Samstag, 20. März 2004
Marcus Hammerschmitt: »White Light / White Heat« - Zusammenfassung
(Literatur) - Vor einem Jahr las ich den Aufsatz »White Light / White Heat - Science-Fiction und das Veralten der Zukunft« von Marcus Hammerschmitt (zu finden in »Der Glasmensch«, Suhrkamp, S. 173ff) aus dem Jahr 1995.
Hat mich ziemlich schwindlig gemacht vor lauter zustimmenden Nicken, aber bisher ich habe es bisher nicht geschafft, diese 16 Seiten (9 Abschnitte) wirklich zu überblicken. Hammerschmitt bietet einen kenntnisreichen Rundumblick auf die SF an, dabei die Avantgarde genauso im Visier, wie die massentauglichen Serialien. Dabei formuliert er zuweilen etwas komplex, da er sich bemüht eine kritische Reflektion der SF mit einer Verteidugung derselben zu verschmelzen.
Die Anmerkungen in {eckigen Klammern} sind wieder meine, der Rest stammt aus dem Essay.

HAMMERSCHMITT ANFANG
Eröffnungssatz: Die SF hat heute Möglichkeiten, von denen die sogenannte ernste Literatur nur träumen kann. {Schon mal sehr in meinem Sinne} Über Bruce Sterlings Wort vom SF-Autoren als Hofnarren und dessen Beziehung zum Herrscher; in drei Fälen wird Hofnarr ausgebuht: a) Wenn er den selben Witz zweimal erzählt; b) wenn der Witz zu weit ging; c) wenn der Witz nicht weit genug ging. {Das sind ja ganz hervorragende Kriterien zur Qualitätsbestimmung. Vor allem wegen c) nöle ich oft.} Woran soll der Hofnarr seine Zunge wetzen, wenn dem Herrscher die Gemeinheiten ausgehen?
Herausforderung für den Traum der SF: die technische Entwicklung ist dem Menschen weiter voraus, als dem guttut. Zwang der SF immer wieder dasselbe zu sagen, ist Reaktion auf beständiges bequemes Lügen der Massenmedien und Politiker, man hätte die technische Entwicklung schon im Griff. SF bietet da konsumierbare Katastrophen, aber nur selten wird der Rand hin zu unsagbarem Terror des schlechthin Unbekannten erreicht.
Die SF ist kindisch und das verleiht ihr große Kraft. Der kleine Professor {Bill Watersons Calivin und seine Zeitmaschine} verglichen mit dem großen Professor (Otto Hahn, Edward Teller). Der überzeugende Bluff der SF entspricht der Auftritt vom Hofnarren in den Gewändern des Herrschers … Aussage der SF dabei: Alle Geschichten bereits mit dem ersten durch Faustkeil erschlagenen Neandertaler erzählt.
Die Stadt als eigentlicher Schauplatz der SF {erscheint mir doch etwas einseitig}. Die Schilderung der Stadt als ein durch die Mittel der Technik ermöglichter Lebensraum entweder als a) trivialer Illusionismus, oder als b) schnodderige Punk-Kolportage. Über die Wüste als ein Biotop des einsamen elektronischen Cowboys (Lohngangster), dieser als Zeichen einer ermüdenden Technik, die ihre Niederlage (Hiroshima, Tschernobyl) nicht eingestehen will, weil die Puppen noch tanzen.
Schwäche der deutschen SF: Hang zur Tiefgründigkeit {wer ist schon frei davon? Hammerschmitt selbst offenbar auch nicht ganz}, Ablehnung der Unterhaltungskultur {Adronos Eisenkugel}. Bis Ende der Sechzigerjahre wird Grass mißtrauisch beäugt! Die SF wird verschmäht aber heimlich unter der Bettdecke verschlungen. Amerikanisierung {Einzug der Kulturindustrie} in Deutschland nur bezüglich Fernseh- und Essensgewohnheiten.
