molochronik
Samstag, 16. Februar 2008

Meine liebste ›Fantasy‹-Mukke: Ralph Vaughan-Williams und seine »Fantasia on a Thema by Thomas Tallis«

(Eintrag No. 471; Musik, ›typisch‹ England, Streichorchester, Renaissance & Moderne, Agnostik) — Heut knall ich Euch mal wieder besten Bildungsbürgerkrempel vor die Füß’. Im Thread »Fantasy und Musik« senfte ich gestern meinen Teil dazu, und bin dann, über welche Google-Pfade genau, weiß ich schon nicht mehr (es hatte aber was mit dem Unterschied / Streit zwischen ›absoluter‹ und / versus ›programmatischer‹ Musik zu tun) bei Ralph Vaughan-Williams (1872 - 1958) gelandet.

Diesen englischen Komponisten des letzten Jahrhunderts habe ich als Teen für mich entdeckt (ich glaub, durch die Life-TV-Übertragung der Eröffnung eines Schleswig Hollstein-Musikfestivals) und bin seitdem ein ›Fan‹ von seinem Zeug. — Bei uns kennt man wohl noch am ehesten seine »Fantasia on Greensleves« und eben das Stück, das auch zu meinen absoluten Favoriten aller Zeiten und Musikrichtungen gehört: die »Fantasia on a Theme by Thomas Tallis«.

Vaughan-Williams machte sich u.a. mit diesem Stück einen Namen als ›verrückter, junger, moderner Komponist‹, denn im Jahr seiner Erstaufführung, 1910, war dieses Stück in der Tat etwas Unerhörtes. — Es freut mich, dass bei lastfm die Möglichkeit besteht, eine komplette Aufnahme in guter Qualität zu hören, eingespielt vom New Zealand Symphony Orchestra unter der Leitung von James Judd (als CD bei Naxos erschienen).

Manche werden das Stück vielleicht wieder erkennen, denn es begleitet sehr effektvoll eine der tragischsten Szenen des brillianten Historienabeneteurfilms »Master and Commander«.

Das von Vaughan-Williams in der Fantasia verarbeitete Thema hat Thomas Tallis (ca. 1505 - 1585) — einer der großen Meister der elizabethanischen ›Golden Age‹ englischer Renaissance-Musik — 1567 für ein Psalter-Gesangsbuch des anglikanischen Erzbischofs von Canterbury geschrieben. Damals, mitten in den Auseinandersetzungen zwischen dem anglikanischen und dem katholischen Fraktionen, haben die Leute zu dieser Melodie folgenden kämpferischen Text gesungen:

Why fum'th in fight the Gentiles spite, in fury raging stout? Why tak'th in hand the people fond, vain things to bring about? The Kings arise, the Lords devise, in counsels met thereto, against the Lord with false accord, against His Christ they go.

Später dann (1906), legte man andere, zahmere Psalm-Verse auf diese im phrygischen Modus gehaltene Melodie.

Wer gut genug Englisch versteht, sollte sich unbedingt die folgenden sechs Teile einer Sendung der Reihe »Discovering Music« von BBC 3 gönnen. Darin wird erfreulich genau die »Fantasia on a Thema by Thomas Tallis« auseinandergenommen und erklärt.

Teil 1 / Teil 2 / Teil 3 / Teil 4 / Teil 5 / Teil 6.

Es gibt mittlerweile viele viele Einspielungen dieses Stückes. Die beste ist für meinen Geschmack (ich mags als durch Leonard Bernstein, Riccardo Muti und Claudio Abbado und Günter Wand Geprägter eben satt, mit wumms und mächtig brazend) die durch das »Orpheus Chamber Orchestra«, aufgenommen für »Deutsche Gramophon«.

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Für alle, die des Englischen nicht so mächtig sind, hier notizenhaft eine Zusammenfassung der Ausführungen au der BBC-Doku »Discovering Music«.

