»Das Abenteuer Phantastik« aus »Kritische Ausgabe« (Sommer 2008)
Um nun, ein Jahr nach Erscheinen des Textes, Euch Molochronik-Lesern (exklusiv) mehr bieten zu können, habe ich im Folgenden den Text um Fußnoten-Anmerkungen ergänzt. Es geht mir der Redlichkeit halber darum, meine Quellen zu offenbaren und um die These zu illustrieren, dass alle Texte immer auch ein Gespräch mit anderen Texten darstellen. Ich möchte nicht den Verdacht auf mich ziehen, ein originellerer Denker zu sein als ich bin.
Wer so viel Text nicht am Bildschirm lesen mag, der kann sich mit dieser PDF-Version vergnügen.
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Alle Leseerlebnisse reißen uns aus dem Fortlauf des Alltags. Wir treten heraus aus dem Zusammenhang des Hier und Jetzt und seiner Praxis-Zwänge und lassen uns auf eine zwischen Buchdeckel gebundene ›kleine Welt‹ ein, die nur mittels der magischen Kraft der Sprache in unserer Vorstellungskraft Gestalt annimmt. Dabei spielt es erstmal keine besondere Rolle, welches ›Wo‹ oder ›Wann‹ eine Geschichte beschwört: Ob man Kemal Kayankaya im zeitgenössischen Frankfurt bei seinen Detektivgängen begleitet oder mit Leopold und Stephen durch das Dublin des 16. Juno 1904 spaziert, ob man Quasimodos, Frollos, Pierres und Esmeraldas Schicksalswege im mittelalterlichen Paris verfolgt, ob man mit Frodo und Sam nach Mordor wandert, ob man die Marter von Winston Smith im Folterzimmer 101 des Ministeriums für Liebe miterleidet oder mit Hans Castorp bei seinem Sanatoriumsaufenthalt Ski fahren geht, niemals befindet man sich in der tatsächlichen Wirklichkeit, sondern immer tritt man durch einen Zauberspiegel in eine Welt der Sprache.[01] Die Leser entscheiden selber, ob sie die jeweiligen Angebote des Übertritts in eine narrative Welt als Ex-und-Hopp-Vergnügen nutzen, als Streichholz oder Fahrkarte die nach einmaligem Gebrauch weggeworfen werden, oder ob sie im Laufe der Zeit immer wieder zu bestimmten Schatzkästlein des Erzählens zurückkehren, um sich einen gediegenen eigenen Erinnerungspalast der Imagination einzurichten, den man als privates Hobby oder zum geselligen Austausch pflegt.[02] Grenzen zu verwischen scheint deshalb erstmal nötig, soll ein umfassender Blick auf das Abenteuer der Phantastik gewagt werden.
Immerhin herrscht einige Verwirrung zu dieser facettenreichen und umstrittenen Spielart der Literatur, was wohl schon darin gründet, dass ›phantastisch‹ und ›Phantastik‹ mit vielerlei Bedeutungen belegt werden, sich aber kaum jemals auf die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs besonnen wird. Etymologisch steckt nichts anderes hinter diesen Wörtern, als der Vorgang und die Gabe, Dinge ›sichtbar zu machen‹, ›sehen zu lassen‹, vor dem geistigen Auge der Vorstellungskraft ›erscheinen zu lassen‹. Durchaus nachvollziehbar sind dabei sowohl das Misstrauen und die Zurückhaltung, mit der Phantastik von den Kreisen der so genannten ernsten, hohen, relevanten Literatur beäugt wird, als auch die leidenschaftliche Begeisterung, mit der sich viele, darunter vor allem viele junge Leser des breiten Publikums willig auf die Abenteuer der Phantastik einlassen. Richtet man sein Augenmerk auf den Umstand, dass bei der Phantastik immer schon der Weltenbau selbst zum Gegenstand kreativer Machenschaften wird, ahnt man, dass diese seltsamen Fiktionen der Phantastik unerhörter- oder bezaubernderweise mehr zu leisten vermögen als die realistischen Erzählweisen der mimetischen Fiktionen. Die realistischen Modi mäßigen sich freiwillig dazu, lediglich zu erzählen, was ›geschehen ist‹ oder ›so hätte geschehen können‹. Jegliches Enerzählen, besonders aber die Phantastik nimmt sich außerdem heraus, von Dingen und Geschehnissen zu handeln, die so ›nie hätten geschehen können‹ oder die ›geschehen könnten, wenn …‹ oder reichert den Wirklichkeitsbau ihrer Fiktionen darüber hinaus merklich an mit Auswirkungen ästhetisch-ethischer Prämissen dazu, wie die Welt ›sein sollte‹ oder ›nicht sein sollte‹.[03]