Weißes Glühen sich entfaltenden technologischen Fortschritts zeichnet gute SF-Texte aus (Hammerschmitt offenbart sich als Hard-SFler}. Schaudern über posthumane Eigenschaften dieses Glühens = nicht intergrierte Technik. Die Versuche, mit den wandernden Taugenichtsen der Romantik die Technik in den Traum zurückzuholen, oder die automatisierte Welt zu verstehen, sind mißlungen. Geräte spielen in SF Hauptrollen, dazu Vergleiche mit Western- und Krimiheld (Knarre, Brief, Geheimdokument, Zigarette). Über Entenhausen als kleinster gemeinsamer Nenner bezüglich Umgang mit Dingen. Scheitert Technikrezeption rückt Körper zum Thema auf. Körper hat Technik nur seine eigene Gesundheit entgegenzusetzten, ansonsten ist er unterlegen … Mißverhältnis der behäbigen Natur zur hektischen Technik offenbart Körper als einstmalig bewohnte Behausung der Seele.
Über Sekten (Hubbard & Co.) als Allianzen von SF mit den Zuständen, die der SF ihre Stoffe liefert. Adornozitat: wir leben in einer Welt, die krasseste Paranoia rechtfertigt, weil sie sie wahr macht. Im High-Tech-Disneyland schießen die Westworld-Roboter mit scharfer Munition.
Enge Nachbarschaft der SF zu Sympathie mit dem Menschen und dem Terror, den der Mensch gegen sich selbst entfesseln kann; dies lößt Unbehagen aus (Blick in Teufelsküche) und läßt staunen, daß SF vorhersagen kann. Dazu Glühbrinen-Eddison: ihr ahnt nicht die Nähe von Konstruieren und Schreiben {siehe Eco-Zusammenfassung: Konjekturverfahren}. Über den Nimbus der SF als Mahner und Seher … aber aus neuen Technologien neue {mögliche} Katastrophen zu spinnen ist der Job eines phantastischen Autors, keine Hellseherei.
Technik wird abgelehnt, wenn Rückholung des natürlichen Bewußtseins angestrebt {natürliches Bewußtsein ist ein ganz heikler Begriff}. Frauen mögen keine SF; Konkurrenz zwischen (männlichen) Fortpflanzungstechnikern und selber gebähren könnenden Frauen (Hüterinnen der Natur), bis hin zu zukünftigen feministischen Terrorismus. - Der Fortschritt von Gestern wird heute der Lächerlichkeit preisgegeben, doch Kafka sagt: Forschrittsglauben kann doch nicht annehmen, daß Fortschritt schon stattgefunden hat, sonst hieße es ja nicht glauben.- Eines Sinnes sind: a) Das arrogantes Staunen über (technische) Errungenschaften der Vergangenheit, und b) die Enttäuschung darüber, daß bisher die Technik das vom Menschen geliehene Leben nicht zurückerstattet hat (und das kurz vorm Milleniumswechsel, ooch Menno). Den Verfechtern einer Aszendenz-Theorie der Geschichte {Mythos vom Zivilisationsprozess, siehe Gegensatz Norbert Elias/H.P. Duerr} entgegnet die SF trotzig: Geschichte hat noch gar nicht stattgefunden … was die SF aber unbekömmlich ernst erscheinen läßt (den Hofnarren nicht gut steht). - Die SF ist und bleibt also vornehmlich paradox, weil sie einerseits verkündet, daß nichts Neues unter der Sonne geschieht, andererseits aber schildert, was in der Zukunft noch geschehen muß.
