese irreale Welt möglich zu machen.«

Beispiel: Kastenunterschiede der Bewohner von Flatland aufgrund der Anzahl der Ecken, genaue Erläuterung von Wahrnehmungsprozessen der Flatlander ect. Abbotts Welt ist geometrisch und perzeptorisch {die Wahrnehmung betreffend} möglich. (Oder bei den Grimms: sprechende Wölfe sind zumindest physiologisch durchaus auch möglich: Stimmorgane und Hirn haben sie ja.) Abbotts mögliche Wesen kommen also mittels konventioneller Beglaubigungsverfahren zu fiktionaler Existenz.

Self-Voiding-Fiction, das sind narrative Texte, die ihre eigene Unmöglichkeit demonstrieren, wie in »Die blaue Villa in Hongkong« von Robbe-Grillets . Hier gibt es:

  • a) widersprüchliche Versionen ein und desselben Ereignisses;
  • b) ein und derselbe Ort (Hongkong) ist und ist zugleich nicht Ort der Handlung;
  • c) widersprüchliche Zeitfolge (A dann B, aber auch B dann A);
  • d) ein und dasselbe fiktive Wesen auf mehreren Existenzebenen (als Person, Skulptur, Theateraufführung ect). — Vergleich mit der optischen Illusion der unmöglichen Stimmgabel, oder anderer Motive die durch M.C. Escher bekannt wurden: Hier kommt Verwirrung auf, weil die Regeln der 2-D-Geometrie und die Regeln der perspektivischen Darstellung von 3-D-Objekten zugleich gelten sollen.

Das läßt Eco schlußfolgern:

»Also müssen wir zugeben, daß wir selbst bei der unmöglichsten aller Welten, um von ihr beeindruckt, verwirrt, verstört oder berührt zu sein, auf unsere Kenntnis der wirklichen Welt bauen müssen. Mit anderen Worten, auch die unmöglichste Welt muß, um eine solche zu sein, als Hintergrund immer das haben, was in der wirklichen Welt möglich ist.«

Bedeutet: alle fiktiven Welten sind Parasiten der wirklichen Welt {Warum nicht auch/oder Symbionten?}. Es gibt keine Regel, wie viele fiktive Elemente ein Text maximal fassen kann, im Gegenteil: große Flexibilität ist möglich; und was nicht speziell erwähnt wird, stimmt wohl mit wirklicher Welt überein (oder ist nicht wichtig für die Handlung).

Beispiel: (beabsichtigter) komischer Effekt in einer Geschichte von Campanile, wo ein Mann seinem Kutscher sagt:

»Bringen sie die Kutsche mit, und das Pferd«.

Kontrast-Beispiel eines nicht erwähnten Pferdes bei Nerval, weil es eben nebensächlich ist. Eine Kutschfahrt ohne Pferd böte ansonsten Stoff für eine Gothic Novel, oder ein Märchen wenn z.B. Mäuse statt Pferden vorgespannt sind.

Die Rex Stout-Krimis mit Nero Wolfe spielen in New York, sind also kontrollierbar. Über literarische Fanship und Pilgerstätten der Belletristik: Die Bakerstreet in London (siehe Sherlock Holmes); Bloomsday in Dublin (siehe »Ulysses«). Eine Taxifahrt in New York zum Alexanderplatz wäre also ein klarer Fehler, unwahr und unmöglich in der wirklichen Welt. Aber: Kafkas phantastische Welt in »Der Prozess« ist wie ein elastischer nicht-euklidischer Kaugummi, denn die Ausgänge eines Hauses führen in verschiedene, von einander entfernt gelegene Stadtteile. Eco unterscheidet dann:

  • A) Fiktionales Universum ist viel kleiner als reale Welt (nur einige wenige Personen, wohldefiniert sind Ort und Zeit); oder
  • B) Fiktionale Welt fügt realer Welt Personen und Ereignisse hinzu, endet nicht, sondern dehnt sich ständig weiter aus. — Obwohl Parasiten, ermöglichen kleinere Welten eine Konzentration auf endliche, der unseren sehr ähnliche Welten. Das Überschreiten der ontologischen Grenzen ist den fiktiven Welten nicht möglich, also verlegt man sich hier auf die Erforschung der Tiefe.

