molochronik
Sonntag, 5. Februar 2006

Zehn Etüden: Nr. Zehn — Das letzte Mal

Stücke für narratives Improvisationsklavier

»Von Dissonanzen, über Dissonanzen zu Dissonanzen.«
— Robert S. über Frederic C.

Das letzte Mal

»Un´se wollns nich abholen lassn?«, war noch die Frage des untersetzten Fahrers, der dem Günther ein Klavier in eine Fabrikruine gekarrt hatte. Zusammen hatten sie den Steinway von der Ladefläche gehievt. Günther wollte es so. Wollte selbst noch einmal die Last des Instrumentes spüren.

»Nein, ist schon in Ordnung«, sagte er freundlich. Der Fahrer nahm das Geld entgegen, kratzte sich am Hinterkopf.

»Is gut. Frag mich halt, wasse mitm Klavier hier draußen wolln.«

Der Mond stöberte durch rastlose Wolken und füllte die Fabrik mit verschimmelten Müllicht. Das Dach war schon vor langer Zeit eingestürzt. Günther stand am offenen Flügel, über die Seiten gebeugt, die er lange und sorgfältig stimmte. Wie ähnlich hatte er an sich selbst so herumgedocktert; war seinen Stimmungen und Gefühlsseiten, den Wuthämmern und Dämpfpedalen seines Gemütes auf den Grund gegangen; hatte er versucht seine Noten, Rhythmen und Dissonanzen zu verstehen; ein logisches, durchschaubares System in seine Seelenmusik einzubringen; all seine Launen, von den tiefsten zu den höchsten oktavenweise in Harmonien zu schlichten? Immer waren seine Absichten gescheitert.

Fertig. Der Günther setzte sich auf den Klavierhocker, ließ das Stimmwerkzeug auf den Boden fallen, umgeben von dem in der öden Betonhalle verstreuten Schrott, umringt von verfallenen Mauern, kauerte er mit geschlossenen Augen über den Tasten. Beinahe berührte sein Gesicht die Klaviatur.

Zuerst vereinzelte Töne, wie immer zaghaft und leise. Langsam entstand der Fluß der Improvisation, trauten sich die ersten Akkorde aus dem Murmeln stetig gleichrhythmischer Töne hervor. Sein Körper begann sich allmählich dem Spiel anzuschließen. Liefen, sprangen, tanzten seine Finger; rollten, schlugen, strichen seine Hände über die Tasten; stampften, hüpften, vibrierten seine Beine auf den Pedalen; wetzte er auf seinem Arsch hin und her.

Bedrohlich prallten kakophonische Habtikakkordgewitter vom Beton, verlassen und zärtlich hallten die einsamen Melodien durch die Nacht. Alles konnte er seinem Instrument erzählen. Kein Gefühl war dem Klavier fremd oder zuwider. Jeden Haß, alle Sehnsucht konnte es vertragen, was er sonst niemanden zutraute, niemanden wissen ließ.

Irgendwann sank Günther über den Tasten zusammen. Leere, Mattheit, Stille erfüllte ihn nun. Kein Bedürfnis, kein Wollen, kein Wünschen. Doch bald schon rappelte er sich auf, zündete sich eine Zigarette an, kramte in der Tasche mit dem Stimmwerkzeug. Er übergoß das Klavier mit Benzin. Gedankenverlohren ließ er den glühenden Stummel fallen und sofort überzogen hektische Flammen den Flügel. Er trat einige Schritte vor der Hitze zurück und starrte auf das prasselnde Schauspiel.

Die ersten Seiten rissen mit einem Knallen ab. Der Rahmen verzog sich. Furnier krümmte sich, wurde schwarz und blätterte ab, ein Ächzen und Kreischen umflatterte Günther. Immer wieder wie zuschlagende Schotts das Peitschen der Seiten. Acht Tonnen Bespannung lösten sich wie Bombeneinschläge.

Günther wollte sich schon abwenden, den brennenden Flügel, den Hocker und die Tasche hinter sich lassen, als eine graue Masse durch die Ritzen des verbrennenden Instrumentes troff; dunkler, verkohlter Schleim, deutlich vom dampfenden Holz und grellen Flammen zu unterscheiden sammelte sich unter dem Klavier, wurde dort zu einer Form, auf die Flammen herabtropften; zu pochen, zu zucken begann; ausgreifende Arme und haltsuchende Finger ausstreckend.

Zum Heulen und Knirschen des Instrumentes stimmte sich ein Klageruf, von einem verzerrten Mund erbrochen; Beine versuchten den geschmolzenen Körper aufzurichten; eine brodelnde Hand stützte sich kraftlos vom Boden ab; Brüste zerflossen auf Beton; eine klumpige Hüfte überzogen von platzenden Blasen; Flammen schwappten über einen kargen Bauch.

Die Beine des Klaviers knackten. Die Mädchenmasse unter dem Flügel bot noch immer Kraft auf, nach Günther zu rufen; unter Feuerqualen vom Instrument zu flüchten; das Klavier rumorte, grollte, die Beine stellten sich schief, gaben nach und mit einem letzten, groben Akkord zermalmte der Flügel die Gestalt unter sich; tänzelnd hochstiebende Funken glichen einem Reigen jugendlicher Tänzerinnen, die nackt und schutzlos vom Wind verweht wurden.

Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne begleiteten Günther nach Hause.

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