molochronik
Sonntag, 5. Februar 2006

Zehn Etüden: Nr. Neun — Auf den Klippen

Stücke für narratives Improvisationsklavier

»Von Dissonanzen, über Dissonanzen zu Dissonanzen.«
— Robert S. über Frederic C.

Auf den Klippen

Seine Erinnerungen, die immerzu unangemeldet, überfallartig oder versöhnlich, verschmitzt, hinterhältig oder verstohlen kommen, sich leise anschleichen oder verschreckt einherstolpern, nervös oder leger, angeturnt oder abgerissen auftreten, zumeist aber unerwartet und schlagartig aus den Schützengräben seines Hirnes aufsteigen, lassen sich nur leise und plötzlich betrachten.

Immer ohne Gewähr über deren Natur, denn er weiß, daß ein infantiler Knabe den frischen Erinnerungen — sobald er sie erspäht hat — allerlei Kostümtand überstülpt und somit maskiert. Seine Erinnerungen werden dann, so lächerlich hergerichtet, von den drei großen Brüdern des launischen Knaben schrecklich drangsaliert. Sie geben sich unerträglich nüchtern und ernst. Der erste verlangt von der Erinnerung Zeitung über die eigentlichen Absichten der fremden Personen; der zweite will selbiges über ihn wissen, freilich ohne ihn wirklich zu kennen; der letzte schließlich, die Koalition mit den beiden anderen stets meidend, will ständig in Erfahrung bringen, was denn rein sachlich vorgefallen sei, damals, als die Erinnerung entstand.

So wird die arme, eingeschüchterte Erinnerung bedrängt, dabei sucht sie nur eine Bleibe in seinem Kopf. Erinnerungen sind nämlich Teile der Wirklichkeit, die Beständigkeit und Schutz vor der alles verschlingenden Zeit suchen. Sie hoffen auf die Zukunft und träumen davon, an dieser teilhaben zu dürfen.

Da die Erinnerungen in seinem Hirn so gegängelt werden, suchen sie nur all zu bald Unterschlupf in den Schützengräben seiner Denkfurchen. In dieser verhügelten Geisteslandschaft verstecken sie sich, graben unter seiner Cerebralkruste weitverzweigte Stollen, errichten Lager- und Schlafbunker und verstecken sich, sobald ein Suchtrupp seines Bewußtseins sich blicken läßt. Nur die gnadenlosesten Schergen stöbern diese Verschläge auf. So die fahlen Reiter der Verzweiflung, die vor allem am Boden zerstörte Erinnerungen aufklauben und in der Zitadelle der Hoffnungslosigkeit in Einzelzellen sperren. Oder die humorlosen Spürhunde seiner Heiligkeit Popanz Gewissen, die Erinnerungen scharenweise zusammentreiben, in verborgenen Folterkellern aufschreien lassen, alles mit der bohrenden Absicht, einen besseren Menschen aus ihm zu machen. Früher oder später werden die Erinnerungen diesem trübsinnigen Verstecklebens überdrüssig.

So suchen sie das Weite auf seinem Neuroglobus, schwimmen über die hermaphroditischen Ozeane der Phantasie, durchqueren die schillernden Teppiche der körpereigenen Drogen, in deren Sud sie völlig dicht zuletzt in Ohnmacht versinken. Ich sehe ihre Leichen dann von meinem Leuchtturm aus vorüber treiben.

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