Das Unternehmen, Phantastik kristallklar zu bestimmen mag löbliche Aspekte haben, und so berechtigt oder verständlich verschiedene Strömungen der entsprechenden Versuche scheinen, so beengend geraten dann am Ende die meisten ihrer Ergebnisse. Die sogenannten minimalistischen Definitionen ermöglichen zwar auf den ersten Blick die schlüssigere Handhabe, wenn sie einerseits eine tatsächliche, objektive ›die Welt ist, was der Fall ist‹-Wirklichkeit annehmen, um dann solche Fiktionen den phantastischen Gattungen zuzuordnen, in denen Unwirkliches, Irrationales, Wundersames, kurz: ›von der objektiven Faktenwirklichkeit abweichende‹-Seltsamkeiten ungestüm herumtollen.[04] Doch dieses Sprechen über Phantastik gerät schnell zu einer heiklen Angelegenheit, denn schenkt man der beunruhigenden Feststellung Glauben, dass vor allem die kulturellen, politischen, gesellschaftlichen und historischen Wahrheiten immer und überall gleich, nämlich unbekannt sind, tritt die Phantastik eher früher als später als mächtigstes, zugleich aber zwielichtiges Fundament all unseres Wünschens und (Ver-)Handelns zu Tage. Deutlich zu kurzsichtig ist es nämlich, Fiktionen nur auf ihr Verhältnis zur objektiven Tatsächlichkeit der äußeren Welt abzuklopfen, und die trügerischen Sphären der ideologischen, kulturellen und inneren Erlebniswelten zu vernachlässigen. Für den jeweiligen Leser ist es erkenntnistheoretisch zweitrangig, ob die Protagonisten einer abenteuerlichen Geschichte auf Drachen und Einhörnern durch exotische Arkadien- und Inferno-Gefilde reisen oder ob der Weg des Helden in vermeintlich realistischen Abenteuern durch die Graubereiche führt, welche die himmlischen Luxus-Milieus der Reichen und Schönen mit denen der kriminellen Unterwelt verbinden.
Schließlich können sich alle Fiktionen, alle Erzählungen, seien sie realistisch-tatsächlichkeitsnah oder wundersam-seltsamkeitssüchtig, nur Fragmenten der sogenannten Wirklichkeit widmen und vermögen den Effekt einer mit Absolutheitsanspruch auftretenden Welterfahrung lediglich durch Tricks zu beschwören, und egal, ob sie mehr in den geplant konstruierten Häfen der Ratio und des Logos ankern oder frei in den Gewässern der Affekte und des Mythos flottieren, die individuellen Horizonte bleiben immer begrenzt und endlich. Damit sollen die mehr oder minder strengen strukturalistischen Erkenntnissätze der minimalistischen Sichtweise nicht komplett verschmäht werden, denn erst, indem sie konsequent die Belange existentialistischer Probleme verfehlen und die Flexibilität von Leserhaltungen übersehen, vermögen sie eben auf die blinden Flecken der Erkenntnisfähigkeit selbst aufmerksam zu machen. Die Redlichkeit der minimalistischen Definitionsmissionen gründet auf der Ernsthaftigkeit, die bei ihnen zu Tage tritt, wenn zugegeben werden muss, dass es zwar in der Vorstellung und Sehnsucht unzählige, ja unendlich viele Möglichkeiten gibt, aber eben nur so lange, wie man keine konkreten Entscheidungen treffen muss.