Teil 1 stellt das Stück erstmal als eine Kompositionen vor, die dafür bekannt ist, etwas essentiell ›typisch Englisches‹ auszudrücken, was schon in der Besetzung zum Ausdruck kommt, nur Streicher welche damals, 1910, viele englische Zeitgenossen hingerissen hat. Es folgt ein Beispiel der ursprünglichen Tallis-Hymne für Chor, ganz geprägt von einer ›maskulinen Christlichkeit‹, protestantisch und kämpferisch der ›heidnischen Bedrohung durch die katholischen Spanier‹ entgegentretent, äh, -singend. Vaughan-Williams nimmt dieses Thema und verarbeitet es von Beginn an mit einigen sehr tiefgründigen Strömungen, die auf mehr verweisen als nur ›Englischhaftigkeit‹. — Zuerst wird das Thema von gezupften Cellos und Violas vorgestellt, worauf gestrichene Geigen gesangartig antworten. Mit melancholisch-suchender Geste wird das Thema dann richtig etabliert, mit dunklem Klang aber den hellen, schimmernen Noten der ersten Geigen. Das ist Welten entfernt von der Einfachheit der ursprünglichen Tallis-Fassung. Die schimmernden Harmonien lassen an einen Glorienschein denken. Worauf dieser Schein verweist, zeigen die allerersten fünf getragenen, weitgefächterten Akkorde. Vor allem der erste Akkord klingt besonders gespenstisch, mit einer seltsamen aetherischen Resonanz von ›ursprünglicher Reinheit‹. Auf diesen ersten Klang wird das Stück noch einige Male zurückkommen. Es ist ein G-dur-Akkord, der sich über die gesamte Spannweite des Streichorchesters erstreckt.

Teil 2 lenkt die Aufmerksamkeit auf das Nachhallen dieses ersten Akkordes. Das ist ein sorgfältig eingestzter Effekt, denn die einzelnen Noten des Akkordes (g, b und d) lassen die g- und b-Seiten der Streichinstrumente sympathisch warm mit- und damit nachklingen. Aber was will Vaughan-Williams mit diesem leuchtenden, aetherischen G-dur-Klang darstellen? — Um dem nachzuspühren, werden zwei andere Orchesterstücke erwähnt, die auf überraschend ähnliche Weise diesen Effekt nutzen: Paul Hindemiths Symphonie »Mathis der Maler« von 1938 (übrigens dem »Batman«-Thema von Danny Elfman sehr ähnlich) und Charles Ives »The Unanswered Question« von 1908. Ives trachtet mit seinem Stück die schweigende Transzendenz des (Welt-)Raumes darzustellen, und dessen unerforschliche Geheimnisse. — Vaughan-Williams war aber einer, der es nicht mochte seinen Hörern auszudeuten, was seine Musik genau bedeutet. »Können die Leut’ nicht verstehen, dass ein Mann einfach nur eine Melodie niederschreiben will?«, grummelte er, als Musikkritiker seine 6. Symphonie als »A War Symphony« beschrieben. — Dennoch: der eröffnende G-dur-Akkord gewährt für einen Augenblick die Vision von etwas Überirdischem, die aber dann verblasst und abgelöst wird durch Fragmente der Tallis-Hymne. Um diese Deutung zu untermauern, greift die Dokumentation auf ein früheres Stück von Vaughan-Williams zurück, »Toward the Unknown Region«, nach Versen des amerikanischen Dichters Walt Whitmann. In »Toward the Unknown Region« geht es um den Tod, auf den aber vielleicht eine Wiedergeburt folgt; was aber auch nur im übertragenen Sinne gemeint sein könte (also als ›los- und hinter sich-lassen um sich erneuern zu können‹.) Durchaus plausibel, dass auch die Tallis-Fantasia sich in unbekannte Gefilde aufmachen will.

Teil 3 untersucht nun genauer, wie Vaughan-Williams die Melodie von Tallis entwickelt. Bemerkenswert ist die große rhythmische Ungebundenheit des Tallis-Themas; zwar ist die Melodie in einem langsamen 3/4-Takt notiert, aber sie fließt und wabert mal schneller, mal langsamer. Auch die Harmonik erscheint unstabil, denn sie legt sich nicht auf G-dur oder g-moll fest. Das liegt an der von Tallis verwendeten alten phrygischen Tonart mit ihren verminderten ersten und letzten Intervall. Für an moderne Tonarten (seit der Temperierung der Tonleiter) gewohnte Ohren klingt das eigenartig ruhelos. — Weiter geht’s damit, dass die Cellos wieder nach dem anfänglichen geheimnisvoll-friedlichen Glanz des G-Dur-Akkord streben, jedoch wieder absinken, während die Geigen und Violas die steigende Bewegung aufgreifen und fortsetzten. Das läßt dann an die aufstrebenden Säulen einer alte Kathedrale denken.