HAMMERSCHMITT ENDE
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Mein Eindrücke dazu: Die Beobachtung der Stadt als eigentlicher Schauplatz und der Gegenstände als Hauptakteure empfinde ich als überbewertet: da bekomme ich gleich Lust mir eine Provinz-SF auszumalen in Holzhütten, wo Leute sich nur menschliche Belange erzählen {die Prä-Cogs in Spielbergs »Minority Report« am Schluß}. Hammerschmitt übersieht dabei die Kolonie, die Forschungsstation und schließlich das Raumschiff (oder ähnliches), sprich: die Technik als Überlebens-Zelle in unwirtlicher Umwelt … in Verlängerung der Symbiose Mensch/Pferd zu Centaur (Mensch/Auto zu organischem Gefährt … siehe Babylon 5 Schattenschiffe, Borg bei TNG ff}. Hammerschmitt stellt zwar auch mal fest, daß die positiven Utopien der SF selten und meist schwachbrüstig sind, ist aber selber fixiert auf die Dialektik Technik-Mensch-Natur … den Kultur- und Zivilisdationspessimismus teile ich aber weitestgehend.
Interessant die Aussage über Frauen die keine SF mögen, denn das scheint mir (zumindest tendenziell) wirklich so zu sein. Solage also SF vornehmlich von einem Geschlecht bevorzugt wird, ist sie verbesserungsfähig (so verstehe ich Emanzipation), was ein vorrübergehendes Kriterium für gute SF abgibt, oder allgemeiner: Gute SF befriedigt den SF-Kenner einerseits, verschreckt andererseits den SF-Unbedarften nicht und unterhält beide.
Aus der Überschrift und dem Hauptthema von Hammerschmitts Essay entnehme ich ein weiteres neues Kriterium für gute SF: Die aus der Gegenwart extrapolierte Welt der Zukunft sollte möglichst langsam zur Lachnummer vergammeln (wenn sie ernst gemeint ist). - Wenn also z.B. »Auf zwei Planeten« heute mehr unfreiwillige Komik als Abenteurluft verbreitet, ist das ein Minus für die SF-Qualität des Romans. Selbst wenn darin solche noch nicht erreichten technischen Wunderwerke auftauchen, wie sich selbst an der Decke in Schlitze und Fächer wegsortierende Klamotten.
Der ganzen äußerst kritischen und leicht fatalistischen Haltung von Hammerschmitt extrahiere ich desweiteren die erstrebenswerte Qualität: Versuche die Versöhnung von Technik und Mensch zu unterstützen; denn daß deren Verhältnis arg unharmonisch ist, liegt auf der Hand {siehe: »Le monde diplomatique Atlas der Globalisierung«}.
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Weitere Beiträge zu Literatur, Science-Fiction, Fantasy und Phantastik:
• Tolkien schrieb: »Selbstverständlich ist Der Herr der Ringe ein durch und durch religiöses und katholisches Werk…«
• Umberto Eco: »Die Welten der Science-Fiction«
• Umberto Eco: »Mögliche Wälder«
Umberto Eco: »Die Welten der Science-Fiction« — Zusammenfassung
Eintrag No. 85 — Als eröffnenden Paukenschlag zum Thema Zukunftsfiktionen hier das Eröffnungszitat von Brian W. Aldiss »Der Milliarden Jahre Traum«, Bastei Verlag (leider vergriffen).
The mirrors of the gigantic shadows which futurity casts upon the present…
{Die Spiegelbilder der riesenhaften Schatten, welche die Zukunft auf die Gegenwart wirft…}
— P. B. Shelly: »The Defence of Poetry«
Ich habe mir bisher nie die Mühe gemacht, meine einzelnen Geschmacks-Urteile als zusammenhängendes Gebilde zu betrachten: kurz, meine Poetik zu formulieren. Im Forum von SF-Netzwerk habe ich eine Diskussion um die Frage entdeckt, was gute SF sei, und das spornte mich an mal zu stöbern, was denn bisher dazu an brauchbaren Bestimmungsversuchen in meiner Bibliothek zu finden ist.
Ein kleiner Vortrag von Umberto Eco (gehalten auf einer Tagung 1984) kam mir ins Gedächtnis, und ich habe ihn herausgesucht, wiedergelesen und biete nun diese Zusammenfassung von »Die Welten der Science Fiction« in Über Spiegel und andere Phänomene (Deutscher Tadschenbuch Verlag, 1990, Seite 214 ff) an.