Der sogenannte maximalistische Ansatz zur Beschreibung dessen, was Phantastik ist, erkennt das Dilemma an, dass der Horizont des als gesichert gewähnten Wissens wenig stabil ist, und bietet eine größere Auswahl an locker verhandelbaren Schubladen zum Sortieren der phantastischen Erzählweisen an. Legt man zur groben Orientierung eine historische Zeitachse an das Spektrum der Phantastik, bietet sich die vertraute Fächer-Trias der Science-Fiction (Zukunftswelten), des Horrors (beängstigende Welten) und der Fantasy (Vergangenheitswelten) an, und bei allem, was sich nicht eins-zwei-drei dort einordnen lässt, kann man getrost den Schirmbegriff Phantastik anwenden. Der maximalistische Ansatz versucht also oft gar nicht erst, eine fitzelige Hierarchie anzubieten, dergemäß verschiedene Erzählweisen der Phantastik in unterschiedlicher Nähe oder Ferne zu der ziemlich abstrakten Idee eines Konsens-Realismus liegen. Der Preis, den der maximalistische Ansatz dabei entrichten muss, ist der Makel des Schwurbelns. Kein Zweifel: Beide Ideenschulen der Phantastik, minimalistische und maximalistische, kneten zurecht und vereinfachen dabei, aber letztere springt wenigstens beherzt ins lebhafte Fruchtwasser der erzählenden und bilderschaffenden, kurz: der mythischen Kreativität. Und mythisch wird es, sobald Menschen so unbescheiden sind und zur Sprache zu bringen trachten, was jenseits der Sprache liegt. Wenn also nicht geschwiegen wird, wovon sich nicht klar und wohldefiniert kommunizieren lässt. Egal, ob dabei als Mittel des Erzählens eine biegsame und registerreiche Sprache, das Über- und Untertreiben und Neuerfinden von Eigenschaften und Kausalitäten oder die metaphorische Transformation und Übertragung angewendet wird, im Grunde kommt am Ende immer Phantastik heraus. Ob es sich dabei im Speziellen um Grotesken, Satiren, Weltraumopern, heroische Romanzen, düstere Intrigen-Thriller oder historische Konspirationsstoffe handelt, mag eine reizvolle Denksportaufgabe sein, aber ernsthaftes Interesse daran, dass möglichst enge Genre-Eingrenzungen gelten, können nur Vermarkter stromlinienförmiger Formel-Fiktionen sowie jene haben, deren bevorzugte Nischen-Stoffe ohne Nobilitierungsstützen in der globalen Narrationskonkurrenz in die Stillstandszonen abgedrängt werden.
Soweit es sich übers Knie brechen lässt, kommt das gemeine Publikum besser mit dem maximalistischen Ansatz zurecht, denn es kann im Großen und Ganzen wohl unterscheiden zwischen den beunruhigenden Herausforderungen des in der politischen Wirklichkeit stattfindenden Zwistes der konkurrierenden ideologischen Phantasmen und der eigenen Wohlfühlpraxis, sich mit Hilfe einer erzählenten Fiktion vom Alltag zurückzuziehen, um neue Kraft zu schöpfen oder überschüssige Energien abzufackeln. Das Publikum ist gemeinhin zufrieden damit, sich bei der Lektüreauswahl zu orientieren an der groben Unterscheidung zwischen den realistischen Fiktionen, die auf dem Boden des gegeben Möglichen bleiben, und den phantastischen, die mit kräftigeren Prisen des Seltsamen das Staunen und Träumen im großen Maßstab ermöglichen.
Phantastik und Pathos haben dabei viel miteinander gemein, da beide mit ihrer Faszinationskraft die Gefühle und Leidenschaften in ihren Bann zu ziehen verstehen, und beide können dazu dienen, alte oder neue Gemeinschaftswelten zu propagieren.[05] Wie gesagt, ist es verständlich, wenn jene, die das Privileg genießen, als Sachwalter und Priester der Literatur zu agieren, aufgrund der mit dem Geschichtenerzählen einhergehenden Verantwortung dazu neigen, vor allzu heftigen Fiktionsmodi zu warnen. Natürlich wäre es eine feine, jegliche Gesellschaft von ziellosen Trieben entgiftende Angelegenheit, wenn alle Leser sich darauf beschränkten und Geschichten nur deshalb läsen, um in narrativen Imitationen des Lebens verstehen zu lernen, welche Ursachen und Folgen verschiedene Erfahrungen, Meinungen, Affekte und Handlungen haben.[06] Aber der distanzierte Blick auf die Figuren einer Erzählbühne allein ist eben nur wenigen genug, und so verlangt auf vielfache Weise auch das Bedürfnis nach Identifikation und Miterleben nach Befriedigung. Doch damit nicht genug, locken eben doch auch ganze Welten und warten darauf, durchwandert, gelesen erkundet, erobert zu werden, ohne dass man sich mit großen Aufwand äußerlich einem Lifestyle anpassen, geschweige denn, sich wirklich als Abenteurer in die Wildnis aufmachen muss. Lesend begibt man sich als modernes Langeweilopfer eben gern in Gefahr.