Teil 4 setzt dann bei der Stelle ein, als dieses Strecken und Auffächern zu dem G-dur-Akkord gefährdet wird durch eine g-moll-Unterbrechung. Aber gleich macht sich das Streichorchester noch mal auf, zurückkehren zu wollen zur ursprünglichen Glorien-Vision, nach dem Scheitern nun aber mit heftigerer und auch dunklerer Intensität (dies ist auch die Passage, welche in »Master & Commander« verwendet wurde). — Dieser zweite Versuch kommt aber nicht zu einem richtigen Zwischenstop, sondern verliert sich in unheimlichen Wiederholungen, die zudem immer weiter vom G-Dur-Ursprung wegdriften. — Nun macht Vaughan-Williams etwas sehr Ungewöhnliches, indem er das Streichorchester in zwei Teile spleißt: einen großen Hauptkörper und einen entfernteren kleineren Kammerorchester. Ein Dialog beginnt, mit mutig-kräftigen Phrasen des Hauptorchesters und gesangsartigen Erwiderungen des Kammerorchesters. Dieser Gegensatz zwischen dem warm-strebsamen, nahen menschlichen und den körperlos-fernen, überirdischen Klängen wird noch deutlicher werden. Diese Passage ist geprägt vom Umhertasten und der Suche nach den anfänglichen, reichen und schönen G-Dur-Klang. — Hier wird nun auf ein anderes Stück von Thomas Tallis verwiesen, »Spem in alium«, das ebenfalls sehr geschickt raumklanglicher Effekte nutzt. Bemerkenswert auch, dass der Text von »Spem in alium« sich mit der auf Gott vertrauenden Hoffnung beschäftigt. Ist es zu abwegig anzunehmen, dass Vaughan-Williams mit seiner »Fantasia on a Theme by Thomas Tallis« auf eine ähnliche Art und Wiese die Sehnsucht nach spritueller Gewissheit und Hoffnung zum Ausdruck bringen möchte wie Tallis selbst? — Weiter gehts mit einer Solo-Viola, die ein Thema der Tallis-Hymne aufgreift und einen neuen Abschnitt beginnt, fast schon improvisierend, als ob hier ein einzelner Musiker für sich selbst in Gedanken versunken vor sich hin fiedelt. Die beiden Streichorchester erinnern zwischendurch an das Ursprungsthema und wo es herkommt. Weitere Solo-Streicher greifen die Viola-Improvisation auf und entwickeln sie weiter zu einem Streichquartett, das aber überhaupt nicht wie ein ›klassisches‹ Streichquartett klingt. Der Rhythmus ist so ungebunden, dass es schwer ist überhaupt einen festen Takt auszumachen und die Stimmen wogen in einer frei fließenden Polyphonie. Das klingt, als ob vier Folk-Musiker auf der Höhe ungezwungenen Improvisierens miteinander musizieren.

Teil 5 spekuliert nun, ob Vaughan-Williams tatsächlich an Folk-Musiker dachte (= ›Volksmusikanten‹, nicht zu verwechseln mit ›volkstümlichen Musikanten‹), die für eine andere Art von Ursprünglichkeit stehen könnten als die alte Kirchenmusik. Vaughan-Williams war immerhin von Folkmusik fasziniert, machte sich oftmals auf sie zu suchen und aufzuschreiben und sie somit vor dem Vergessen zu bewahren. Auch läßt die Streichquartett-Passage an die Musik von Henry Purcell und William Lawes denken, die ebenfalls zur Zeit, als Vaughan-Willliams seine Tallis-Fantasie schrieb, nach Langem wiederentdeckt wurden. — Markant erwähnt wird nun der Titelbegriff »Fantasia«, als ob Vaughan-Williams damit sagen wollte, dass es sein Ansinnen war, ein Resumme über die ferne musikalische Vergangenheit seines Heimatlandes zu komponieren. »Hier in dieser von uns vergessenen Musik«, scheint Vaughan-Williams sagen, bzw. zeigen und erscheinen lassen zu wollen, ist der Keim zu etwas Neuem, eine Alternative zur von germanischen Moden geprägten Musik, ein frischer, nach vorne blickender nationaler Stil.« — Es es geht aber wohl um mehr als nur musikalische Moden, nämlich zudem auch um die Suche nach spiritueller Identität, um eine transzendente Wahrheit, die vielleicht durch den aetherischen G-dur-Anfangsakkord dargestellt werden soll. Wir haben diese Wahrheit flüchtig in der alten Kirchenmusik und in der Volksmusik gehört, aber wie können wir sie als Heutige wiedererlangen? — In der Klimax wiederholt das ganze Orchester die Improvisation des Quartetts, frei von der Gängelung der 3/4-Takteinteilung, ganz so wie auch Stravinski 3 Jahre später in seiner »Frühlingsweihe«. — Ist es arg übertrieben die Tallis-Fantasia als moderne Musik zu bezeichnen? Eigentlich nicht, denn es ist ein großes Thema der Moderne, die Vergangenheit wiederzuentdecken und wie sich dabei etwas Neues schaffen läßt. Vaughan-Williams’ Tallis-Fantasia ist eine der ersten prächtigen Kompositionen, mit der sich ein moderner Komponist unerschrocken und sehr fruchtbar einer über 1000-jährigen musikalischen Vergangenheit stellt. — Wie aber sieht es mit der ›ursprünglichen Reinheit‹ des anfänglichen G-dur-Akkords aus? Das Orchester hat in der Klimax diese Vision fast erreicht, doch nun beginnt sie wiederum zu verblassen, die Schatten werden länger. Die Reise in die ›unbekannten Gefilde‹ war von Beginn an eine heikle, düstere Sache und die Dunkelheit droht nun wieder überhand zu nehmen. Wieder steiegen als Bass-Pizzicato Fragmente des Tallis-Themas aus den Tiefen hervor.

