molochronik
Samstag, 24. Januar 2009

Thomas Pynchon: »Die Versteigerung von No. 49«, oder: Die Queste der Oedipa Maas

Eintrag No. 538 — Wie aufmerksame Molochronik-Leser wissen, bin ich zur Jahreswende 2007/2008 vom Pynchon-Fieber erfasst worden, weiland ich damals die englische Ausgabe von »Against the Day« (2006, Deutsch 2008 als »Gegen den Tag«) verschlang. Mittlerweile habe ich mir alle sechs Romane dieses erstaunlichen Schriftstellers zugelegt, sowohl auf Deutsch, als auch auf Englisch.

»Gegen den Tag« (= GDT) ist aufgrund seines Umfangs von über 1000 Seiten, der verwirrenden Figurenvielzahl und der thematischen Breite sicherlich nicht unbedingt der die beste Eintrittskarte zu Pynchon Prosawelten (auf den ersten Blick zumindest, denn bei mir hat das dicke Ding ja voll gezündet). Allerdings kann ich sagen, dass verglichen mit Pynchons bekanntesten, von mir erst etwa zu einem Drittel bewältigtem Werk »Gravity’s Rainbow« (1973, Deutsch 1981 als »Die Enden der Parabel«), GDT ein zwar langer, aber bequem zu absolvierender Spaziergang ist.

Nun aber zu meiner zweiten abgeschlossenen Pynchon-Lektüre, »The Crying of Lot 49« (1966, Deutsch 1973 als »Die Versteigerung von No. 49«). Der oftmals ausgesprochenen Empfehlung, dass dieser (zweite) Roman von Thomas Pynchon (1937) den bekömmlichsten Einstieg in sein Werk bietet, kann ich von meiner bisherigen Warte aus voll und ganz zustimmen. Hier lernt man auf kurzer Strecke in sechs Kapiteln bereits die wichtigsten Themen, atmosphärischen Facetten und erzählerischen Kniffe dieses Autors kennen.

Bei »The Crying of Lot 49« handelt es sich grob gesagt um eine Konspirations-Räuberpistole. Oedipa Maas, die Heldin des Mitte der 1960ger-Jahre angesiedelten Romans, erfährt nach dem Tod ihres Ex-Geliebten, dass sie von diesem steinreichen Immobilien- und Industrie-Mogul Pierce Inverarity zur Testamentsvollstreckerin bestimmt wurde. Um dieser angesichts des riesigen Vermögens ungeheuren Aufgabe gerecht zu werden, beginnt Oedipa eine Recherche-Rundreise durch Kalifornien und stößt dabei im Zusammengang mit einer Briefmarkensammlung aus dem Nachlass des Verstorbenen, auf die undurchschaubare Verschwörung eines Post-Untergrundnetzwerkes, des Tristero-Systems. Ihren Anfang nahm diese geheimnisumrankte Organisation irgendwann in den Wirren der europäischen Geschichte, als sich die Tristero-Intriganten dem Thurn & Taxis-Monopol der Briefzustellung entgegenstellten. Die Fährte dieses Ringens zwischen staatstragenden Kommunikations-Monopolisten und anarchistischen Tristero-Rebellen zieht sich durch die Jahrhunderte bis hin in Oedipas Lebenswelt. Einmal darauf aufmerksam geworden, entdeckt sie überall die geheimen Tristero-Zeichen, z.B. das Akronym W.A.S.T.E. auf als Mülleimern getarnten Tristero-Briefkästen, komische Schreibfehler auf Pots- Poststempeln, oder ein Symbol, das ein durch einen Dämpfer unnütz gemachtes Posthorn zeigt. — (Es besteht für mich kein Zweifel, dass Pynchons Charadenspiel-Thematik inspirativ auf nachfolgende Fiktionen wie die »Illuminatus!«-Trio (1975, Deutsch 1977) von R. A. Wilson & Robert Shea, oder Umberto Ecos »Das Fouccaultsche Pendel« (1988, Deutsch 1989) eingewirkt hat.)