Leben findet immer nur im Moment des Jetzt und Hier statt, in einem auf dem Wirbel aus Zeit und Raum treibenden Augenblick, einer kleinen Welt der intimen, intensiveren Bande, durch welche die eigene Person mit der sie umfassenden Gruppe und Kultur verkettet ist. Hier teilt man Werte der überschaubaren Gemeinschaft, des Stammes, Clans, der Familie, der Arbeitskollegen, der Nachbarschaft. Hier herrschen die tribalistischen Werte, mit denen diese Untergruppen sich stabilisieren gegenüber den überwältigenden und unübersichtlichen Faktenstrudeln und Meinungsstürmen. Die entsprechenden Zusammengehörigkeitsmythen werden oftmals als spießig, altmodisch, beschränkt und einengend bezeichnet oder empfunden, wenn die ständige Beäugung durch die eigene ›Peer Group‹, durch den eigenen Stamm die Luft zum Atmen abschnürt, wenn Rücksichten in Belastungsprüfungen umschlagen, wenn die Vergleichs-Animositäten und wilden Gerüchte zu ›Bei uns hat man das immer schon so gemacht‹- und ›Wo kämen wir denn da hin‹-Kerkern werden. Hier drohen Puristen unterschiedlichster Couleur für ihre Zwecke das Individuum einzuspannen und gemäß ihren Prämissen organisieren und formatieren zu wollen.[07]
Glücklich in dem einbettenden Gefäß ihrer kleinen Welten bleiben jene, die niemals auszubrechen trachten aus ihrem Milieus. Wenn niemals Not und Mangel oder die Verführungen des Übermutes und des Leichtsinns sie nach eigenen kräftigen Sinnes- und Tatleistungen streben lassen, können sie ebenso gut bequem Hause bleiben im Nahen und Bekannten. Ja, gesegnet sind sie, wenn niemals der Hunger nach Abenteuer oder eine Gefahr sie aus dem übersichtlichen Gehege treibt und das Vertraute immerdar genug Sicherheit, Erfüllung und Kurzweil liefert.
Doch auf der begrenzten Kugeloberfläche des Planeten Erde mit seiner dünnen menschenfreundlichen Schicht wird der Platz immer enger, und die gegenseitige Umzingelung des Menschen durch den Menschen[08] bei seiner Suche nach Sicherheit und Innigkeit wird von Spannungen und Gefahren begleitet, erschüttert mit Konflikten die immer nur vorübergehenden Sicherheiten der kleinen Gemeinschaften und zwingt sie dazu, ihre Perspektiven, ihre kleinen Erzählungen anzupassen. Kein Wachstum ohne Schmerzen, keine Neuformungen und Verschmelzungen ohne Auflösung der althergebrachten Formen, und die damit einhergehenden Belastungsprüfungen lassen die Einfassungen der kleinen Gruppen undicht werden. Der hereinbrausende bedrohliche Sturm der Außenwelt zwingt die Aufmerksamkeit dazu, anzuerkennen, wie gering die Kontrolle über das tatsächliche Tohuwabohu ist.
