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Lawrence Norfolk: »Ein Nashorn für den Papst«, oder: Historischer Roman als abenteuerliche Herausforderung

Es hat ›nur‹ 16 Jahre gedauert diesen verschlungenen zweiten Roman von Norfolk fertig zu lesen. Ich habe ihn damals, 1996 als er auf Deutsch erschienen ist, gekauft und im Laufe der Jahre mehrmals angefangen, bin aber stets irgendwo am Ende des ersten Viertels versackt.

Weil: Kein leicht zu lesendes Buch, vor allem nicht zu Beginn. Man muss sich daran gewöhnen, dass Norfolk in Kreuzstich-Manier zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her springt. Auch die überbordende Figuren-Anzahl macht die Sache nicht leichter, vor allem, da oftmals nicht gleich klar ist, wer gerade die im Zentrum stehende Person ist, oder über wen berichtet, oder wer von wem beobachtet, belauscht wird. Genauer: Norfolk ist nah an seinen Figuren dran, so dass man manchmal einige Zeilen & Absätze nicht so recht wei0, wo und wann etwas stattfindet, ob geträumt, halluziniert oder erinnert wird.

Nun aber habe ich die englische Originalausgabe rasch verschlungen, direkt im Anschluss auf Norfolks neuestem, vierten Roman »John Saturnall’s Feast« (»Das Festmahl des John Saturnall«, Deutsch von Melanie Walz, im November bei Albrecht Knaus Verlag) der mir ebenfalls sehr gut gefallen hat.

Die Handlung von »The Pope’s Rhinoceros« (»Ein Nashorn für den Papst«) verzweigt sich in vielerlei Gefilde, aber im Zentrum steht der Streit zwischen Spaniern und Portugiesen um die Aufteilung der neuen Welt, und zu wessen Vorteil sich der spaßhungrige Papst Leo X. (= Giovanni di Medici) entscheiden wird. Die Gunst des Papstes soll für sich verbuchen können, wer ihm zuerst ein Nashorn beschaffen kann (ganz Plinius’ Naturgeschichte folgend, wonach das Nashorn der natürliche Feind des Elefanten ist, und einen Elefanten hat der Past schon in seinem Vatikanischem Zoo.) — Erstaunlich, wie viel von diesem Aberwitz tatsächlich geschichtlich verbürgt ist.

Eigentliche Hauptfigur ist jedoch der Heide und Söldner Salvestro, Sohn einer der letzten Überlebenden der von der Nordsee verschlungenen Stadt Vinetta. Im ersten von sieben Teilen geht es um ihn und seinen Söldner-Gefährten Bernardo, die auf Usedom nach den Schätzen der versunkenen Stadt tauchen wollen, von abergläubischen Einheimischen bedrängt und schließlich von Mönchen eines Klosters, das teilweise von den bröckelnden Klippen ins Meer gestürzt ist aufgenommen werden. — Im zweiten und längsten Teil stehen die Ränke im Vatikan im Zentrum. Zudem sind die Mönche von Usedom angekommen. Geleitet von Salvestro und Bernanrdo hatten sie sich aufgemacht haben, den Papst zu bitten, beim Wiederaufbau ihres Klosters zu helfen. Und Spanier und Portugiesen bereiten ihren Schiffsexpeditionen vor. — Der dritte Teil behandelt die Fahrt eines Schiffes der Portugiesen von Goa nach Europa mit Nashorn als Fracht. Ein Zwischenspiel mit neuen Figuren. — Der vierte Teil widmet sich der Fahrt des spanischen Schiffes, mit Salvestro und Bernardo an Bord, angeheuert, ein Nashorn aus Afrika zu beschaffen. Mit an Bord ist der Soldat Don Diego und eine afrikanische Prinzessin, die es einst nach Rom verschlagen hat, wo sie die Dienerin der Liebhaberin des spanischen Botschafters war. — Der fünfte Teil spielt im Königreich der Nri (heutiges Nigeria). Während die einheimischen Stämme ein großes Palaver dazu abhalten, wie man auf die immer zahlreicheren weißen Eindringlinge reagieren soll, irren Salvestro und Co durch den Dschungel. — Im sechsten Teil kehrt Salvestro mit einem Nashorn nach Rom zurück. Großes Finale mit für den Papst und sein Gefolge arrangiertem Kampf zwischen Elefant und Nashorn. — Der sehr kurze siebte Teil dient als Epilog: einer der Usedom-Mönche schildert die Rückkehr in den Norden, und was aus Salvestro geworden ist.

