Popliteratur und Blogs
(Gesellschaft, Literatur) – Wiedermal wird die Frage verhandelt: Sind Blogs die Nachfolger der Popliteratur? (bei DonDahlmann, und bei Lotman mit großartigem Comment von Andrea.) …… ich denke, die Antwort darf allgemein ruhig erstmal »Nein« lauten. Immerhin werden – im Gegensatz zu Popliteraturbüchern – wirklich sehr viele Bogs von Leuten geführt, die NICHT aus Familien der oberen Mittelschicht oder Oberschicht stammen (Mama und/oder Papa sind: Provinzredakteure, Parteigründer, Adelige, Fabrikanten … es ist wirklich erstaunlich, wie wenige Abkömmlinge des Proletariats oder der unteren, mittleren Mittelschicht sich auf dem Feld der deutschen Poplitertur finden).
Sozialneid beiseite.
Die Frage ist ein Problem der Genre-Zuteilung. Dinge in Schubladen (Genre) zu ordnen ist eine formale Angelegenheit und der liebe (wenn auch schwerdepressive) Kurt Gödel hat uns darauf aufmerksam gemacht, daß alle formalen Systeme Sätze zeitigen können, die nicht entscheidbar sind. Die Frage »Sind Blogs Popliteratur?« objektiv beantworten zu wollen zeugt (aus meiner Sicht) von Zagheit und Naivität, denn mit »Ja« ließe sich diese Frage nur beantworten, wenn man mit dem Hammer sowohl DIE Popliteratur als auch DIE Blogs zurechtdengelt.
Zur Erinnerung: Der Begriff (Web-)Blog bezeichnet erstmal auf technischer Ebene eine Schreib- & Veröffentlichungsform … so wie die Begriffe Holzstich, Collage und Readymade in der bildenden Kunst zuvörderst das Augenmerk auf Material und Verarbeitungsverfahren bei Graphiken richtet. Solange also beispielsweise der akademische Dschungel Theologie, Philosophie und Literatur (alles fiktive Dichtungen) in getrennten Wannen badet, ist es Heuchelei, beetete man mit großer Toleranzgeste Blogs im Ziergarten der Literatur ein.
Bei Klosprüchen und Grafitties kann ich verstehen, wenn die schon mal als neuzeitliche literarische Kleinstformen angesehen werden. Bei vielen Blogs allerdings bin ich mißtrauisch und spreche ihnen jedwede Literarizität ab, wenn sie eben nichts bis kaum erzählen, sondern ehr als Link-Baum woandershin dienen … wobei die Links kurz kommentiert werden, so mit einem Satz. Beispiel:
Und gerne wird ja auch verbreitet, daß z.B. mit der Kommentarfunktion ratzfatz interaktive Literatur entsteht … nun aber habe ich bisher noch kaum erlebt, daß auch Internet-Chats als Literatur bezeichnen würden … und den Begriff Literatur noch weiter ausdehnend, ließen sich ja gleich Telefonsex-Ansagen als Literatur – im Sinne von Hörspiel – neben beispielsweise Bölls und ASchmidts Radioarbeiten einreihen.
Abgrenzungsfragen also. Das Problem ist, daß es neben diesen unliterarischen Aspekten des Internetschreibens auch eben solche Blogs gibt, deren Betreiber erzählen und berichten (wollen), die ihren eigenen Stil haben (oder suchen) und die sich durchaus als Literatur, Journalismus und Alternative zu Feuillitontexten lesen lassen. So gesehen: Ein Blog ist eine für jeden Internetbenutzer verfügbare Form der früher nur wenigen zugänglichen Veröffentlichungsnische einer Glosse oder Kolumne. Wenn man die Möglichkeit zur Selbstentfaltung ökonomisch betrachtet, dann kommt nun zum knappen Publikationsprivileg in gedruckten und gesendeten Massenmedien nun die pluralistische, leicht zugängliche Internetplattform der Bolgs über uns … was einiges durcheinander bringt.
Nun, dies ist eine Zeit des Wandels, in der wir leben.