Teil 6 erzählt, wie zum Ende fast der anfängliche G-Dur-Akkord vollends wiederkehrt, wenn die Violas aufsteigen, begleitet von tremolierenden Geigen und gezupften Cellos und Bässen. — Eine Geige und eine Violine lassen noch mal zusammen das Tallis-Thema erklingen, wobei die Geige ganz dem alten Kirchenlied verpflichtet bleibt, und die Viola es in freier Volksmusikmanier kontrapunktisch umtänzelt. Aber wird der strahlende Anfangsakkord wiederkehren? Langsam trudelt die Musik wieder zurück zu G-Dur und streckt sich nach dem Glanzakkord, das Orchester fächert sich auf und kehrt zu dem reichen, weitgespreizten Anfangsakkord zurück. Oder? Kaum ist der Akkord erklungen, verdunkeln die Bässe, Cellos und Violas die Vision wieder, indem sie ihre Noten mit anschwellender Kraft wiederholen. »Die Suche ist nicht vorbei. Die Vision liegt (immer) etwas jenseits unserer Reichweite. So nah, und doch so fern. Wir wissen, dass diese transzendente Vision möglich ist, wie haben sie gehört, aber nur für einen kurzen Moment. Wir haben sie erspäht, aber nur am Rande unseres Gesichtsfeldes. Sobald wir sie klar zu sehen trachten, verschwindet die Vision.« — Wenn diese Deutung richtig ist, dann spiegelt sich in der Tallis-Fantasia Vaughan-Williams’ eigene Haltung gegenüber transzendenten Angelegenheiten. Als Komponist fühlte er sich sein ganzes Leben lang zu religiösen, spirituellen Texten hinzugezogen. Und dennoch bezeichnete er sich selbst nie als jemanden, der christlichem oder sonstigen religiösem Glauben anhing. Für ihn konnten die Möglichkeit des religösen Glaubens und die Tatsächlichkeit unbeantwortbarer Zweifel nebeneinander bestehen, wie es wohl in seiner Tallis-Fantasia zum Ausdruck kommt. Auch dies ist eine sehr moderne Haltung. — Das bestimmt vielleicht auch die uneindeutige emotionelle Qualität des Endes. Das Stück könnte ja einfach mit dem anfänglichen strahlenden G-Dur-Akkord enden, aber stattdessen erhebt sich mit bedauerndem Tonfall eine Solo-Geige über das Orchester und endlich findet das Orchester zurück zu einem warmen G-Dur-Klang. Dieser Schluss-Akkord unterscheidet sich aber von dem G-Dur-Akkord des Anfangs. Mit seinem strebsameren Klang ist der Schlußakkord weltlicher. Damit verleiht Vaughan-Williams vielleicht musikalisch seiner Ansicht Ausdruck, dass wir nicht in Gott oder etwas Überirdischem Trost und Halt finden können, sondern in den humanistisch-sekulären Ideen vom Mensch-Sein.

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