Über das Buch verteilt gibt es einen in der Vergangenheit spielenden Handlungsstrang zu der Belagerung und Plünderung der Stadt Prato durch Truppen unter der Führung von Giovanni di Medici (als der noch nicht Papst war) sowie der Ermordung der dort ansässigen Adelsfamilie Tebaldo. Hier sind sich Salvestro, Bernardo, Diego und andere Figuren bereits begegnet und haben Schreckliches erlebt oder vollbracht.

Einige Merkmale machen den Roman zu einer die anfänglichen Hürden enlohnenden Lektüre:

  1. Schöne, fast malerische Beschreibungen von Natur, Stadt-Gewimmel, Gebäude-Eigenheiten, großen geschichtlichen Zeiträumen. So beginnt der erste Teil des Romans, »Vinetta«, mit einer langen Sequenz über das Baltische Meer … buchstäbliche eine geologische Erzählung. Und der zweite Teil, »Roma«, hebt an mit einem viele Seiten beanspruchenden Sonnenaufgang über der Stadt, wobei das Grundthema lautet: das Licht ist das Antlitz Gottes.
  2. Grillige Abschweifungen, ungewöhnliche Perspektiven. Da wird ein Tauch-Fass schon mal aus Sicht eines Hering-Schwarms oder seitenlang der Kampf verschiedener Rattenkolonien der Stadt Rom beschrieben.
  3. Knackige Sex-Szenen, unerschrockene Schilderungen von Kriegsgreul. Sehr vielfältiges Dialog-Register, von derb über förmlich, losem Daherreden bis hin takierenden Sticherln, ect.
  4. Kuriose Typen ohne Ende. Und auch: Namen über Namen. Norfolk ist sehr gut darin, Tiefe zu beschwören, indem er irre viele Namen anführt. Man kann sich dann die urigen Typen dazu selbst ausmalen.
  5. Immer wieder mal, aber nicht gerade selten, Situationskomik oder Seltsamkeiten die sich bis zum Aberwitz steigern kann. Zwergenwerfen! Ein Blinder, die nicht merkt, dass er seine Historie mit eingetrockneter Tinte auf dem Papier ›schreibt‹.
  6. Kurzweilige Schilderungen komplexer Sachverhalte. Wie Geldwechsler in Rom arbeiten, wie Schiffs-Segel verarbeitet werden, wie Papst-Audienzen ablaufen, wie man im Dschungel Bronze-Figuren gießt.

Nun, endlich fertig, bin ich sehr zufrieden mit dem Buch, das mich — wie es sich für einen historischen Roman, der weit ausholt gehört — mit einer staunenden Melancholie und amüsiertem Respekt zurücklässt. Den fünften Stern (siehe mein Eintrag bei Goodreads) halte ich zurück, weil das Buch zu lange braucht, bis man sich zurecht- und wohl findet mit seinem Fluss … eben einen Tacken zu umständlich strukturiert ist. Dennoch absolut empfehlenswert für alle, die gerne etwas schwitzen, um reichlich beschenkt zu werden.

Hier geht es zur Website von Lawrence Norfolk (der mittlerweile auch unter die Blogger gegangen ist)

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Lawrence Norfolk: »The Pope’s Rhinoceros«, englische Erstveröffentlichung 1996; Taschenbuchausgabe bei Vintage/Minerva; 753 Seiten; ISBN: 0749398744. Aktuell auch als eBook erhältlich.

Deutsch derzeit nur antiquarisch: »Ein Nashorn für den Papst«, gebundene Ausgabe bei Albrecht Knaus; Übersetzung von Gisbert Haefs, Hanswilhelm Haefs, Gerald Jung und Gisela Stege; 815 Seiten; ISBN: 3813519201. Deutsche Taschenbuchausgabe bei btb, 1998; ISBN: 3442724066.

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