Fremden Finanzdienstleistungen andrehen?!?
(Alltag) – Neues aus dem Erwerbslosendasein.
War ich gestern bei einem Vorstellungsgespräch im Osthafengebiet. Gut, fieseliger Fusselregen und meine enorm verspannte Rückenmuskulatur hat nix mit der einladenden Firma zu tun … dennoch kann ich mich mit dem Gedanken nicht ganz anfreunden, per Telefon und Computer zu Fremden Kontakt aufzunehmen, um ihnen was von den günstigen Konditionen und vermögensmehrenden Möglichkeiten der Firma van Horne Bank† zu erzählen.
Es wäre ein Kravatten-Job mit Mobiltelefon und Laptop von der Firma. Mit Kravette sehe ich IMMER aus wie ein Konzentrationslageropfer, das sich nochmal fein herrichtet für den Fluchtversuch oder die nächste Selektionsrunde.
Der Mann – ich nenn ihn mal Cornelius† – mit dem ich gesprochen habe, war nett, hat für mich auf seinem Laptop eine Stunde lang ne Power Point-Schau abgeklickt: die Partner des Unternehmens, Versicherungen, Privatbanken und internationale Finanzhäuser … das Pyramidensystem der Aufstiegsmöglichkeiten, sowie das mit Anteilspunkten funktionierende Vergütungssystem. Cornelius ist 26, also sechs Jahre jünger als ich, strahlt immer ein wenig von der Zufriedenheit eines Buddhas aus, und rechnet mir vor, daß ich im ersten Monat mit einem Einkommen von so ungefähr 3000 Euro (Brutto) rechnen könne. Er selbst hat auch von ganz unten angefangen, wo auch ich anfangen würde, wenn ich mich zur Mitarbeit entschlösse, und er Cornelius verdient an die 8000 bis 9000 Euro, und das nach nur 6 Monaten bei der Firma! Er zeigt mir ein Programm, mit dem man flugs jedem klarmacht, daß seine alte Krankenkasse, Bausparereinlage oder Vermögensanlage aber so was von gigantisch ungünstiger ist, als die Kniffe und Tricks, welche die van Horne Bank für jeden Kunden auf Lager hat.
Doof nur, daß die ganzen Instinkte und Resonanzen meines Gemüts zu archaisch-unpraktisch sind und ich bei dem Themenfeld Finanzen so furchtbar schnell bis zum Kreislaufkollaps gelangweilt bin. Zudem müßte ich mich um einen ganzen Haufen Kram kümmern, der mir zutiefst abhold ist, wie Kravatten, Schufa-Auskunft und Führungszeugnis. Demnächst gibts ein Fortbildungsseminar in einem feinen Edelhotel in einem Kurort, und schon kommendes Wochenende einen kleinen Vortrag von 11 bis 17 Uhr, den ich mir auf jeden Fall anschauen soll.
Was ich noch rausgehört habe ist, daß Cornelius seine ersten Finanzdienstleistungen an Verwandte, Freunde und Bekannte vermittelt hat. Er hat sicherlich einen besseren Ruf als ich, denn all meine Verwandten, Freunde und Bekannten wissen um meinen Ekel vor, und meinem Ungeschick mit Geld. Wenn ich auf jemanden mir bekanntes zugehen würde mit den Worten »Ich habe da eine interessante Finanzanlage für Dich«, würde er oder sie sich vertdatzt am Kopf kratzten oder herzlich losgiggeln, oder beides. Nun, ich werd mir am Wochende mal dieses Sonntagsseminar anschaun. Vielleicht taugt das versprochene Buffet ja was.
Verkaufen kann ich ohnehin nur, womit ich mich auskenne, und wovon ich überzeugt bin. Schade, daß ich weder den Knabberkramthekenjob in einem (normalen) Lichtspielhaus-, noch wenigstens den Beate-Uhse-Kinoaufsicht-Job in den letzten Monaten ergattert habe.
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† Namen wurden von Molosovsky geändert.
distel
Masche durchschaut: auf die Mitleids-Tour der gesamten Verwandt- und Bekanntschaft irgendwelche nutzlosen Verträge auf's Auge gedrückt. Entweder kanst Du Dich danach bei keinem mehr blicken lassen oder Du kommst auf den Geschmack und machst weiter so - dann ist es Dir egal, dass Du Dich bei keinem mehr blicken lassen kanst. Wie wahrscheinlich Cornelius bei seiner damaligen Peergroup...
Hella
hör auf zu jammern und werd endlich ein moderner Mensch. Style dich, programmiere dich auf Erfolg und benutze alle anderen als Mittel zum Zweck. So - und nur so! - wirst du es weit bringen. Denk daran, daß es nicht nur um dich geht. Du bist nichts, der STANDORT DEUTSCHLAND ist alles.