Jenseits der Ränder der Nestgemeinschaft und noch vor der Wahnsinn evozierenden Unwirtlichkeit des kosmischen Grauens aber betritt man erst einmal die konfusere, relativierende Ebene des Gewirrs von Gruppen, einem Durch- und Mit- und Gegeneinander von vielen Untergruppen mit ihren jeweiligen Traditionen, Geschichten und Interessen. Die entsprechenden, arg in Verhandlung und deshalb Wandlung befindlichen Globalmythen werden von den Kleingruppen oftmals als flach, beliebig, leer degradiert. Da erklingen dann die Vorwürfe gegenüber der Moderne oder Postmoderne, nur substanzloses Einerlei zu bieten, man schreckt zurück vor den Gefahren des Nihilismus, der Entmutigung angesichts von Entfremdung durch zweckrationalistische Machenschaften. Betrachtet man von diesem wuseligen Bazaar des Pluralismus aus die kleinen Nischen-Welten der Untergruppen, erscheinen letztere bei all dem Halt, den sie zu bieten vermögen, schlimmstenfalls als engstirnig, bestenfalls als unterhaltsam schrullig.[09]
Zwischen den verschiedenen eng und weit gefassten Wirklichkeitsperspektiven stößt man auf zig Grenz- und Übergangsbereiche, die mal als firmere Barrieren, mal als fließendere Passagen erlebt werden, und alle Menschen sind mehr oder weniger ständig unterwegs auf einer ›Queste‹, um in eigener oder gemeinschaftlicher Ambition symbiontische, mutualistische und parasitäre Arrangements zwischen verschiedensten Hübens und Drübens zu etablieren. Das intimste ›Hier‹ und ›Drinnen‹, in dem wir sind, stellt der eigene Körper dar, das klar gefasste Ich der eigenen Person. Das größte ›Drüben‹ oder ›Draußen‹, dem wir gegenüberstehen, ist der endliche Planet, den wir miteinander teilen, und das Universum, durch den dieser kreist. Beide Welten können wir mit Hilfe der Phantasie ergründen. Die Geheimnisse der äußeren Welt mühen wir uns mit Hilfe der objektiven Phantasie zu lüften, und der Aufstieg dessen, was man moderne Zivilisation nennt, legt umfassend Zeugnis davon ab, wie erfolgreich hier die Mächte des ›Sehenlassens‹ sind, wenn es gelingt sie in offenen und zugleich strengen Prozessen aufeinander abzustimmen und auszudifferenzieren. Doch wo einerseits die objektive Phantasie über die Materie triumphiert und einer sagenhaften Vermehrung des Komforts förderlich ist, haben andererseits die allzu separatistischen Terrains der subjektiven Befindlichkeitsphantasie, vor allem ihre anthropozentrischen und elitaristischen Seiten, Demütigung und Erschütterungen erlitten.
So pokern bei dem ›Ideenkrieg um das Sein‹[10], wenn sich widersprechende Ansichten und Ambitionen aufeinanderprallen, Gesellschaften vor allem um die Deutungs- und Gestaltungshoheitsposten, wie denn mit der brodelnden und wilden Phantasie-Fähigkeit der Menschen umgegangen werden soll und wie sich Ordnung schaffen lässt in diesem Dschungel aus verführerischen Hirngespinsten, faszinierenden Seltsamkeiten und erhellenden Veranschaulichungen. Die Phantasie und die mit ihr fabrizierte Phantastik sind immerhin schillernde, trügerische Angelegenheiten und deshalb oftmals scheel beäugt, zum einen, weil sie das irre Lodern des Aberglaubens anfachen und Blicke irreleiten können, zum anderen, weil sie die Aufmerksamkeit des Möglichkeitsdenkens auf Dinge zu lenken vermögen, welche von den Betreibern umfassender Projekte und Missionen im Geheimen oder in Verkleidung reibungsloser bewerkstelligt werden können. Bevor man gemeinschaftlichte Tatanstrengen angepacken kann, müssen Visionen geteilt und Träume aufeinander abgestimmt werden, und so tasten sich Leseabenteurer mit Hilfe von Geschichten an Ideale heran oder lernen ihnen zu misstrauen — Ideale die zum Beispiel bestimmen (wollen), was Elite, was das Wahre, Schöne, Gute sei, die Geschlechter- und Klassenrollen beschreiben, wie auch Körper-, Kindheits-, Jugend- und Partnerschaftswelten und Tausenderlei mehr.
Platon schrieb zwar, dass die Götter mit ihren Zeichen, die sie erscheinen lassen, nicht lügen, aber dennoch trennte er z.B. mittels seines Höhlen- und Sonnengleichnisses zwischen dem Wissen für die Masse (d.h. diejenigen, die nur die in einer Höhle aufgeführten Schattenspiele deuten können) und dem für die Eliten (die sich in Zwiebelschalen-Hierarchie um eine Wahrheitssonne tummeln). Der Ernstfall gewährt zuallermeist weder genug Zeit noch Ressourcen, um Entscheidungen friedlich auszudiskutieren, oder um eine musikalische Metapher zu bemühen: das freie Improvisieren ist das Privileg des Einzelnen oder einer kleinen Gruppe virtuoser Könner, vielköpfige Symphonik aber braucht erste Geiger und Dirigenten. Kein Wunder also, dass sich im Zentrum des Meinens und Streitens über Wert und Unwert der Phantastik immer wieder Fragen zu der Verantwortung gegenüber der Wirklichkeit und der Flucht vor derselben finden lassen.
