molochronik

Tad Williams: »Der Blumenkrieg« – oder: Seine Hemden sind bunter als seine Phantastik

Eintrag No. 140

HINWEIS: Folgend die Fassung, wie sie sich in »Magira 2005 – Jahrbuch zur Fantasy« findet. Dank des Lektorats der Herausgeber Michael Scheuch und Hermann Ritter zur Abwechslung sozusagen ein Molochronik de luxe-Beitrag.

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Kraft und Entwicklung eines Genres pulsieren in der Spannung, die zwischen dem stabilen Zenit der Vertrautheit, Wiedererkennbarkeit und Routine mit bestimmten Zeichen und Inhalten einerseits, und dem fluktuierenden Nadir der innovativen Originalität, Neuartigkeit und Regelübertretung beim Umgang mit der genre-eigenen Zeichen- und Inhaltsgrammatik andererseits herrscht. Je nach Verlauf der individuellen Lektürebiographie im Genre-Raum erfreut man sich angenehmer Überraschungen und unvorhergesehener Genüsse, aber erleidet auch Enttäuschungen und entwickelt Abneigungen.

Das Fantasy-Genre existiert wohl einer konzentriertenm Hoffnung auf eine ganz besondere Leseerfahrung wegen, die über das gewöhnliche Verlangen nach einer spannenden Geschichte oder anrührenden Romanze hinausgeht: In eine gänzlich andere Welt einzutauchen und mithilfe der eigenen Vorstellungskraft mitzugestalten, oder wenigstens Reflektionen unserer Welt in seltsamen Zerrspiegeln aus Historie und Magie betrachten zu können.


Erste Begegnungen

Tad WilliamsFrüh schon begegnete ich als Teen Tad Williams »Traumfänger und Goldpfote« (Tailcatcher's Song), den ich auf Deutsch gelesen habe. Für mich damals eine erfreuliche Abwechslung von meinen ausführlichen Wanderungen im Land der harten Männerhelden, wo ich mich mit Hawkmoon, Conan, dem Grauen Mausling und ähnlichen Burschen herumgetrieben habe. Diesen Katzen-Fantasy-Roman empfehle ich heute noch gerne. Eine gute Dekade später robbte ich mich als Twen vier Jahre lang durch »Der Drachenbeinthron« (Memory, Sorrow, and Thorn). Es war schrecklich. Was für eine sich zum Leser kuscheln wollende elephantitische Herzschmerzwalkerei! Was für ein offensichtliches Recycling des Bildbestands und der zivilisatorischen Attribute bekannter historischer Kulturen. Unter anderem fand ich nur spärlich verkleidete Wikinger, Indianer, Japaner, Afrikaner, komplett mit Merlin, Vatikan und Cameron-Aliens-Monstern. Selten schaffte ich mehr als 200 Seiten am Stück, und »Der Drachenbeinthron« umfaßt dreitausendsechshundertsechszehn Seiten. Von dem noch voluminöseren SF-Epos »Otherland« habe ich die ersten beiden der vier Bücher lediglich überflogen, und sodann schnell und endgültig beiseite gelegt.

Genauer: 960 + 880 + 880 + 896 Seiten gemäß der deutschen Ausgabe bei Fischer-Taschenbuch.


Und doch…

Kurz gesagt, die Phantastik-Prosa von Tad Williams ist mir mittlerweile herzlich unsympathisch. — Jedoch! Irgendwelche obskuren masochistischen Impulse haben mich jetzt doch wieder bei »The War of the Flowers« zugreifen lassen. Vielleicht, weil Williams diesmal so gnädig war, NUR einen in sich abgeschlossenen 800-Seiten-Roman vorzulegen. Zudem hatte ich die sexy Gelegenheit, die englische Taschenbuchausgabe für 4,– € aus dem Ramsch mitnehmen zu können und keine drei Lappen für die (zugegeben) wunderschöne Klett-Cotta-Ausgabe hinlegen zu müssen.

Bevor ich aber loslege, ein Skalpell anzusetzen und mein Gift auf »Der Blumenkrieg« triefen zu lassen, möchte ich versuchen, ein paar begrüßenswerte Merkmale und Eigenschaften des Romans anzuführen, die jenseits von feineren Geschmacksfragen für die meisten Leser wohl erkennbar sind. Die achthundert Seiten dicke Geschichte liest sich flott weg, schnell war ich in einer Arbeitswoche nebenbei damit durch. Stil und Rhythmus werden dabei seltenst zu simpel. Die Dialoge sind elegant und lebendig. Williams weiß, wie man die Leser bei Fuß hält.

Das Buch liefert darüber hinaus auch einige wirklich mitteilenswerte und beherzigenswerte Gedanken und Ideen, nämlich: Daß Rassismus, Angst vor Fremden oder Klassenarroganz böse sind; daß Reden und Handeln sich nicht (allzu sehr) widersprechen sollten; daß die US-Amerikaner (und die Erste Welt) ruhig mal geduldiger die Aufmerksamkeit über den Tellerrand ihres simplen Schwarz/Weiß-Weltbildes richten können; daß auch für Hegemonialmächte gilt: »Niemals rechtfertigt der Zweck alle zur Wahl stehenden Mittel«. Viel Kritikerliteratur wird für empfindsam-intellektuelles Geklapper gelobt und bietet doch nicht halb so viel Fruchtfleisch wie dem Tad sein ›Genre-Trash‹.

