molochronik
Sonntag, 5. Februar 2006

Zehn Etüden: Nr. Acht — Das Kind

Stücke für narratives Improvisationsklavier

»Von Dissonanzen, über Dissonanzen zu Dissonanzen.«
— Robert S. über Frederic C.

Das Kind

Wie jedes Jahr beim ersten Schnee brachte Georg sein Fahrrad in den vermoderten Keller des Altbaus. Er ließ das Vorhängeschloß einschnappen und nahm die Plastikplane vom Boden, um sein Rad abzudecken. Im Schutt lag der bleiche Körper eines höchstens zwei Jahre alten Kindes. Der Lichtkegel der Taschenlampe umzitterte den kleinen Körper, doch nichts geschah. Das Kind bewegte sich nicht. Es atmete nicht. Es war tot.

Georg trug die Leiche in seine Wohnung. Der Gedanke, die Polizei zu rufen, wurde schnell wieder verworfen. Er bettete das Kind auf seine Kautsch und schaute es lange an. Die Zeit schien sich an dem bewegungslosen Körper zu brechen. In seinen schäbigen Second-Hand-Klamotten machte das Kind auf Georg den Eindruck einer Puppe oder eines Schläfers. Georg wußte, daß er hier seinen wertvollsten Schatz gefunden hatte. Mit seiner Polaroid machte er ein Bild von der Leiche.

Erst am nächsten Tag, als Georg vom Musikkonservatorium heimkam, zog er das Kind aus. Freudig stellte er fest, daß der zierliche Körper ohne Verletzungen war — makellos — und schauderte wegen des verschrumpelten, männlichen Geschlechts. Wieder machte er ein Photo. Mit der Vorortlinie fuhr in einen abgelegenen Teil des Waldes und verbrannte die Kleider.

Die nächste Zeit verbrachte Georg damit, sich bei Freunden, die Medizin studierten, vorsichtig zu erkundigen, wie man Tote konserviert und sich die entsprechende Materialien zu besorgen. Derweil bannte er jeden Tag mit einem Photo den schleichenden Verwesungsprozess.

Als er die notwendigen Materialien zusammengetragen hatte, waren seine knappen Finanzen für den Monat ruiniert, aber die morbide Grazie, mit der die Leiche im Formaldehyd zu schweben schien, entschädigte Georg vollends. Glücklich wie niemals zuvor ließ er die Latexhandschuhe von seinen Händen schnalzen, und spielte dem Kind im Glaszylinder ein Ständchen auf der Violine.

Georg verpackte seine Kleider in Kartons und stellte das Gefäß mit dem Kind in den Schrank. Wie viele Twens war auch er ein zielloser Esoteriker und im Lauf der Zeit schmückte Georg das Innere des Schrankes mit den Symbolen seines privaten Okkultismus. Im Flackern schwarzer Kerzen schrieb er seine Musik. Immer bei offenem Schrank. Seine Professoren waren zu unrecht auf sich stolz, ob der plötzlichen Reife der Kompositionen ihres Schülers.

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