Alan Campbell: »Scar Night«, oder: Rumgehänge in Deepgate
Eintrag No. 518 — Schluß mit der unseligen Sendepause hier und rein ins Abenteuer mit noch schneller und noch schlampiger hingerotzten Beiträgen. Heute, passend zur Saison, gibt’s was über meine Sommerlektüren. Dreimal hatte ich Glück in den letzten Wochen (ich hoffe, die fälligen knappen Empfehlungen hier bald nachreichen zu können), aber nun der vierte Griff ging daneben. Gegenwärtig ist meine Leselust sogar versandet, etwa nach zwei Dritteln des ersten Bandes der im Werden befindlichen »Kettenwelt«-Trilogie. Eine mächtig heruntergekommene Dunkelfantasy-Höllenwelt ist da der Phantasie des Schotten Alan Campbell, einem der Schöpfer des edlen Computerspielekunstwerkes »Grand Theft Auto«, als Debut entsprungen.
Obwohl ich eine Abneigung für Serienwerke hege, habe ich mir diesenTitel angeschafft, weil ich durchaus neugierig bin, was die Fantasy-Moden der jünstvergangenen Jahre so bieten. In den letzten etwa 24 Monaten habe ich schon in einigen anderen Eröffnungsbänden neuer, oftmals als innovativ gepriesener Fantasy-Reihen geschmökert, pausiere aber bei allen etwa mittig, nicht etwa, weil all diese Werke mau sind, sondern weil ich schnell mal bei geeigneten Ruhephasen einer Geschichte ein Buch länger zur Seite lege. So warten beispielsweise Bücher von R. Scott Bakker (»The Darkness That Comes Before«), Steven Erikson (»Gardens Of The Moon«) und George R. R. Martin (»A Game Of Thrones«) noch darauf, dass ich mich mit ihnen zu Ende vergnüge. Bei Campbell bin ich allerdings dieser Tage schwer am hadern, ob ich dessen Trum überhaupt noch fertig lese.
Andererseits habe ich entegegen meiner sonstigen Gewohnheiten bei »Scar Night« mal zur deutschen Übersetzung gegriffen habe, und, mannomann, das Radebrech des Buches dient mir bei masochistisch-ermatteten Anwandlungen als willkommen kreislaufanregende Gemüts-Raspel. — Ahhh, wie munternachend der Schmerz doch ist! Die Pein versichert mir, dass ich noch lebe und noch nicht geschmolzen bin bei den äquatorialen Temperaturen!! Hosianna, ich leide!!! — Diese etwas perverse Lesehaltung fügt sich, wie ich meine, ganz gut zu einem mit entsprechendem Passions-Trash vollgestopftem Düsterszenario.
Im Moment bin ich bis zum Ende des zweiten der drei Teile der insgesamt 607-Seiten-Strecke des ersten Bandes gedümpelt (Teil 1: Lügen, Kap. 1-10; Teil 2: Mord, Kap. 11-22; Teil 3: Krieg, Kap. 23-33). Ich kann lediglich berichten, wie für mich der Einstieg in die Kettenwelt-Chroniken war, und was in den ersten beiden Akten bisher aufgefahren wurde. — Mit dem Einstieg wird gleich klar, dass hier der ganz große, episch-kriegerische Rahmen aufgespannt wird. Im achtseitigen Prolog beobachtet ein Priesterfuzzi sorgenvoll, zig Tempel-Assassinen einen Turm bestürmen, weil darin ein weiblicher Engel auf Remmidemmi-Amokkurs wütet. Die Szene endet, ohne dass man groß Schlau aus der Situation wird. Schnitt und Zwischentitel: ›Zweitausend Jahre später.