Entwicklungsstufen von Genres
Eintrag No. 414 — Kurz mal zur allgemeinen Bildung aus dem Buch »Hollywood Genres« (1981) von Thomas Schatz zitiert, gefunden in »Superhero – The Secret Origin of a Genre« (2006) von Peter Coogan.
Zur Einstimmung für alle, die sich unsicher mit dem Begriff ›Genre‹ sind, empfehle ich, sich mal Daniel Chandlers »Introduction to Genre Theory« anzutun (englisch).
Vier Phasen, die eine Genreform durchschreitet, unterscheidet Thomas Schatz:
- Zuerst gibt es das Gebrodel der experimentellen Phase, in dem sich die genre-typischen Konventionen herauskristallisieren und verfestigen (etabliert werden);
- Darauf folgt eine klassische Phase, in der die Konventionen ein Gleichgewicht (›equilibrium‹) erreicht haben, das von Machern und Publikum gleicherwiese verstanden wird;
- In der anschließenden Phase der Verfeinerung werden bestimmte formale und stilistsche Einzelheiten der Genre-Form ausgeschmückt;
- Schließlich mündet die Entwicklung in eine barocke Phase, wenn die Genre-Form und ihre Verfeinerungen in einem Ausmaß betont werden, so dass sie selbst zum ›Gegenstand‹ oder ›Inhalt‹ des Werkes werden.
Coogan klappt diese Stufen auf die bekannten Epochen der Superheldencomics um, und ergänzt Schatz’ Modell um eine nullte und fünfte Phase der Genre-Entwicklung:
- 0. ›Vorsindflutliches‹ Zeitalter (Antedeluvian Age): Bestimmte Charaktere, Motive, Ikonen und Themen kommen auf, die später entscheidende Rollen bei der Entwicklung des {Superhelden-}Genres spielen (»Frankenstein« 1818, der Science Fiction-Übermensch; »Nick of the Woods« 1835, die zweigeteilte Identität, verbrechensbekämpfender Rächer-Vigilant; »Tarzan of the Apes« 1912, der Pulp-Übermensch).
- 1. Goldenes Zeitalter: Die Konventionen des {Superhelden-}Genres kristallisieren sich heraus und werden etabliert (»Action Comics Nr. 1« 1938, erster Auftritt von Superman; bis »Plastic Man Nr. 64« 1965, das Ende der simpleren und humoristischeren Herangehensweise zu Superhelden).
- 2. Silbernes Zeitalter: Die Konventionen des {Superhelden-}Genres haben einen Gleichgewichtszustand erreicht, der gleichermaßen von Produzenten und Konsumenten verstanden wird (»Showcase Nr. 4« 1956, erstes Auftreten des Erde-1 Flash {Roter Blitz}; bis »Teen Titans Nr. 31«, 1971, plötzlicher Wandel weg von Relevanz hin zur Formel).
- 3. Bronzenes Zeitalter: Bestimmte formale und stilistische Einzelheiten peppen die Genre-Form auf (»Superman Nr. 233« 1971, Kryptonit neutralisiert, Supermans Kräfte halbiert; bis »Legion of Super-Heroes Nr. 259« 1980, Superboy verläßt die Legion of Super-Heroes).
- 4. Eisernes Zeitalter: Die Genre-Form und ihre Verfeinerungen werden so weit betont, dass sie selbst zum ›Gegenstand‹ oder ›Inhalt‹ des Werkes werden (»DC Comics Presents Nr. 26« 1980, erster Auftritt der New Teen Titans; bis »Justice League of America Nr. 261« 1987, das Ende der ursprünglichen JLA; und bis »Heroes Reborn/Heroes Return« 2000, dem Versuch Marvells die Comics von Image zu imitieren).
- 5. Zeitalter der Renaissance: Die Konventionen des {Superhelden-}Genres werden erneut etabliert (»Justice League Nr. 1« 1987, das Debut der wiederhergestellten Justice League; »The Sentry Nr. 1« 2000, Marvel nimmt sich alternativer Comic-Ästhetiken an).
So. Nach dieser Lektion möcht ich niemanden mehr leichtfertig und ohne Begründung davon schwätzen hören, dass Werk X oder Y ja gar nicht dem Genre A oder B angehören. Oftmals stellt sich die Frage: welcher Entwicklungsphase eines Genres entspricht ein Werk.
simifilm
Habe ich ich kürzlich auch gelesen, fand das Buch allerdings etwas "uneben", resp. die einzelnen Kapitel nicht wirklich ausgeglichen. Da stehen ewig lange Kapitel neben superkurzen, der eigentliche Interpretationsteil ist ein bisschen schmalbrüstig ...
Ach ja: Schatz' 'experimentelle Phase' entspricht ja ziemlich genau Coogans 'Antedeluvian Age'.
Das Standardwerk zu (filmischer) Genre-Theorie schlechthin ist übrigens Film/Genre von Rick Altman. Für alle, die sich ernsthaft mit der Thematik beschäftigen, unbedingt empfehlenswert.
molosovsky Besitzerin
Nope. Die Umklappung geht so, wie ichs hier wiedergebe. Antedeluvian Age geht weit zurück und entspricht der historischen Rumpelkammer oder Gärflsche, wo die Themen usw. zum ersten Mal auftreten, die dann herausgepickt, aufpoliert und zu etwas Neuem, eben dem Superhelden-Ding gemixt werden.
Coogan liest sich wenigstens angenehm. Ich bin noch nicht ganz durch. Ein bischen schwummrig wird mir ja bei den ausführlichen Kleinklein zu lauter Comic-Helden, von denen ich nie gehört habe. Trotzdem ein interessantes und lesenswertes Buch. Typisch, dass hierzusprache bisher noch keiner darüber berichtet hat. — Manchmal frage ich mich schon: wo sind all die Leute die sich jenseits von Schubladenspielchen für Genre und Popkultur interessieren (Popkultur abseits von Mukke und Spielen)? Im Netz anscheinend nicht. Oder bin ich nur zu doof das Zeug zu finden?