Thomas PynchonOedipa versucht sich gegen Ende des Buches einen Überblick zu ihrem Dilemma zu verschaffen, und kommt auf folgende vier Möglichkeiten (S. 189 f; Zitatangaben nach der Deutschen Taschenbuchausgabe):

  1. … dass sie wirklich einen ›geheimen Schatz‹, ein…
    … Nachrichtennetz, über dessen Drähte eine ganz schöne Menge von Amerikanern aufrichtig miteinander kommuniziert, während sie ihre Lügen, ihr routinemäßiges Geschwätz {…} dem offiziellen Verteilersystem der Regierung anvertrauen …

    … entdeckt hat;

  2. … dass sie sich das nur einbildet;
  3. … dass sie auf einen elaborierten Komplott-Ulk ihres verstorbenen Liebhabers Pierce Inverarity hereingefallen ist, der Dank seiner weitreichenden Mittel in der Lage war, Spuren zu fälschen und Darsteller anzuweisen Oedipa etwas von der Tristero-Verschwörung vorzugaukeln;
  4. dass sich Oedipa diesen Komplott-Ulk nur einbildet

Die Auflösung werde ich hier natürlich nicht verraten und ich warne davor, im Netz danach zu suchen, denn das Vergnügen, welches die letzten Zeilen des Romanes bieten, ist zu köstlich, um es sich ver-spoilern zu lassen.

Lebhaft und abwechslungsreich gestaltet sich die Lektüre des Romans durch die Kombination von episodischen und verschachtelten Erzählens. Episodisch, weil wir Oedipa bei ihrer Queste begleiten (und das Buch bietet vergnügliche Auftritte von Durchgeknallten, Außenseitern und Exzentrikern); verschachtelt, weil immer wieder kürzere und längere Abzweigungen vom Hauptstrang genommen werden, z.B. wenn Abenteuerspielfilme des Kinderfernsehens, blutige jakobinische Theaterstücke parodiert, oder historische Ausflüge zur Tristero-Verschwörung dargeboten werden.

Sprachlich trumpft das Buch auf, indem es sowohl satirische Übertreibungskunst und slapstickhaftes Blöden meistert (z.B. wenn Oedipa sich mit dem Anwalt von Pierce Inverarity in einer zum Seitensprung ausartenden Motel-Nacht auf eine Partie Strip Botticelli einläßt und eine außer Kontrolle geratene Haarspraydose für totales Chaos sorgt), es auch vermag, die fragileren Tonlagen des Grübelns, Zweifelns und Sinn-Strebens der Heldin anzustimmen.

Gerade als Phantastik-Liebhaber bin ich hingerissen vom großen Geschick Pynchons für umfassende Metaphern, die sowohl blickerweiternd als auch desorientierend wirken, die offen und anknüpffreudig genug bleiben um mir als Leser Raum für eigene Deutungen zu gewähren, ohne dabei zu gängeln oder in die Beliebigkeit abzugleiten. Was kann und darf man sich mehr von einem kurzweilig zu lesenden Stück Literaur erwarten, wenn zugleich ernsthaft über die Herausforderungen des Lebens in der modernen Welt (oder des Mensch-Seins) erzählt werden soll?

Markant appeliert das Buch zu dieser Problematik dann an seine Leser, wenn eine Figur, der Bühnenkünstler Randolph Driblette, sagt (S. 85/86) …

{…} wer kümmert sich schon um Worte? Das sind nichts als Eselsbrücken {…} Die Wirklichkeit ist drin in diesem Kopf. In meinem. Ich bin der Projektor im Planetarium {…}

Groß war mein Vergnügen, als Kuppel für die Projektionen von Meister Pynchon zu dienen, dabei von ihm eingeladen und ermuntert zu werden, mein eigenes Licht leuchten zu lassen: innerhalb der kleinen sicheren Romanwelt von »Die Versteigerung von No. 49«, aber auch in der großen Welt der tatsächlich stattfindenden Kultur und Natur-Ereignisse.

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Thomas Pynchon: »The Crying of Lot 49« (1966), 127 Seiten in 6 Kapiteln, Taschenbuchedition mit exzellenter Umschlag-Zier von Yuko Kondo/Packo bei Vintage Books; ISBN: 978-0-099-53261-3.
Thomas Pynchon: »Die Versteigerung von No. 49« (dt.: 1973), Deutsch von Wulf Teichmann, 203 Seiten, Rowohlt Taschenbuch; ISBN: 978-3-499-13550-7.
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