••• Nachtrag: Inzwischen hat lotman auf den Comment von Andrea geantwortet. Es lohnt sich am Ball zu bleiben.
david ramirer
ich denke, dass weblogs einfach ein weiterer schritt zum "globalen dorf" sind, weil sich ja in der blog szene auch kleine dorfstrukturen dauernd bilden. innerhalb von antville, teilweise zwischen antville und 2day, es ist nämlich zu beobachten, dass die views sich meist um eine recht übersichtliche zahl von menschen scharen und sich eher zäh verändern, fast wie dorf/stadtstrukturen.
am anfang war die gutenbergbibel, und blogs sind sicher noch nicht das ende der "weltumspannenden verfügbarkeit von gedruckten zeichen"...
molosovsky Besitzerin
Hallo David. Ich teile Deine Ansicht, daß Blogs und das Internet die Verdorfung des Globus vorantreiben. Das schöne an diesem jungen Informationszeitalter ist ja (wie in allen merkurischen Phasen der Geschichte), daß sich herrliche Hermeneutik betreiben läßt, denn noch schwirren mehr Weltbilder durch den Raum, als nach der Zeitenwende übrig bleiben werden. Positiv und optimistisch kann man sich durchaus zu so mancher humanistischer Utopie hinreißen lassen.
Ein Blog führen. Eine Wohnung für seine virtuelle WWW-Persona haben. Das macht alle Auseinandersetzung um Blogs auch so heikel. Gegenüber solchen unpersönlichen Identitäten des Internets wie SpiegelOnline oder Bild-Blog läßt sich einfacher geschmächlerisch sein … mit unserer Sympathie oder Abneigung für ein (Ein Personen-)Blog aber geben wir ein Urteil zu einem Menschen ab. Umgekehrt macht das für den Blogger die Welt prikärer … die ganzen Selbstdarstellungs- und Umsichtprobleme eben.
Das mit den zähen Strukturen kann sich übrigens ratzfatz ändern, wenn ein eigener Blogbeitrag (aus welchen Gründen auch immer) zu einem Hammerbeitrag erkoren wird … sprich: auf einer vielbesuchten Seite verlinkt wurde, wohlgesonnen besprochen wurde. Nun gut, uns beiden ist wohl noch kein Hammerbeitrag gelungen, der binnen weniger Tage die 1000-Besucher-Schwelle erreicht. Aber legen wir es darauf an? … ich kann für mich mit »Nein« antworten, obwohl ich besser werden will … z.B. besser im Zusammenhang mit Themen wie Phantastik.
Und zu dem Blog und Popliteratur-Ding noch: Mit dem Begriff Popliteratur kann ich ja vergleichsweise wenig anfangen. Popliteratur war vor einigen Jahren der Versuch, einer neuen Generation von Autoren ein buntes Schildchen anzuheften, und einige beanspruchten den Begriff auch freiwillig für ihre Sachen. Am ehesten kann ich mit dem Begriff was anfangen, wenn ich darunter die Versuch verstehe, den modernen Menschen der Globalität zu schildern, mittels Schreibformen (Subkultur!) die bisweilen abseits der traditionellen liegen.
david ramirer
für mich in dem beitrag eine andere interessante frage auf:
ich meine: selbst der thomas bernhard ist nicht selbst seine figuren, vielmehr war er ja zwar in manchen punkten ähnlich, in anderen sehr fremd.
für die literatur an sich ist das bloggen also nur eine form der verbreitung, denk ich mal.
aber für diejenigen, die ihre tagebücher online stellen, da ist der gipfel des problempotentiales (ich sage nur einmal "negative verdörflerung") noch nicht einmal angekratzt. denn die anonymitäten sind ja irgendwie fragil, wenn man "so viel" über wen weiss - vor allem dann, wenn es sich über ein ganzes netz von anderen menschen potenziert...
molosovsky Besitzerin
… mögen abwinken, daß die ganze virtualität- avatar- persönlichkeits-problemartik schon x mal durchgekaut wurde – aber David, Du schweifst sehr interessant durch das problemfeld und ich versuch mal meine ordnung anzubieten.
Vorsicht: Laaange re-aktion… dank Davids feiner vorlage.