‹ — Pflichtgemäß setzt das erste Kapitel nun sachte (sprich: fad) an, mit dem jugendlich-unschuldigen Protagonist Dill, seines Zeichens ein Erzengel, letzter in langen Linie von heiligen Tempeldienern. Ums kurz zu machen: die Art, wie Dill als Treuherzi aus dem Turmzimmer durch die allerseits verrostete, verdreckte und von Efeu überrankte Stadt Deepgate tüdelt, nervt. Da hilft es auch nix, dass er Mitgefühl für Schnecken hat, oder dass er mit seinem Erzengelschwert vor dem Spiegel coole Posen übt. Überhaupt: der Roman wird erdrückt von zu vielem gewollt Coolem, was um so misslicher erscheint, da man mit Campbells meist platter Schreibe ein Metaphern-Bullshitbingo de luxe spielen kann. Ob das schon im Original so ist, kann ich nicht sagen. Wahrscheinlich wurde durch die Übersetzung von Jean Paul Ziller dieses Übel aber eher noch intensiviert, beispielsweise wenn Figuren sich statt ›fester‹ eben ›härter‹ abstoßen. Sicher bin ich mir in meinem Urteil, dass die Schmerz-, Verfalls- und Düsternis-Athmo des Buches sich so gar nicht mit den immer wieder eingestreuten (sarkastisch-zynischen) Witzelein verträgt. »Scar Night« wäre ein sehr respektable Leisrtung, wenn es ein Teenager geschrieben hätte. Tatsächlich dürften Teenager (ob tatsächliche oder solche im Geiste) auch die Hauptzielgruppe dieses Titels sein. — Bleibt mir nur, einzugestehen, dass mein innerer Teenager zwar durchaus mit einigen Themen und Athmos sympatisiert, aber letztendlich enttäuscht wurde vom fehlenden erzählerisch-sprachlichen Raffinesse und den sich auf fatale Art ergänzende, nämlich sich gegenseitig schwächenden Stimmungs-Strömungen des Buches.
Wie dem auch sei. In Teil 1, wird mir erstmal die an Ketten über einem Abgrund hängende Stadt Deepgate vorgestellt. (Notiz: Entweder es liegt an meiner Blödheit, dass ich die Erklärung überlesen habe, oder es wird wirklich nicht klar dargestellt, woran die Ketten oben befestigt sind.) Da wimmelt es von Stadtteilnamen, die mal aufdringlich sprechend mal nichtssagend sind. Eine Figur, Mr. Nettle, einen hühnenhaften Lumpensammler, begleite ich als Leser ein zähes Kapitel lang, wie er den Leichnam seiner von einem Unbekannten ermoderten Tochter zum Tempel trägt (inklusive Klischee-Begegnungen mit kriminellem Gesindel, darunter »…ein schwerer Karl, mit dem Gesicht eines Taschendiebes«, blinden Bettlern und gerissenen Blumenverkäufern). — Die Toten von Deepgate werden nämlich durch die Tempelmanschaft zeremoniell in den Abgrund gekippt. Das erklärt sich mit dem geschichtlichen Hintergrund der herumhängenden Stadt: Vor tausenden von Jahren fand ein Himmelskrieg statt, bei dem einige Erzengel unter der Führung von Ulcis gegen die Himmels- und Muttergöttin Aylen revoluzzten, jedoch unterlagen. Seitdem warten die gefallenen Engel in der Abgrundstadt Deep und lassen sich von den darüber baumelnden Bewohnern Deepgates verehren. Das Manegement dafür liegt bei der Kirche, geleitet von einem alten Prespyter (über den dauernd gesagt werden muss, dass er alt, senil und zerbrechlich wirkt, oder zumindest, dass er diesem Eindruck absichtlich Vorschub leistet). Ziemlch bald wird geklärt, dass die Kirche mit ihrem imperial-militärischem Apperat alles andere als eine heilsbringende, gütige Herrschaft ausübt. Es wimmelt nur so von bratzig gerüsteten heiligen Kriegern, Tempelwachen, und oben schon angesprochenem ›Rückgrad‹ der schlagenden Kirche, dem Assassinenorden der ›Spine‹. Unten in Deep warten die gefallenen Engel der Zeit ihrer Rache entgegen und sammeln fleißig die Seelen der Runtergekippten für ihr Heer, oben dezimieren die Unterdrückertruppen von Deepgate von Luftschiffen aus mit Giftgas, Brandbomben und Viren die umliegenden primitiven Stämme.