Bei diesem ›Ideenkrieg um das Sein‹ geht es um nichts weniger als die konkret miteinander konkurrierenden Projekte der Gestaltung der Wirklichkeit, es geht darum, wer Architekt von Fundamenten und Navigator von Zielen sein darf, wer welche Stücke vom gebackenen oder erbeuteten Kuchen bekommt, und nicht zuletzt darum an wem die Drecksarbeit hängen bleibt von der zu sprechen oft schon genügt, um den Geistern des Unfriedens Tür und Tor zu öffnen. Die Konvention der guten Botschaften über gloriose Vergangenheiten oder edle Zukunftsprojekte verlangt, dass man die unangenehmen Facetten der eigenen Ambitionen unter den Teppich kehrt oder wiederum umgewendet als etwas Edles, Supremes postuliert. Doch der Globus ist lange schon vernetzt genug, als dass sich Rückmeldungen über die Folgen der miteinander konkurrierenden Exklusivitätsbestrebungen längerfristig unterdrücken oder ausblenden ließen, und so strebt die Schwarmintelligenz Menschheit danach ihre bellezistischen, elitären und pofitmaximierenden Tatunholde, ihre schauerlichen Unterweltmonster und die beschähmenden Opferkrüppel zu integrieren in der moderaten Masse des Allerweltstages. Solange ein Mensch nicht fix darauf programmiert ist, freiwillig und wissend wie ein Apostel oder unfreiwillig und blind wie ein Golem der weisenden Stimme seiner Herren zu folgen, solange genießt der Einzelne das Privileg bzw. muss mit der Zumutung zurechtkommen, selbstständig auf diesem Ozean der Überlieferungen, Meinungen, Visionen und Missionen zu navigieren. Wir alle sind dabei weniger vereinzelte Inseln als vielmehr Schiffe mitsamt ihrer Besatzung, oder um ein klassisches Fabelwesen als Metapher zu bemühen: wir alle sind Zentauren, eine Verschmelzung von Reittier und Reiter, und können nur dann mächtige Jäger, fähige Heiler und findige Spurenleser sein, wenn Tier und Mensch als Einheit miteinander auskommen, oder um diesen Gedanken durch die futuristische Metaphernmangel zu drehen: die Verschmelzungen von Mensch und Technik werden schon lange so heftig herbeigesehent, dass moderne Personen zu Cyborgs mutieren (wer dies nicht gleich radikal am eigenen Körper tut, ist durch die modernen Lebensumstände doch angehalten, sich als zumindest als organischer Teil einer Maschine-Mensch-, Computer-Person-, Fahrzeug-Lenker-Zwei-Einheit zur Verfügung zu halten).
Ginge es bei Phantastik nur um Kinkerlitzchen der Ästhetik, nur um harmlosen Kokolores des Geschmacks, würden sich die Gemüter beim Austausch ihrer Pro- und Contra-Argumente zur Phantastik kaum so erhitzen. Sorge ist durchaus angebracht, wenn Phantastik durch Kulturindustrie- oder Kulturestablishment-Routinen zu Schablonen-Fiktionen ausartet, die, statt zur Aufmerksamkeit und Reflexion zu ermuntern, Passivität und Gleichgültigkeit befördern, wenn Leser sich nicht lustvoll und erkenntnishungrig in einem aus Sprache hingezauberten Bedeutungslabyrinth verirren sollen, sondern eben Reizformeln zur Anwendung gelangen, die als Erwartunghaltungs- und Vorurteilskristalle gehandelt und als Vorstellungscrack konsumiert werden. Die hierbei durchschimmernde Rivalität ist alt, die Reibungen zwischen den Anhängern des Realismus und der Phantastik sind nur ein modenes Echo des Stampfens und Klatschens des alten Watschentanzes der Parteigänger von Logos und Mythos, derjenigen, die für möglichst viele einsehbar im Offenen die gemeinsamen Angelegenheiten verhandeln wollen, und jenen, die mit Blendwerken unhinterfragter Zauberspektakel von ihren hinter den Kulissen ablaufenden Klüngeleien abzulenken gedenken. Gesellschaften funktionieren nur, wenn es gelingt, die Unruhe des diskursiven Verhandelns und die Stabilität von ›Basta!‹-Tabus ins Gleichgewicht zu bringen; und dazu braucht es Individuen die sowohl ihre objektive als auch ihre subjektive Phantasie anhand von Geschichten schärfen können, sodass es möglichst vielen gelingt, zusammen eine große Geschichte miteinander zu fabulieren. Das bedeutet nichts weniger, als eine hinter vorgehaltener Hand geteilte Erkenntnis der Alten zum Allgemeingut zu erheben: dass Phantastik nicht zuletzt das Prinzip der Politik ist.
