molochronik
Donnerstag, 22. April 2004

Hitler-Geburtstag als Journaillen-Fetisch

Eintrag No. 94 — Betrifft die Lesung von Thor Kunkel am 20 April 2004 im Poeltzig-Bau (so die richtige heutige Bezeichnung) der Universität Frankfurt.

Ich habe es gewußt, daß einige Autoren der öffentlichen Kulturrezeption ihre juckenden Finger nicht zu zügeln vermögen, wenn sie auf dunkle Zeichen oder hintersinnige Zusammenhänge aufmerksam machen können.

Der 20. April - ein Schwarzes Loch im Kalender, Gröfaz aus dem Uterus als Singularität die alles verfinstert, was an diesem Tag getan (oder dann doch besser unterlassen) wird. Ist der 20. April ein Feier- oder Gedenktag der Bundesrepublik? Meines wissens nach nicht, aber vielleicht ist er ein geheimes, ein invertiertes Jubiläum.

Von mir darf ich mit aller Bescheidenheit behaupten origineller und neugieriger reagiert zu haben, als ich nach Kenntnisnahme der Führer-Versautheit des Datums mal bei wissen.de nachschaute, wer denn noch alles Geburtstag an diesem Apriltag hat. Was soll ich sagen: müssen sich Brigite Mira und Jasmin »Blümchen« Wagner (Achtung! Nachname eines bekannten Antisemiten) an ihrem eigenen Geburtstag schämen? Dürfen Science-Fiction-Fans diesen Tag nicht als Geburtstag des Pioniers Kurd Laßwitz feiern? Und was ist mit Napoleon III, Harold Lloyd, Pietro Aretino, Jean Miro, Sir Eliot Gadiner, Karl I von Rumänien, der Heiligen Rosa von Lima und all den anderen (insgesamt 54) Personen, die, wie es der Zufall will, auch an Bad Adolfs Geburtstag geboren wurden, sei es vor oder nach ihm?

Nein meine lieben Journalisten, als jemand, der den Stress eures professionellen Schreibenmüssens nicht teilt und die Welt entsprechend unparanoider betrachten kann, muß ich tadeln: so geht das nicht.

Frankfurter Rundschau: »…weil Kunkel im ehemaligen IG Farben-Haus las und das auf den Tag genau 115 Jahre nach Adolf Hitlers Geburt.«
Perlentaucher (Referenz auf FR-Beitrag): »…als Thor Kunkel vorgestern (am 20. April!) im IG-Farben-Haus…«
Wobei ich sagen muß, daß der FR-Beitrag nicht halb so gehässig ist, wie der Bericht der F.A.Z.
F.A.Z.: »…dem 20. April, einem Datum, das für die Festkultur im Dritten Reich eine wichtige Rolle spielte (und für manche heute noch spielt): An Adolf Hitlers Geburtstag also las Kunkel…«

Der Autor verliert hier auffällig viel Worte über diesen Zufall, muß nicht nur auf das Datum hinweisen, sondern auf den Nimbus, die negaitive Heiligkeit desselben beschwören. Ist das nötig? Muß hier ein etwa ein Gedenken aufrechterhalten, verteidigt werden?

Außerdem bezeichnet Herr (oder Frau) rik in seinem F.A.Z.-Beitrag alle Anwesenden der Lesung als Ahnungslose (weil keiner gegen Kunkel protestiert). Na, wer urteilt, schmeißt da wahllos und undifferenziert eine Leutegruppe in einen Topf? Ich zumindest kann hiermit meine Empörung über diese auch mich betreffende Titulierung äußern, Frau (oder Herr) rik, denn 1972 geboren, habe ich die Geschichte des III. Reiches und der Shoa eben auch nur erlernen können. Vielleicht werden ja Angehörige anderer Gesellschaftsschichten mit geheimen teuren Zeitmaschinen in die Lage der Zeitzeugenschaft versetzt. Herr rik, dokumentiert zudem erst die (kritische) Nachfrage des Moderators, um dann einige Zeilen später zu schreiben, der Abend sei unkritisch verlaufen. Auch kann nicht nicht davon die Rede sein, Herr Kunkel habe sich inzeniert, er tat dies sogar weniger, als rik in seinem Beitrag im Nachhinein die Lesung darstellt.

Ich für meine Person als Leser möchte betonen, daß ich die Verbrechen des III. Reiches nicht leugne, ja, sie sind eine Singularität an Menschenverachtung und Wahnsinn und sie verursachen heute noch viel Schmerz in den Seelen der Überlebenden dieser Zeit und aller Nachgeborenen, deren Familiengeschichte davon berührt ist. Wenn ich mir ein heutiges Deutschland in einem Alternativwelt-Europa vorstelle, das weder Hitler noch die Nazis erlebt hat, das keine Judenausrottung und Vernichtung sonstigen unwerten Randgruppen-Lebens ertragen mußte, und wenn ich dieses Alternativwelt-Deutschland mit unserem tatsächlichen heutigen vergleiche, fühle ich den Schmerz des Verlustes, zum Beuspiel darüber, daß uns heute ein etabliertes jüdisches Bürgertum mit seinem Geisteswitz fehlt, daß uns heutigen Deutschen unerträglich viele der hervorragensten Köpfe (und Herzen) fehlen, die vernichtet oder vertrieben wurden.

Trotzdem kann ich mich mit diesem Schmerz vergnügen, wenn Kunkel seine nach präpubertären Kalauer miefenden derben Scherze mit der vermeitlichen Elite z.B. der SS oder der NS-Wissenschaft treibt. Zugegeben: Chaplin hat das in »Der Große Diktator« mit dem aus den Fenster springenden Raketentestern knapper und eleganter gemacht. - Kunkel hat wohl zu hoch gepokert, als er glaubte, daß man diesen Schmerz soweit angenommen hat, daß nicht jedesmal verletzt oder paranoid aufgebrüllt werden muß, wenn eine fiktionale Narration Dissonanzen zumutet. Als lustige Zeichnung bei Walter Moers mögen solche Scherze noch angehen, als reiner Text ist es anscheinend zu schwer, die Feinheiten groben Nazi-Porno-Trash zu erkennen. (Meine Entschuldigung an Herrn Moers - falls Sie das hier lesen und sich unangenehm platziert fühlen, wieder mal herhalten müssen, so als anerkannter Grenz- und Tabuüberschreiter.)

Man kann Kunkel mit aller Berechtigung vorwerfen, daß er einen ätzenden, bisweilen extrem geschmacklosen Humor pflegt. Eine Dauer-Verfremdung durch unerträgliche Sprachartistik, in der die Nicht-Provokation scheinbar Aussnahme bleibt.

Ein Herr aus dem Publikum der IG-Farben-Haus-Gröfaz-Jubiläums-Lesung hat es aber ganz richtig erfaßt:

»Das ist eine Satire auf das III. Reich.«

Spontaner Applaus des ahnungslosen Publikums. Darüber hat niemand geschrieben und es findet sich bei den Berufsschreibern auch niemand, der es für seine Sache hält, den (zugegeben grenzwertigen) Humor in Kunkels Darstellung von kranken, pathologisch mitleidsunfähigen Triebdeppen zu verteidigen. Auch gut, machs ich das halt.

Ach übrigens: Von den bisher berichtent habenden Journalisten war niemand so fleißig, mal Veranstalter oder Verlag zu fragen, wie es zum Ungeschick des Datums kam. Wie kleine Dr. Watsons ziehen sie lieber die Schlüße, die ihre Bildung und Fixierung zulassen. Nehmt entsprechend diese meinen Einspruch auf eure Deutungshoheit entgegen.

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