Mr. Nettle bleibt der einzige Charakter aus dem einfachen Volk (das sonst nur in Form kurz angerissener, oberflächlicher Figuren als Lückenfüler auftritt), und so muss er alleine alles an Wut auf das Regime und Armutsleiden des im Schmutz darbenden Pöbels zum Ausdruck bringen, was nötig wäre, um die Deepgate-Stadt mit Glaubwürdigkeit zu erfüllen (und natürlich reicht sein Part dazu bei Weitem nicht). — Ansonsten treten neben dem harmlosen Dill und dem alten Presbyter Sypes noch öfter auf:
- Dessen neue Tutorin Rachel, ein kämpfendes Teenager-Mädel aus besserem Hause, dass sich so sehr wünscht durch eine Abhärtungszeremonie zur einer vollwärtigen Spine gemacht zu werden, damit sie, ach, nicht mehr so viel fühlen muss und ganz emotionslose Killermaschine sein darf;
- der fette, bequem-gutmütige Fogwill Crumb, Schlattenschamis des Presbyters;
- Alexander Devon, der oberste Alchemist und Giftmischer von Deepgate, der als eigentlich ganz charismatisch und gewitzt dargestellt wird, wenn er nicht A) wegen Dauerkontermination durch und Selbstversuche mit seinem Handwerkszeug unter schmerzenden und irre machenden Wunden, Schwären und Pusteln leiden würde und B) nicht über dem durch ebensolche malefizische Arbeitstätigkeiten verursachten frühen Verscheidens seiner geliebten Frau wahnsinnig geworden wäre;
- sowie die im Prolog bereits herumwütende Engel-Vampirin Carnival (natürlich im sexy Lederzeug-Dress, und ganzköfper-vernarbt wegen aus Gewissenspein selbstzugefügten Wunden), die sich als monatliche Mörderin ihren Blutzoll aus Deepgates Bevölkerung pickt.
Uff. Je mehr ich hier mich abstrample den Düsterquark von »Scar Night« auseinanderzuklamüsern, desto mehr macht sich Unwiligkeit in mir breit. Statt noch weiter Gefahl zu laufen, die spärlichen Überraschungen und Lichtblicke des Buches zu verraten, schließe ich lieber mit einem kleinem Reigen an stilistisch-sprachlichen Beknacktheiten.
- Seite 12: …klirrte der Stahl: scharfe, wütende Hiebe, wie von einem erfahrenen Metzger, der Fleisch hackt.
- Seite 14: …Schreien aus Schmerz und Angst…
- Seite 19: Verwitterte Türme neigten sich über düstere Hinterhöfe im Bewußtsein ihres beiderseitigen Verfalls.
- Seite 49: Sie {die Schläge} waren so schnell wie das Züngeln der Flammen bei einem Inferno.
- Seite 57: Dill fiel plötzlich ein, dass er nackt war.
- Seite 60: Doch plötzlich fiel es {= warum jemand so blass ist} Dill ein.
- Seite 62: Plötzlich erinnerte sich Dill, woher er ihren Namen kannte.
- Seite 65: …das Wirrwarr kein System dahinter erkennen ließ…
- Seite 66: Es war ein Wirrwarr aus Metall …
- Seite 95: Ganze Heerscharen von Köchen…. Siehe S. 117.
- Seite 103: Das Licht der Fackel ergroß sich über den Boden und brachte den Geruch nach Stroh und Tieren mit sich.
- Seite 103: …führte die Pferde mit peinlicher Aufmerksamkeit…
- Seite 106: …als der Seelenkäfig mit einem respektlos-dumpfen Aufschlag zum Stehen kam.