Gemeinsam mit der Zusammenfassung der Havard-Vorlesung »Mögliche Wälder« (und erst recht, wenn man Eco selbst kosultiert) hoffe ich allen Phantastik-Lesen ein wenig Handhabe liefern können, mit der sich ahnugslose Verächter und Geringschätzer von SF-, Horror- und Fantasyliteratur schön genüßlich in der Luft zerpflücken lassen.
Meine Anmerkungen {finden sich in kleiner Schrift eckig eingeklammert}, der Rest stammt aus dem Vortrag.
••• ZUSAMMENFASSUNG: »DIE WELTEN DER SCIENCE FICTION«: •••
Eco stellt erstmal klar, daß jedes erzählende Werk eine mögliche Welt konstruiert, verglichen mir der
realen, wirklichen, normalen
Welt in der wir leben, zu leben meinen, wie sie durch den Gemeinverstand, die Kulturelle Enzyklopädie definiert wird.
{Kulturelle Enzyklopädie: Damit ist das gesamte kursierende Wissen über die Welt gemeint, von entzifferten babylonischen Keilschriften bis hin zur Auskunft eines Menschen, den wir in einer fremden Stadt nach dem Weg fragen. Als Individuum gebietet man über etwa ein Zehntel eigenes Wissen, und verläßt sich ansonsten zu neun Zehnteln auf die Kulturelle Enzyklopädie. Wer noch nie in Frankreich oder England war und dennoch »Falsch!« ruft, wenn behauptet wird, daß der Eifelturm in London steht und der Trafalgar Square dem Louvre in Paris zu finden ist, vertraut offensichtlich weitestgehend auf die Kulturelle Enzyklopädie. Figuren wie z.B. Agent Moulder aus der TV-Serie »Akte X« berücksichtigen darüber hinaus auch exotischere Gebiete der Kulturellen Enzyklopädie.}
Seit Alters her nun gibt es laut Eco eine realistische Erzähltradition und eine Gegentendenz, die das Konstruieren von möglichen Welten eben richtiggehend strukurell betreibt.
- Realistisch illustriert Eco durch die Frage:
»Was würde geschehen, wenn in einer biologisch, kosmologisch und gesellschaftlich ähnlichen Welt wie der unseren Dinge geschähen, die zwar nicht faktisch geschehen sind, aber die ihrer {der realen Welt} Logik nicht wiedersprechen?«
{Siehe z.B. die populären ›Realismus‹-Welten von Hannibal Lector in den Büchern von Thomas Harris, das Vendig und Italien von Commisario Brunetti bei Donna Leon, Franz Biberkopf in Alfred Döblins »Berlin Alexanderplatz«, Annie Wilkes aus Stephen Kings »Sie« usw.};
- und phantastisch durch diese Frage:
»Was würde geschehen, wenn die wirkliche Welt nicht so wäre, wie sie ist, wenn also ihre Struktur anders wäre?«
wobei als beachtete, bearbeitete Struktur gemeint sein kann z.B. die kosmologische Struktur (sprechende Tiere, animierte Gegenstände, Dimensionslöcher allerorten) oder die soziale Struktur (Idealgesellschaft wie bei Thomas Morus, Francis Bacon, Karl Marx), usw.
Nun unternimmt Eco eine — wie ich finde — sehr einfache und doch griffige Einteilung der Phantastik, in folgende vier Wege:
- ALLOTOPIE: Hier wird unsere gegenwärtige Welt als tatsächlich andersartig geschildert. Tiere können sprechen, oder es gibt Magie, Zauberer, Feen, Geister ect.. Eco beobachtet, daß wenn eine solche Welt erst einmal vorgestellt ist, zumeist nur noch der allegorische Bezug zur realen Welt beachtet wird. {Beispiele: »Watership Down« von Richard Adams, die Harry Potter-Bücher, Bram Stokers »Dracula«, Neil Gaimans »Neverwhere«, Matt Ruffs »Fool on the Hill«, Elis Kauts »Pumukel« usw.}
- UTOPIE: Hier wird geschildert wie die Welt sein sollte {einschließlich der wie es nicht sein sollte-Umkehrung der Dystopie}. Die utopische Welt ist irgendwo, vielleicht parallel zu unserer Welt, an einem fernem Ort, in der Vergangenheit oder Zukunft, aber normalerweise schwer zu erreichen von unserer Welt (z.B. Samuel Butlers »Erehwon«), wenn überhaupt.