Über eine Figur bei Standal (»Rot & Schwarz«) weiß man mehr (nämlich: alles was man wissen muß; z.B. Unwichtiges wie das erstes Spielzeug wird deshalb nicht erwähnt), als über eigenen Vater. — Gegen-Beispiel der Autorin Invernizio, die zuviel erzählt, sprich: etwas für die Geschichte nicht wichtiges (Aussehen des Turiner Bahnhofs). — Der Leser der den fehlenden Brand in »Foucaultschen Pendel« bemängelt, akzeptiert also nicht, daß eine fiktive Welt kleinere Dimension hat als die reale Welt hat. — Umgekehrt (löblich): Leser haben Paris nach Beschreibung im »Pendel« geformt (machten außschließlich Photos von Dingen, die im Roman auch vorkommen).

Über Romane als Spiel meint Eco:

»…Streifzüge durch fiktive Welten haben die gleiche Funktion wie Spiele für Kinder … um sich mit den physischen Gesetzen der Welt vertraut zu machen und sich in den Handlungen zu üben, die sie eines Tages im Ernst vollführen müssen. In gleicher Weise ist das Lesen fiktiver Geschichten ein Spiel, durch das wir lernen, der Unzahl von Dingen, die in der wirklichen Welt geschehen sind oder gerade geschehen oder noch geschehen werden, einen Sinn zu geben. Indem wir Romane lesen, entrinnen wir der Angst, die uns überfällt, wenn wir etwas Wahres über die Welt sagen wollen

= therapeutische Funktion der erzählenden Literatur, und Grund des Geschichtenerzählens. Mythen geben dem Wust aus Ereignissen, Dingen und Erfahrungen eine Form {Alle Narrationen und damit z.B. Religionen sind Sinnmachmaschinen wie Rüdiger Safranski im »Philosophischem Quartett« mal so schön gesagt hat}.

Gespenst Wahrheit.

Wahrheit ist wohl leicht bestimmbar in wirklicher Welt (Ecos augenblicklicher Vortragsort, Vortragsdatum, Ort und Zeit des Todes von Napoleon). In fiktiven Welten ist etwas wahr im Rahmen der möglichen Welt. Beispiel: Heirat Hamlet & Orphelia = unwahr. Heirat Scarlett O'Hara & Rett Bulter = wahr.

Über den Wahrheitsbegriff: Die Wahrheit des Vortragsdatums ist abhängig vom Bezugsrahmen des Gregorianischen Kalender. Die Farbebezeichnung für Ecos Kravatte beim Vortrag blau ist heute wahr, aber unwahr nach antiker Farbauffassung, die einen anderen Grenzverlauf zwischen Blau und Grün bevorzugte. Alle Wahrheitsbestimmung gründet also auf hollistischen Annahmen. Eco demonstriert während des Vortrages eine Möglichkeit unmittelbarer Kontrolle von Wahrheit. Ist hinter ihm ein Gürteltier? Er sieht sich um und kann feststellen, daß dies unwahr ist.

»Wir glauben, in der realen Welt müsse das Prinzip der Wahrheit (Truth) gelten, in den fiktiven Welten dagegen das des Vertrauens (Trust). Dennoch ist auch in der realen Welt das Prinzip des Vertrauens ebenso wichtig wie das der Wahrheit.«

Dazu nun der Begriff von der Kulturellen Enzyklopädie (der Begriff stammt von Hillary Putnam): zu neun Zehnteln verläßt sich ein Mensch bezüglich des Wissens, über das was wir Welt nennen, auf andere (z.B. ob es eine Stadt wirklich gibt, in der man noch nie war; wann und wo Napoleon gestorben ist). Die Erfahrung lehrt Eco: Die Kulturelle Enzyklopädie liefert ein zufriedenstellendes Bild der Welt, aber:

»… die Art diese Darstellung zu akzeptieren, unterscheidet sich wenig davon, wie wir mögliche Welten in fiktiven Geschichten akzeptieren.«

Unterscheidung: Sprechende Wölfe im Märchen {oder bei Disney} sind akzeptabel, aber bei Begegnung mit echten Wölfen orientiert man sein Verhalten besser nach einem Zoologiewerk. Es ist schwer, genau zu erklären warum wir so entscheiden. Es ist komplexer zu entscheiden, ob Aussagen der Kulturellen Enzyklopädie zu Napoleons Tod wahr sind, als zu entscheiden, ob Scarlett & Rett aus »Vom Winde verweht« verheiratet sind.