- Seite 109: Irgendwo in der Ferne schlug der Hammer eines Schmiedes eiserne Noten an.
- Seite 110: …seine Schritte hallten wider wie ein langsamer metallischer Herzschlag.
- Seite 110: …während sein Zorn immer noch wie eine unsichtbare Wolke über ihm schwebte.
- Seite 111: …wo ihre Hufe wie Peitschenhiebe in der Stille widerhallten.
- Seite 117: …ganze Heerscharen von Arbeitern…. Siehe S. 95.
- Seite 118: …ein sonderbares metallisches Seufzen vom Wind…
- Seite 121: …spürte, dass etwas nicht in Ordnung war … ein Gefühl von Grauen … bis er plötzlich, ohne zu wissen warum, zu laufen begann.
- Seite 124: Und plötzlich war er frei.
- Seite 125: Plötzlich bemerkte Dill, dass das raue Atmen aufgehört hatte.
- Seite 144: Speere von Sonnenlicht schossen durch die drohenden Gewitterwolken am niedrigen westlichen Himmel.
Und das sind nur die bei schnellem Lesen gefundenen Stellen aus dem ersten der drei Teile des Buches. — Allen, die sich nach wirklich neuartiger und faszinierender Dark-Fantasy sehnen, sei von »Scar Night« meinerseits dringlich abgeraten. Wer aber glaubt, durchaus Vergnügen an allzumerklich schlechten Büchern und unsäglich zusammengestoppeltem Finsternislulu haben zu können, möge den Griff zu diesem Titel ruhig riskieren. Ich habe gewarnt.
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tkl
Nachdem ich "Scar Night" gerade im Original gelesen habe, und das noch mit obiger Vorwarnung im Hinterkopf, muss ich bekennen: mich hat's amüsiert. Allerdings mag ich Pulp, und alles, worauf Du nachvollziehbarerweise eindrischt, kam mir wie der ziemlich clevere Umgang mit vertrauten Mustern vor. Ich kann einem Fantastik-Abenteuerschmöker nicht böse sein, der nicht nur beim Szenenwechsel immer wieder mit Cliffhangern arbeitet, sondern den Cliffhanger zum Zentrum der Erzählung macht: die Stadt an Ketten über dem Abgrund. Bei sowas muss ich einfach feixen.
Der Schluss sackt ein wenig in Computerspielaction ab, aber die Sinnleere eines in Ritualen und Institutionen erstarrten Glaubens fand ich mit Personal und Kulissen zuvor ganz ordentlich dargestellt. Und der Dialog "You drank a god?" "I could manage another." geht in mein Schatzkästlein der Kirchenstürmerszenen ein.
molosovsky Besitzerin
@tkl: … deshalb habe ich die von Ihnen zitierte Punchline mit dem gesoffenen Gott gar nicht verköstigt. Campbell hantiert mir zu ungeschickt zwischen extra-düster aufgetragenen Finster-Pathos und zu cool-lässig hingeworfenem Schwarzem Humor. Der Weltenbau kam mir erstaunlich dünn und damit leider auch unplausibel vor: eben größtenteils Oberfläche. Wiegesagt trägt die Übersetzung wohl ihren Teil dazu bei, warum das Buch für mich nix mehr ist, denn Sprache ist mir auch beim Pulp und Trash eben wichtig. — Dennoch hoffe ich, dass ich genug um das Buch herumgefaselt habe, um Hinweise zu geben für Leser, die damit vielleicht was anfangen können.
Oben im Hauptbeitrag habe ich den Aspekt der Religions- und Gesellschaftskritik weggelassen. Vielleicht weil sie mir mit der Figurenstaffage und der mageren Sprache und dem löcherigen Weltenbau etwas zu platt dünkt. im Grunde aber ist mir wiegesagt die Thematik sympathisch und ich finde schon, dass Campbell mit seinem Spott und Ätz in die richtige Richtung zielt.