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ANMERKUNGEN:
simifilm
Da hast Du ja mal wieder in einem schönen Rundumschlag alles gegeben. Ich möchte auch gar nicht allzu viel sagen, denn die meisten Dinge haben wir ja schon in der Vergangenheit zur Genüge diskutiert. Nur die folgende polemische Feststellung sei mir erlaubt: Eigentlich bist Du ja der grösste Fan von Todorov und Co. Wenn es ihn nicht und die diversen anderen – angeblichen – "Kreise der so genannten ernsten, hohen, relevanten Literatur" nicht geben würde, hättest Du ja gar nichts mehr, gegen das Du anrennen könntest. ;)
molosovsky Besitzerin
Du hast es haargenau erfasst, Du kleiner Provokateur Du.
molosovsky Besitzerin
Ralph vom Fantasyguide-Blog spießt ein Zitat aus »Das Abenteuer Phantastik« auf, hauptsächlich um sich zu beklagen, wie ›ätzend‹ es ist, aus meinem schwurbeligen Formulierungen einen klare Sinn zu lesen. Das macht Ralph aber mit so sympathischer und mir wohlgesonnener Art, dass ich mich geradezu schäme, ihm mit meiner Schreibe solche Mühe bereitet zu haben. Danke für das nett verpackte (kritische) Kompliment Ralph.
Fast noch mehr freut mich, was für einen Spaß Oliver und lapsimont dann in den Kommentaren haben, wenn sie die von Ralph angeführte Passage aufdröseln.
molosovsky Besitzerin
Ganz schön überrascht war ich, als vor einigen Wochen Michael Haitel bei mir anfrug, ob er meinen Essay für das kommende »AndroXine« (einem Magazin des Science Fiction Club Deutschland) nachrucken dürfe. Es freut mich natürlich, dass auf diese Weise mein Text einem weiterem Leserzirkel nahegebracht wird, beim dem (SF-Fans die sie sind) der Essay (vielleicht, hoffentlich) auf ein gewisses Interesse stossen könnte.
Hier kann man »AndroXine« No. 3 runterladen.
molosovsky Besitzerin
Birnbaum & Hollastaudn! Da google ich mal (eitel eitel, ich weiß), um zu gucken, ob’s neue Re-Aktionen zu »Das Abenteuer Phantastik« im Netzel gibt, und was entdecke ich: irgendwer bei der »Perry Rhodan Online Community« fand den Essay hinreichend mitteilungswürdig, um ihn die aktuelle Nummer 119 von »Terracom« aufzunehmen. — Enorm enorm, denn ich bin ja bekannt für meine ätzende Haltung gegenüber der Rhodan-Serie (hab halt nie reingefunden und ›räche‹ mich mit affektierten Ablehnungsspott).
Wie auch immer mein Text in das Magazin gefunden hat, ich danke für die Verbreitung und das damit signalisierte Interesse.
Nur eine kleine, ganz und gar nicht vergrätzt gemeinte Anmerkung sei mir erlaubt: Bescheid bekommen hätte ich schon gerne :-)
valgard
Hallo Molo
Sorry, das nächste mal gibts bestimmt Bescheid!
Das Terracom steht ja nicht mehr nur für PR sondern versucht auch anderen phantastischen Themen gerecht zu werden.
Und obwohl ich auch immer noch PR lese, und schon immer auch andere phantastische Literatur nebenher oder mehr, gehe ich doch auch nicht immer konform mit der dortigen Handlung oder Entwicklung.
valgard
simifilm
Habe nur gerade gesehen, dass dem Sloterdijk in Fussnote 8 ein d abhanden gekommen ist.
molosovsky Besitzerin
Danke!