• den ganzen ich, es überich-quatsch der psychologischen steinzeit find ich zu unpraktisch grob … allein schon, weil sie sich klassisch zu sehr auf die sexuelle übertragung und zu wenig auf die macht-übertragung des einzelnen auf seine umwelt konzentriert. Auf der unkultivierteren ersten stufe verfügt der mensch über eine mehr oder weniger reiche varianz von resonanz-harmonien (und rhythmen), die sowohl von der außenwelt (anderen menschen, wesen, situationen, dinge usw) oder eigenmotiviert (wille, wunsch, trieb, instinkt, inspiration, dæmon, genius) angeregt werden. Freilich gibt es konventionelle und unkonventionelle bewußtseins-, gefühl und intellektharmonien … in der medienwelt heutzutage beispielsweise die unsichtbare kamera, durch die man sich selbst ständig beobachtet sieht … nannte sich früher gewissen ––– und schon Baltasar Graçian schrieb im 17. Jhd. in seinem Handorakel:
• persona bezeichnete ursprünglich die masken der griechischen schauspieler. Die maske wäre dann sozusagen eine formatierte zweite stufe des menschen: eine bewußt (¿künstlerisch?) gestaltete identität, oder besser noch ein ensemble vieler solcher masken/personaes, je nach anlass, gelegenheit und zweck. Wobei es einen gewaltigen unterschied darstellt, ob man sich dieses ensemble an masken konzentrisch um einen festen, starren persönlichkeitskern arrangiert vorstellt, oder sie als heterarichisch, pluralistisch und in bewegung befindlich begreift. – Da faulheit, feigheit und der innere schweinehund ein ausreichend träges moment und sich damit als zentrum der orientierung im selbst-inneren anbieten, gehöre ich der zweiten fraktion an.
Wovon Du nun schreibst, ist das muntere und zuweilen garstige durcheinander an unterschiedlichen masken für die außenwelt. An Thomas Bernhard illustriert Du ja anschaulich, daß es zum handwerkszeug zumindest der erzählenden künstler gehört, nicht so starr an einer maske zu hängen. Hineinversetzten in andere bedeutet nichts weniger, als sich weiterhin im persönlichkeits-kneten zu üben. (Nur in einer starren gesellschaftsordnung kann es als sinnvoll erscheinen, wenn die subjekte eine einmal auskristalisierte form=persönlichkeit beibehalten sollen.) Zoomen wir näher hinein in dieses dunkle innen-theater, dann läßt sich der prozess des romanschreibens beobachten, als ständige probe eines darstellerensembles (eventuell mit dramatischen chor, orchester, beiseit sprechenden erzähler) und eines vom leeren auditorium aus leitenden regiesseurs und seines im hintergrund wuselnden technischen stabs. Wo im dunklen innen-theater die kulissenschieber, da in der echten welt des autoren die recherche. ––– So spielerisch läßt sich der von Dir skizzierte dualismus ich<>buch nochmal auffächern.
Auf Blogs bezogen: Du betonst die spannungen zwischen anonymität und intimität und ich finde es anregend, dieser die spannung zwischen routine und originalität gegenüberzustellen. Den von Dir genannten gipfel des problempotentials (also das höchstgelegener provinzkaff, von dem sich als blog-pesönlichkeit abstürzten läßt) verstehe ich so: die kritischen stellen oder turbulenzen im eigenen netz (oder schaum, wie Peter Sloterdijk anregt) der zwischenmenschlichen kontakte und beziehungen. Sehr verständlich also, warum viele blogger beim etablieren ihrer blog- (und/oder internet-)persönlichkeit a) mit anonymität schützen, und b) danach streben, funktionierende routinen für ihr blog-etablisment zu etablieren. ••• (Dreimal etablier in einem satz … das ist so schlechter stil, daß ich es stehen lassen muß.) ••• Die große herausforderung für jede person, die sich aktiv mit meinung (und bild, sound ect pp) im netz verbreitet ist ja, immun zu bleiben … sich einerseits die eigene freude z.B. am bloggen zu bewahren, entfalten zu können – andererseits vor lästigen oder unangenehmen störungen und echos zu schützen.
Illustration: Es kann für einen nicht-anonymen blogger (oder forumshansel) keine normale oder umsichtige ambition sein, möglichst schnell als troll zu gelten. Jeder nicht-anonyme blogger tut also gut daran, darauf zu achten was trollige internetidentitäten so anstellen, um es selbst vermeiden zu lernen.
