molochronik
Mittwoch, 3. November 2004

Popliteratur und Blogs

(Gesellschaft, Literatur) – Wiedermal wird die Frage verhandelt: Sind Blogs die Nachfolger der Popliteratur? (bei DonDahlmann, und bei Lotman mit großartigem Comment von Andrea.) …… ich denke, die Antwort darf allgemein ruhig erstmal »Nein« lauten. Immerhin werden – im Gegensatz zu Popliteraturbüchern – wirklich sehr viele Bogs von Leuten geführt, die NICHT aus Familien der oberen Mittelschicht oder Oberschicht stammen (Mama und/oder Papa sind: Provinzredakteure, Parteigründer, Adelige, Fabrikanten … es ist wirklich erstaunlich, wie wenige Abkömmlinge des Proletariats oder der unteren, mittleren Mittelschicht sich auf dem Feld der deutschen Poplitertur finden).

Sozialneid beiseite.

Die Frage ist ein Problem der Genre-Zuteilung. Dinge in Schubladen (Genre) zu ordnen ist eine formale Angelegenheit und der liebe (wenn auch schwerdepressive) Kurt Gödel hat uns darauf aufmerksam gemacht, daß alle formalen Systeme Sätze zeitigen können, die nicht entscheidbar sind. Die Frage »Sind Blogs Popliteratur?« objektiv beantworten zu wollen zeugt (aus meiner Sicht) von Zagheit und Naivität, denn mit »Ja« ließe sich diese Frage nur beantworten, wenn man mit dem Hammer sowohl DIE Popliteratur als auch DIE Blogs zurechtdengelt.

Zur Erinnerung: Der Begriff (Web-)Blog bezeichnet erstmal auf technischer Ebene eine Schreib- & Veröffentlichungsform … so wie die Begriffe Holzstich, Collage und Readymade in der bildenden Kunst zuvörderst das Augenmerk auf Material und Verarbeitungsverfahren bei Graphiken richtet. Solange also beispielsweise der akademische Dschungel Theologie, Philosophie und Literatur (alles fiktive Dichtungen) in getrennten Wannen badet, ist es Heuchelei, beetete man mit großer Toleranzgeste Blogs im Ziergarten der Literatur ein.

Bei Klosprüchen und Grafitties kann ich verstehen, wenn die schon mal als neuzeitliche literarische Kleinstformen angesehen werden. Bei vielen Blogs allerdings bin ich mißtrauisch und spreche ihnen jedwede Literarizität ab, wenn sie eben nichts bis kaum erzählen, sondern ehr als Link-Baum woandershin dienen … wobei die Links kurz kommentiert werden, so mit einem Satz. Beispiel:

»Selten so geweint« und dazu ein Link zum US-Wahlergebnis.

Und gerne wird ja auch verbreitet, daß z.B. mit der Kommentarfunktion ratzfatz interaktive Literatur entsteht … nun aber habe ich bisher noch kaum erlebt, daß auch Internet-Chats als Literatur bezeichnen würden … und den Begriff Literatur noch weiter ausdehnend, ließen sich ja gleich Telefonsex-Ansagen als Literatur – im Sinne von Hörspiel – neben beispielsweise Bölls und ASchmidts Radioarbeiten einreihen.

Abgrenzungsfragen also. Das Problem ist, daß es neben diesen unliterarischen Aspekten des Internetschreibens auch eben solche Blogs gibt, deren Betreiber erzählen und berichten (wollen), die ihren eigenen Stil haben (oder suchen) und die sich durchaus als Literatur, Journalismus und Alternative zu Feuillitontexten lesen lassen. So gesehen: Ein Blog ist eine für jeden Internetbenutzer verfügbare Form der früher nur wenigen zugänglichen Veröffentlichungsnische einer Glosse oder Kolumne. Wenn man die Möglichkeit zur Selbstentfaltung ökonomisch betrachtet, dann kommt nun zum knappen Publikationsprivileg in gedruckten und gesendeten Massenmedien nun die pluralistische, leicht zugängliche Internetplattform der Bolgs über uns … was einiges durcheinander bringt.

Nun, dies ist eine Zeit des Wandels, in der wir leben.

••• Nachtrag: Inzwischen hat lotman auf den Comment von Andrea geantwortet. Es lohnt sich am Ball zu bleiben.

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