molochronik
Mittwoch, 14. September 2005

Zehn Etüden: Nr. Eins — Der Organist

Stücke für narratives Improvisationsklavier

»Von Dissonanzen, über Dissonanzen zu Dissonanzen.«
— Robert S. über Frederic C.

Der Organist

Im Dämmrig schweigenden Uterus des Domes prallten die Tack-Tack-Tucks des Organistenschrittes von einer Säule zur nächsten, ehe das Geräusch sich in der gotischen Höhe des Raumes verlor. Die wuchtigen, kupferfarbenen, schimmernd blassen Säulen trafen sich weit oben in der Höhe, an einem einsamen, zentralen Fluchtpunkt, dennoch waren sie dort oben, alleine mit den Tauben, nicht beisammen, denn von unterschiedlicher Länge konnten sie sich nur im imaginären Fluchtpunkt einer Betrachternetzhaut treffen. In Wahrheit waren die hohlen Säulen abgestimmt, auf Ton und Halbton genau.

Niemand saß in den abgewetzten Holzbänken, niemand betete vor einem der Heiligenschreine, nur der Organist und seine beiden Musterschüler bewegten sich von einer kleinen Holztür, versteckt zwischen zwei mannshohen Säulen gelegen, auf den Treppenaufgang zum Orgelmanual zu, das Tack-Tack-Tuck des Organisten voranhinkend, das in der Größe des Raumes kaum hörbare Trippeln der Knaben folgend.

Das grelle Sonnenlicht fiel durch schlanke Fenster — alt und verschmiert — und wurde durch die matten Reflexe der Säulen und die trübe Filterung der Scheiben in ein warmes Staubwogen gewandelt. Dieses Licht offenbarte nichts Gewisses über den Uterus des Instrumentendoms.

Von außen, also von der Wüste aus betrachtet, erschien der ungeheure Bau wie eine Felsformation, deren einzelne, gewagte Spitzen in den Himmel flüchteten, nur an wenigen Flecken seine wahre, schimmernde Oberfläche entblößend, einen blendenden Lichtreflex ins Auge stechend.

Und die Wüste lag still da, wie zu jener Zeit als der Cult noch blühte; wie zu jener Zeit, als die Orgel zum ersten Male von einem Organistenpriester gespielt wurde, und seitdem sich keine Melodie, kein Contrapunkt wiederholt hatte; wie zu jener Zeit, da dieses Land anfing zu vertrocknen und das Volk in den Dünen der Wüste verschwand, weg von der Oase der Musik; wie immer zur Zeit des Sonnenuntergangs, kurz bevor der Wind kommt.

Im Schatten lauerten die Manuale und Register der Orgel. Wie die Fühler und Tastorgane eines grotesken fetten Insektes, darauf wartend, von einem Mystiker erregt zu werden. Die Knaben eilten zu ihren angestammten Plätzen, um die Register zu bedienen.

Der Organist ging langsam auf die Manuale zu. Seine dicken Beine bewegten sich unsicher, als ob jederzeit der Moment wäre, da sie zum ersten Male selbständig die unzähligen Pedale beglücken sollten; sie fürchteten sich vor der Liebe zum Baßlauf, da sie wußten, welche Schmerzen die überschätzen Gelenke und malträtierten Sehnen dafür hinnehmen müssen. Der Organist ging zudem gebückt, seine stattliche Größe verlierend, weil er all die Jahre kaum noch empor zu streben vermochte.

Als er endlich bereit war und seine Finger massierte, seine Knaben ihn erwartungsvoll anschauten, der Wind durch den Uterus fegte, sagte er: »Nun wollen wir mit einer letzten Fuge diesen toten Tempel zusammenstürtzen lassen.«

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Vignette zu »Zehn Etuden No. 1: Der Organist«
{Diese kleine Prosaübung entstand ebenfalls zu Beginn der Neunzigerjahre zwischen Hepberg und Wien. Sie ist die Eröffnungsetüde einer Sammlung von zehn Etüden die ich damals zusammenimprovisierte.


Die Regel war: nach einer Initial-Idee (in diesem Fall: eine Tempelorgel in der Wüste) etwas Athmosphärisches auf höchstens drei Schreibmaschinenseiten zusammenimprovisieren. Ich habe keine Ahnung, wem ich heutzutage solche Stories anbieten wollte oder sollte. Für Phantastik-Fandomzirkel halte ich meinen Kram für zu exaltiert, und für die von mir sogenannten Literatuuur-Literaturkreise scheinen mir meine Sachen zu phantastisch-trivial.


Wenigstens Ihr geschätzten Molochronik-Leser sollt die Gelegenheit bekommen, Molosovskys Wahn zu goutieren. Ich werde mich mühen, baldiger mit weiteren (alten) Etüden aufzuwarten.}

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