Wir beide nun haben den steinigeren weg der offenen identität gewählt … gut, bei mir muß man auf Impressum klicken, um zu erfahren, wer ich bin … zudem ist für mich allein dieses »erstmal erscheine ich im netz als molosovsky« eine kleine schützende distanzhaut. Was für ein zeichen, welche haltung signalisieren wir damit? – Zuerstmal wohl aufrichtigkeit, oder die vielbeschworene authentizität (postiv gesehen) bzw. aufgeblasenheit, arroganz, wichtigtuerei (negativ gesehen). ––– Für mich eine knifflige kiste: wie lassen sich satirische, teuflische, dæmonische (aber auch: originelle, künstlerische, kritische, intimie, beichtende, großenwahnsinnige, freche, verletztliche usw) facetten eines bloggers zusammenbringen, in einen selbst-moderierten rahmen? Heikel für mich im detail: wie sich all die aufdrängeden redundanzen und eventuell notwendigen explikationen vermeiden lassen (siehe meine – mittlerweile verworfene – überlegung zwecks einer Nur'n Späßle-formatierung).
Soviel gedanken-geschlängel derweil.
P.S. @ David: Hab zitat in Deinem beitrag entsprechend formatiert.
londo
diese Frage schoß mir wie ein Neutrino durch den Kopf, als ich deinen Beitrag las. Mit etwas Nachdenken kam ich darauf, dass man den Vergleich auch so betreiben kann. Popliteratur ist ein bestimmtes Genre und definiert sich über den Inhalt (ohne jetzt eine präzise Definition geben zu können). Ein Weblog dagegen ist in allererster Linie ein technisches Werkzeug, um Texte zu publizieren. Insofern können Weblogs nicht die Nachfolger der Popliteratur sein, genausowenig wie ein Brötchen der Nachfolger einer Birne sein kann, nur weil beide (die Birne und das Brötchen) "zufällig" eßbar sind.
molosovsky Besitzerin
Du illustrierst – wie ich finde – mit deinen Birnen und Brötchen sehr schön.
Nun kann man ja den ganzen Schwurbel damit auflösen, daß man die Frage »Sind Blogs die Nachfolger der Popliteratur?« ganz einfach so beantwortet:
Nein, DIE Blogs nicht, … ABER es mag in der Menge aller Blogs sehr wohl eine Teilmenge an Blogs geben, deren Betreiber für sich beanspruchen den Pfaden der Popliteratur zu folgen (oder folgen zu wollen), oder denen dies von Dritten attestiert wird.
So einfach.
Nett übrigens der Schluß aus »Popliteratur« von Thomas Ernst (Rotbuch, 2001), unter der Überschrift »Ausblick – Zukunft der Popliteratur« (S. 91):
molosovsky Besitzerin
Ungemein aufschlußreich zu lesen ein weiterer Thread zum Thema bei elfengleich. Wir erinnern uns: Stein des Anstoßes ist unter anderem das feine Buch »Blogs!« aus dem Verlag Schwarzkopf&Schwarzkopf.
Hella
Über das Fehlen von Autoren aus der sog. Mittel- und Unterschicht habe ich hier etwas geschrieben.
molosovsky Besitzerin
Netz des Einflusses … Hier ein Überblick über Bloggerei als Journalismus vom Volk fürs Volk, oder so. Daniel W. Drezner & Henry Farrell für ForeignPolicy.com.
corinthas
Nach dem lesen von deinem eintrag über Popliteratur und Blogs, musste ich auch meine Gedanken darüber äussern.
Ich hatte das Bloggen immer mit dem füheren von einem Tagebuch (Journal) verglichen. Der einzige unterschied ist das Zielpublikum: bei einem tradizionellem Tagebuch scheibt man (meistens) sich selbst zu, aber beim Blog schreiben geht man davon aus dass das Geschrift in der Öffentlichkeit zu Lesen ist. Desshalb der vergleich zu Journalismus, den auch hier geht es darum ein Geschehen oder Ereigniss schiftlich einem lesenden Publik zu übermitteln. Zugegeben im Journalismus sollte man unparteiisch bleiben im gegensatz zum Blog wo man ja ganz schön subektiv bleiben darf, aber gerade darum werden Blogs so viel gelesen: neben den harten Fakten findet man jetzt hoffentlich eine gut formulierte Meinung.
Errr... erst jetzt sehe ich den "web of influence" eintrag. Tja was ich schon sagte... Bloggen als Journalismus {/
david ramirer
"im Journalismus sollte man unparteiisch bleiben im gegensatz zum Blog"...
ein unparteiischer journalist: ist das nicht irgendwie nur wunschdenken? na gut: "sollte" - das schon :-)