- UCHRONIE: Entwirft mögliche Welten nach folgender Frage:
»Was wäre geschehen, wenn das, was wirklich geschehen ist, anders geschehen wäre?«
z.B. {Bush der Zweite die Wahl 2000 nicht gewonnen, oder} Julius Cäsar die Iden des März überlebt hätte. Seitenhieb Ecos auf Verschwörungstheorien:
Wir haben sehr schöne Beispiele von uchronischer Historiographie zum bessern Verstädnnis der Ereignisse, aus denen die aktuelle Geschichte hervorgegangen ist.
{Eco berichtet in anderen Texten von interessanten Begegnungen mit Lesern, die z.B. seinen Roman »Das Foucaultsche Pendel« für bare Münzen nahmen. — Beispiele für derartige Alternativ-Phantastik: »Vaterland« von Robert Harris, »Oscar Wilde im Wilden Westen« von Walter Sattersthwait, »Morbus Kitahara« von Christoph Ransmayr.}
- METATOPIE / METACHRONIE: Hier wird die mögliche Welt als künftige Phase der wirklichen Welt von heute entworfen — hier können wir endlich wirklich von Zukunftsgeschichte sprechen. Ausgenommen solche Zukunftswelten, die eigetlich eine Weiterführung der Gothic Novel oder Romance sind (in denen Burgen und Drachen durch Raumschiffe und Blobs ausgetauscht wurden), oder die unter Allotopie besser aufgehoben sind {wie »Flash Gordon«, »Star Wars«, »The Matrix«}.
Eco grenzt ab und wird genauer:
»SF nimmt stets die Form einer Antizipation an, und die Antizipation kleidet sich stets in die Form einer Konjektur, die anhand realer Tendenzen der wirklichen Welt formuliert wird.«
Die Science der SF kann dabei eben nicht nur naturwissenschaftlich (sprich: technisch), sondern auch humanwissenschaftlich (z.B. linguistisch, sozial- und kulturwissenschaftlich) sein. Über die SF als erzählendes Spiel auf dem Wesenskern der Wissenschaft: dem Konjektivverfahren.
{Konjektur: 1. Vermutung (veraltet); 2. mutmaßlich richtige Lesart; Textverbesserung bei schlecht lesbaren Texten.}
- Beispiel Isaac Newton: Solange er seine Konjektur, Vermutung, Hypothese nicht auf die Probe stellt, bleibt sein Gravitationsgesetz lediglich das Gesetz einer möglichen Welt.
- Beispiel Pierce (Semiotik-Pionier): Auf einem Tisch liegt ne Handvoll weißer Bohnen, daneben ein kleines Säckchen. Orientiert sich die Konjektur an abzeichnender Plausibilität (= der organischen Form, die eine mögliche Welt annimmt) wird gefolgert:
»In dem Säckchen werden sich noch mehr weiße Bohnen befinden.«
Dies bleibt eine Aussage über eine mögliche Welt, bis man im Säckchen nachschaut und feststellt, ob sich tatsächlich weitere Bohnen darin befinden {oder doch herausgebrochene Goldzähne vom einem nahen Schlachtfeld, oder ungeschliffene Rohdiamanten, oder grüne Erbsen, oder oder.}.
