Will ich umziehen oder pendeln?
(Gesellschaft) – Die Zeitung »Die Welt« hat Infratest dimap tausend Arbeitslose befragen lassen. Ergebnis: die meisten wollen nicht in andere Städte oder Bundesländer umziehen oder größere Distanzen pendeln, wenn ihnen das einen Job einbrächte.
Diese Einstellung kann ich gut verstehen. Ich bin ebenfalls nicht bereit Frankfurt zu verlassen, denn ich habe keinen Bock auf eine Fernbeziehung, meine Partnerin hat keinen Bock auf eine Fernbeziehung. Alleinlebende Arbeitslose mögen da flexibler sein. Leider erwähnt die »Die Welt« nicht, wie viele der Nicht-Umzugswilligen in Partnerschaft leben. So schnell kehrt man menschliche Seiten von Sozial-Kybernetik unter den Tisch. Zwischen den Zeilen vermittelt die »Die Welt« (für mich) folgende Botrschaft: Wer arbeitslos ist, hat keinen Anspruch auf seinen Freundes- oder Verwandtenkreis vor Ort. Wer arbeitslos ist soll sich aufmachen in die Fremde.
Pendeln. Ich habe keinen Führerschein und hasse Autos. Nicht einmal wenn mir ein potentieller Arbeitgeber den Führerscheinkurs spendierte, würde ich einen machen. Welcher Arbeitgeber würde mir schon entsprechendes Extra-Gehalt für Fahrkarten gewähren oder Verständnis zeigen, wegen dem Verspätungsgewirks bei verpaßten Anschlüßen, Oberleitungsschäden ect. pp.? Da gehts ja bei den Arbeitgebern wieder los mit dem Gejammer: »Diese Nebenkosten, die Fahrpreise!« – Und ich kann die Arbeitgeber gut verstehen, denn ich würde da auch jammern: »Diese Nebenkosten, diese Fahrpreise!« – Fragt sich also, wer den entscheidenden Entlastungsmotivationsschubser leisten soll, damit mehr Menschen bereit sind dafür zu bezahlen, sich in übervollen, lärmreichen Zügen von Mobilphon-Barbaren und sich besauffenden Untermenschen belästigen zu lassen.
Für den entsprechenden Job wär ich bereit, jeden Tag eine Stunde – einfache Strecke – zu pendeln. Nur: ich habe nicht die geringste Vorstellung davon, was das für ein Job sein könnte. Grundsätzlich: ich weiß ja schon hier in Frankfurt nicht, als was ich mich wie bei wem bewerben soll. Ich weiß ja nicht mal, an wen ich mich zwecks Bewerbungshilfe/Training wenden soll, denn mir fehlt das entsprechende Vertrauen. Die Agentur hat keine Zeit und Kenntnis zu entsprechender Beratung, staatlichen, gewerkschaftlichen oder arbeitgeberverbandsverbundenen Trägern traue ich nicht mehr über den Weg. Zwei Jahre unkompetentes »Machen'se mal, damit Sie ein Gefühl dafür kriegen«-Ausbildung zum FAMI beim Bildungszentrum des Hessischen Handels lassen mich heute noch schweißgebadet aus klaustrophobischen Träumen erwachen. Private Berater kann ich mir schlicht nicht leisten. Zudem: für »Sie müssen sich nur trauen«-Zusprachen bin ich zu intellektuell und allotopisch veranlagt. Dummerweise bin ich ein Aufrichtigkeitsfanatiker, es fällt mir nicht leicht, andere willentlich zu manipulieren, wehalb ich mittlerweise meine Tätigkeitsfreude für jegliche Kreativität eingebüßt habe. Viel Phantasie bringt eben viel Angst mit sich, und blöderweise habe ich ehr eine alberne, apokalyptische Phantasie, und keine pragmatische oder optimistische.
Das von der »Die Welt« umrissene Problem läßt sich also zu der Frage eindampfen: Wie kann man den Verzagten und Hoffnungslosen den Mut und die Entschlossenheit einhauchen, daß sie sich für fähig und zäh genug halten, um Umzug oder Pendelei zu wagen? – Denn: ich bin kein Anhänger des umgekehrten Verfahrens, bei dem mit Leidensdruckerhöhung die Betroffenden zu Kraftakten des Sich-selbst-aus-dem-Sumpf-Ziehens inspiriert werden sollen.