PS. Sollte deine Renitenz anhalten, laß dir Psychopharmaka verschreiben, bevor du zwangsweise unter Drogen gesetzt wirst.
molosovsky Besitzerin
Tja Distel, das Dumme ist ja, daß ich Cornelius das nicht grad raus fragen kann: »Mögen Ihre Freunde und Bekannten Sie denn eitgentlich noch?«
––– Also, ich könnt schon fragen, aber er wird kaum ehrlich mit »Nein« antworten, wenn das die Wahrheit geböte … so oder so wäre der Cornelius sicherlich ehr verwirrt bis unangetan von meiner Frage.
Und Hella, danke daß Du mich an Drogen erinnerst. Da bin ich echt und völlig unsarkastisch froh, daß ich nur ein zurechtgeprügelter Ex-Linkshänder – jetzt Rechtshänder – bin, und eine grund-volksschulische Psycho-Behandlung nebst entsprechenden Mittelchen haarscharf an mir vorbeigingen.
––– Für mich das Tragische am STANDORT DEUTSCHLAND ist ja die Gefängnis-Morphologie als allgemein verbreitester Modus der Weltbetrachtung. Mir ist der Standort wirklich herzlich Wurscht. Kann keine tiefere Bindung zu so einem peinlichen Vehikel wie dem, das sich Nation nennt aufbauen, erst recht nicht zur hiesigen. Ich habs ja nicht mal wirklich dicke mit dem bayerischen Patritismus, obwohl der sicherlich einer der zünftigsten und fläzigsten Lokalpatriotismen Deutschlands ist. In keiner deutsche Stadt fühle ich mich auch nur halb so heimisch, wie zum Beispiel in Wien oder London. So naiv es klingt: ich will die Weltregierung, wenn überhaupt eine … und keine Conspirations-Kybernetik zum gegeneinander Ausspielen von Antipoden.
Nebenei gerade im Radio: Niemals-Kanzlerkandidat Ed, der sprechende Kolibri-Geier, fordert mehr nationalen Zusammenhalt, Besinnung auf Brauchtum und Tradition … kotz kotz kotz … Ich würde jetzt sehr gerne an die gute deutsche Tradition von Dr. Mabuse anknüpfen, und gewisse Versammlungen mit meinen Todesstrahlen traktieren.
Frage an Euch zwei Damen, da Ihr Euch für diesen Beitrag interessiert:
Hättet Ihr Interesse an einer Finanzberatung? Ich hab demnächst wohl vielleicht ein paar ganz reizvolle Vorschläge und Kniffe, wie Ihr schon vor drei Jahren zu Millionärinnen geworden seit … (duck).
distel
Mr. C. wäre über eine derartige Frage sicherlich nicht erbaut - und es würde selbstredent Deine Unwürdigkeit für die Großzügigkeit des entsprechenden Arbeitgebers offenbaren.
Aus meinem Posting spricht mehr das nahende 6-jährige Jubiläum selber in einer Bank zu arbeiten. Und ich werde nie, gar nie nicht, Vertrieb machen. Für sowas bin ich zu ehrlich.
Hella
meine arbeitslosen Freunde und ich würden unsere Vermögen gern gewinnbringend anlegen.
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Was den Stoiber Ede betrifft, so ist sein Kulturbegriff gewiß ein anderer als meiner; doch ich stimme ihm dahingehend zu, daß wir uns tatsächlich mehr auf unsere nationale (und auch europäische) Identität besinnen müssen: und zwar schon aus psychologischen Gründen, dann aber auch aus politischen: denn der Traum von einer guten und gerechten Weltregierung (und auch von einem vereinten Europa) ist längst zum Alptraum der kapitalistischen Globalisierung geworden.
oliverg
in deren fängen war ich auch mal.
irgendwann kommt der Punkt wo Du für die 100 Leute mit Telefonnumemrn auflistest. (An sich: vor dem Hotel.) Da bin ich ausgestiegen ;)
molosovsky Besitzerin
Oh ja distel, für Banken hab ich ja auch schon gearbeitet und das war mitnichten immer unangenehm.
Tja Hella, was eine stärkere Europäisierung von Deutschland betrifft sind wir uns wohl einig. Mir gehts trotzdem auf die Nerven, daß nach 400 Jahren Globalität immer noch kontinentale, nationale und sonstige lokalere Dünkel einer Abstimmung einer Terra-Verfassung im Wege stehen.
¿Echt fraktal, 100 Telefonnummern?! Wenn die mich das erst fragen sollten, werden die aber staunen, wie wenig Leute ich kenne :-)
jfalch
mal nach "Strukki" oder "Strukturvertrieb" googeln; in kurz: Drückerkolonnen im Finanzdienstleistungsmarkt; übelst. Siehe auch zB Berlinmagazin oder
Verbraucherschutz
molosovsky Besitzerin
Sieht schwer so aus, als ob die van Horne Bank so ein Strukki-Laden ist … auch wenn die großen Namen dahinter natürlich seriös, sprich: richtig große Global Player sind.
Nicht erschrecken, jflach, aber ich habe in Ihren Comment eingegriffen (wegen Formatierung der Links.