Diese Art in möglichen Welten zu denken ist auch Philosophen, Detektiven, Psychoanalytikern, Historikern (und vielen mehr) zu eigen. Angesichts des Beispiels von Pierce aber lautet die Frage der SF:
(Der Tisch wird als leer angenommen) »Was würde geschehen, wenn auf dem Tisch eine Handvoll Bohnen läge?«
oder besser noch: eine Handvoll kleiner grüner Außerirdischer {ja — Eco führt wirklich solche Gedankenspäße auf}.
Eco erläutert die umgekehrte Symmetrie von Wissenschaft und SF:
- Wissenschaft muß ein mögliches Gesetz (Theorie) aufgrund wirklicher Befunde (Beobachtungen, Messungen, Fakten) entwerfen.
- Von möglichen Befunden (Replikanten, Klone, Künstliche Intelligenzen) ausgehend, kann die SF versuchen wirkliche Gesetze (Menschlich ist… z.B. das Mitgefühl?) zu finden.
Kurz gesagt: wo die Wissenschaft ihre möglichen Welten irgendwann verifizieren, falsifizieren muß, kann die SF (und die Phantastik) dies ins Unendliche vertagen {wobei Fiktionen die emotionelle Abrundung einer Geschichte meist wichtiger oder zumindest ebenso wichtig ist, wie die Logikknotenaufdröselung}.
Zum Ende macht Eco auf die Fälle gegenseitiger Befruchtung und Verwandschaft von Wissenschaft und SF aufmerksam:
- daß z.B. Orwell mit der »1984«-Zukunft warnt — die mögliche Welt zeigt sich als abschreckender Leichnam eines dann schon gestorbenen Patienten;
- daß es den Moment gibt, wo der Unterschied zwischen forschender Intelligenz und künstlerischer Intuition verschwindet;
- und schließt damit, daß die SF ein lebendes Beispiel der Verwandschaft von Phantasie und Wissenschaft ist.
ECO ENDE
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Meine Eindrücke: Für mich postuliert Eco die Plausibilität der aus der Gegenwart in die Zukunft extrapolierten möglichen Welt als klar ausgemachtes Kriterium zur Bestimmung guter SF. Oder ungeschwurbelt: In der realen Welt vorliegende Entwicklungen sollen weitergedacht werden und eine stimmige Geschichte darüber erzählt werden. Wobei stimmig hier als Platzhalter dient, der in weitern Betrachtungen — über den eigenen Geschmack bezüglich Stil, Sprache und Form — festgemacht werden müßte.
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Weitere grundsätzliche Beiträge zu Literatur, Science-Fiction, Fantasy und Phantastik:
- Über Anspruch: —Besser kompliziert oder einfach genial? Stegreifvortrag über Zaunpfahlwinkerei, Lesehaltungen, den östlich-westlichen Begriffsrahmendiwan, Glatte und raue Konventionen, Form und Inhalt.
- Lesende Weltenwanderer: —Warum ist Phantastik so hipp; Molo findet, daß Norbert Bolz (in »Cicero« 12/2005) und Rüdiger Safranski (in »Literaturen« 12/2005) darüber ganz anregend sinnieren.
- Molosovskys Wahrheitsbegriff (schnelle Fassung):
—Über Fiktions- und Wahrhaftigkeitsverträge, Verschwörungen und die Kulturelle Enzyklopädie.
- Tolkien schrieb: »Selbstverständlich ist ›Der Herr der Ringe‹ ein durch und durch religiöses und katholisches Werk…«: —Betrachtung Mittelerdes als exzentrische Christen-Mystik.
- Zusammenfassung von Umberto Ecos »Mögliche Wälder«: —Über die Grundlage des Fiktionsvertrages, Beglaubigungsverfahren, Romane als Spiele, die Kulturelle Enzyklopädie und das Wahrheitsprivileg von Fiktionen.
- Zusammenfassung von Marcus Hammerschmitts »White Light / White Heat«: —Über die SF als Hofnarr, kleine und große Forscher, die Stadt und die Dinge, Entenhausen, Sekten, Terror und Mahner.