Und nein: zumindest ich bin nicht gelassen, wegen meiner Blödheit und Gehemmtheit, den richtigen, bzw. überhaupt einen Job zu finden. Die Medien verbreiten gerne das Bild vom lässigen Arbeitslosen, und andere Kreise kontern damit, eine allgemeine soziale Kälte anzuprangern. Ich weiß mich bei diesem Deutungshickhack nicht zu positionieren, denn ich wage es nur für mich zu sprechen. Ich kann also nur offen zugeben, daß ich kein gelassener Arbeitsloser bin, der es sich mit ruhigem Gefühl in der sozialen Hängematte bequem macht.
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Hella
ist dummes Zeug wie so vieles, was heutzutage öffentlich geredet wird; denn es entspricht nicht der Psychologie normaler Menschen, nach ihren Lehr- und Wanderjahren einen Wohnort zu verlassen, an dem sie sich wohlfühlen. Das gilt auch für alleinstehende Arbeitslose. Die haben nämlich Freunde. Und wirkliche Freundschaften sind bekanntlich langlebiger als die meisten Ehen mit oder ohne Trauschein; und mindestens ebenso wichtig. - Daß viele Politiker & Manager äußerst flexibel sind, was ihren Wohnort betrifft, spricht nicht gegen das eben Gesagte. Denn: diese Typen sind, wie wir täglich der Zeitung entnehmen können, gar zu oft so machtgeil, daß sie um der Macht und des Geldes willen alles tun. Aber eben gewiß nicht für 1500 € brutto oder weniger im Monat. So flexibel wären auch diese vorbildlichen Herren nicht.
molosovsky Besitzerin
… aber ich stimme Dir hiermit verspätet zu. Freilich fühl ich mich nicht rundweg wohl, die sogenennaten Machtgeilen nur zu kritisieren. Ich wäre zwar als Jugendlicher gerne Inquisitor geworden, ein nicht ganz machtfreier Beruf. Aber ich muß zugeben, daß ich heute jegliche Verantwortung und Macht scheue. Ich fühl mich nicht groß wohl damit, Macht zu haben. Ich kann schon Respekt aufbringen gegenüber diesen ganzen Menschen, die sich um das Zeug kümmern, daß unsere Wohlstandsblase mit Innendruck füllt. Nur daß die halt alle ehr ein Herz für so hässliche Dinge wie Autos, Großtechnologien und ähnliches Schmonzes haben, macht mich bangen.
Hella
daß die Mächtigen von heute dich bangen machen. Das geht mir ebenso; und: sie widern mich an. Denn diese Technokraten haben es ja nur von Kindheit oder Jugend an verstanden, andere Menschen zu benutzen und nach Gebrauch zu entsorgen. Sie wechseln ihre Freunde, Ehefrauen, Arbeitsplätze, ohne auch nur mit 1 Wimper zu zucken. Sie funktionieren gnadenlos effizient, weil sie nicht leben, und sehnen sich nach einer ebenso leblosen Welt, die den Plunder, mit dem sie sich umgeben, mit der Aura echter Autorität verwechselt. Der vielgeschmähte Ratzinger etwa besitzt noch diese Autorität; er ist ein Gelehrter, dem man selbst dann Respekt entgegenbringen kann, wenn man anderer Meinung ist als er, und der auch noch als Arbeitsloser respektabel wäre, weil sein Reich nicht nur das Reich des Geldes ist. Ratzinger ist ein gebildeter und ein spiritueller Mann; ob er einem paßt oder nicht. Was aber wären die aalglatten Wirtschaftstypen mit 345 € im Monat? Nichts. Sie sind so kulturlos wie die Sprache, die sie sprechen. Daran sind sie beinahe unfehlbar zu erkennen. Diese Sprache (die moderne Version der von Victor Klemperer untersuchten LTI) ist mir ein Greuel; und deshalb auch respektiere ich deren Sprecher nicht. Le style c'est l'homme. Und der BWL-Stil? Pfui Teufel!
gosseratz
Irgendwie erinnert mich das an Macchiavelli und die großen Reiche wie z.B. das der Mongolen. Laß die Menschen keine Wurzeln fassen, keine Bindungen, treibe sie in deinem Reich umher wie Blätter im Wind, auf das sie mit anderen Dingen beschäftigt sind als damit über grundlegende Mißverhältnisse nachzudenken. Und schon gar nicht sollen sie sich organisieren und verbrüdern. Odern so... ;-)