Beispiele:

  • A) In Dumas Musketier-Fortsetzung »Zwanzig Jahre danach« ersticht Athos den Sohn von Milady (beide Männer sind erfundene Personen), bleibt also in fiktiver Welt wahr, solange ein Exemplar des Buchs existiert;
  • B) In »Die Drei Musketiere« wird Lord Buckingham von Felton erstochen (beides historsich reale Personen). Bei neuem Fakt der Geschichte müßten Historiker ihren Text korrigieren, die Welt von »Die Drei Musketiere« zweigt aber dann nur weiter in Richtung Fiktion ab (Uchronie), bleibt dort aber wahr.

Fiktive Welten haben also ein Wahrheitsprivileg, in ihnen kann der Wahrheitsbegriff nicht in Frage gestellt werden. Das Wahrheitsprivileg liefert auch Maßstäbe für die Grenzen der Interpretation {… wenn Jack the Ripper seine Taten anhand seiner Bibelauslegung begründete, würde wohl jeder sagen: Du spinnst, Alter!}

Beispiel einer abwitzigen Rotkäppchen-Interpretation (als alchemistische Anleitung zur Trennug von Quecksilber und Schwefel). Eco dazu:

»Man kann aus Texten herauslesen, was sie nicht explizit {ausdrücklich offen} sagen (und die ganze Interpretations-Kooperation des Lesers beruht auf diesem Prinzip), aber man kann nicht das Gegenteil dessen, was sie sagen, in sie hineinlesen«

{Doppel- und Mehrdeutiges nicht willkürlich zu etwas Eindeutigem auflösen, siehe »Total Recall«-Ende mit Schwarzenegger.}

Zweifel an realer Welt:

Waren die Amerikaner wirklich auf dem Mond? (Leichtere Wahrheitsentscheidung in Fiktion: Flash Gordon war auf dem Planeten Mungo). Für Ecos wurde die Mondlandung hinreichend beglaubigt, mittels der Bestätigung durch den USA-Konkurrenten UdSSR. Die Entscheidung was in wirklicher Welt wahr ist, erfordert Entscheidung darüber, wieviel Vertrauen man der Gemeinschaft entgegenbringt, welche Teile der Globalen Kultrurellen Enzyklopädie man anerkennt, vertraut und welchen nicht.

Führt der Leser einen Irrtum beim Lesen ein (glaubt z.B., daß zur Zeit von »Krieg & Frieden« die Kommunisten in Russland herrschen), bleibt das eine Privatsache. Jedoch liefert ein Text das Profil für seinen Modell-Leser (z.B. durch den langen Dialog in Französisch zu Beginn von "Krieg & Frieden«). Ein Autor muß also nicht nur die wirkliche Welt als Hintergrund voraussetzten, sondern dem Leser auch Infos über die wirkliche Welt liefern, über die der Leser womöglich nicht verfügt {Beispiele: Die ganze Mathe in »Cryptonomicon« um Davenports Charakter erfassen zu können; die Details über Ringkampf um Garp von John Irving verstehen zu können.} — Ecos Beispiel: Rex Stout erwähnt Kreuzung 4. und 10. Straße (Sonderfall im West Village, aber nicht wichtig für Handlung) in New York. Wer die Stadt grob kennt, könnte verwirrt sein, denn dort heißt es gewöhnlich Kreuzung aus Street (Breiten) & Avenue (Längen).

Ausklang: Von Walter Scott, der die Voranstellung historischer Infos in einem Roman für nötig hält; Über Washington Irvings Paralipse:

»Wer je eine Fahrt den Hudson hinauf gemacht hat…«;

Bis zu Ann Radcliff, die bezüglich des Aussehens von Südfrankreichs selbst irrte, oder aus hohler Unkenntnis ihr Südfrankreich für »Mysteries of Udolfo« einfach zurechterfand.

ECO ENDE

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