Nun aber zu meinen wohligen Mißfällen. Wohlig deshalb, weil ich es durchaus genossen habe, so reichhaltig und exemplarisch Unarten der Genre-Fantasy in einem Roman versammelt zu finden. Zudem schöpfte ich ein perverses Lesevergnügen daraus, mich über die Vorhersehbareit und Leser-Händchenhalterei des Buches aufzuregen, denn die entscheidenden Enthüllungen der Geheimnisse des Plots hab ich alle lange nahen sehen. Dabei gelang es dem Buch aber nicht, mich anzufixen, diesen absehbaren Wendungen gespannt entgegenzufibbern.

Wie schon in »Der Drachenbeinthron« wälzt sich die Geschichte größtenteils zäh in kleinen Schritten und so mancher Redundanz dahin. Die meisten Zeilen gehen für Launenbeschreibung und den Gedankensalat des Protagonisten drauf. Hauptfigur Theo fühlt sich mal so, mal anders mies, ist auf diese oder jene Art verwirrt. Figuren, Requisiten und Handlung versuchen gar nicht erst, die Originalität von Kautschkartoffel-Bespaßung wie »Xena« und »Stargate« zu übertreffen. Immerhin: um US-amerikanische Schulhofleseratten — die sogenannte Playstation-Generation dieses Globus — zu begeistern, scheint mir das Vorgehen geeignet. Kopffernseh-Prosa, brav, nie wirklich frech oder einzigartig, sondern immer gewöhnlich, immer auf bereits aus den Massenmedien Vertrautes bauend. Subtil oder phantasievoll ist hier wenig. Die Exotik ist keine in unbekannte Reiche verführende, sondern eine Parade von Bekanntem zum Abnicken. Man darf ruhig mit einem geschlossenen Auge oder im Halbschlaf lesen, denn Onkel Tad raunt spätestens alle zwanzig bis fünfzig Seiten über die echt wichtigen Infos oder läßt sie von seinen Figuren rekapitulieren.

Ungeschickt ist schon, wie die ganze Präposition als Fremdkörper das Eröffnungssechstel verstellt. Zu Beginn der Geschichte befinden wir uns im zeitgenössischen San Francisco: Theo Vilmos hält sich für einen Loser. Er hat einen mickrigen Job bei einem Blumenlieferant und macht allzu exemplarisch die berüchtigte Sinn- und Gemütskrise der Frühdreissiger durch. Singen mag sein Talent sein, er hat aber nichts daraus gemacht. Die nur halb so alten Freunde seiner Boy-Band nerven ihn und sind von ihm genervt. Nach einer wiedermal fruchtlosen Studiosession spät heimkommend, gibts den ersten Schock für Theo: seine Freundin liegt nach einer Fehlgeburt im Bad.

Theos Welt bröckelt jetzt erstmal eine Weile. Krankenhausbesuch und Trauer um das verlorene Kind. Der nächste Schlag: die Freundin will allein neu beginnen und Theo soll sich eine eigene Bleibe suchen. Außerdem wird er seinen Job los und die Boys von der Band wollen ihn auch nicht mehr. Er boomerangt also zu Muttern, einer ernsten und schweigsamen Frau, die seit dem Tod von Theos Vater alleinlebt. Das leicht unangenehme, weil beklommene Zusammenwohnen der beiden bleibt aber auch nicht lange ohne Unglück. Mama hat Krebs und Theo wird zum Sterbebegleiter der Mutter, dann zum Manager ihres Erbes. Mit ein bischen Guthaben vom Hausverkauf auf der Kante, zieht sich Theo zum Sich-selbst-finden in eine Waldhütte im Umland zurück, vielleicht um Songs zu schreiben oder endlich mal »Moby Dick« zu lesen. Doch er schmökert in den Aufzeichnungen seines Großonkels Eamonn Dowd, die Teil des mütterlichen Nachlasses sind. Dowd war der Außenseiter der Familie, der nicht nur die weite Welt bereist und manch schöne Frau geliebt hat, sondern auch von dem wundersamen Land Elfien und der dortigen (einzigen) Metropole Neu-Erehwon erzählt.

Warum eigentlich nicht Neu-Owdnegrin? Zumindest für mich klänge das nicht zu (unangenehm) osteuropäisch. {Vielleicht ist das nur eine Anspielung auf EREWHON von Samuel Butler? – Die Magira Herausgeber.} Ja schon, aber warum wurde bei dem schon nicht mal Owdnegrin als Übertragung versucht?

In der Provinz treibt sich Theo in einem nahen Kaff herum, stöbert im Archiv nach Infos über den Großonkel und verguckt sich in die Bibliothekarin. Ein Komissar aus Frisco schaut aus Routine bei Theo vorbei, weil Folgebesitzer von Mutters Haus bestialisch zerschnetzelt aufgefunden wurden. Kurz darauf greift denn nun auch ein dämonisches Wesen Theo in seiner Waldhütte an. Doch die kleine Elfe Apfelgriebs — ein fliegendes Klischee mit irischem Akzent und roten Haaren, wie Julia Roberts in »Hook« in deftiger, upgedatet um einige Shakespeare-Zeilen — taucht auf, um Theo zu retten. Schuppdiwupp, flüchten beide durch ein kleines Portal nach Elfien.

Dieser ganze Schmonzes zieht sich über die ersten 135 (140 im Original) Seiten dahin, aufgelockert durch wenige kurze Kapitel aus der Elfen-Welt. Da wird von menschenhassenden Elfen der besagte Dämon losgeschickt; in einem Sanatorium der Elfen sitzt eine schöne Elfenfrau apathisch herum; es wird geflüstert vom vergangenem Krieg zwischen mächtigen Elfenhäusern, die eben nach Blumen benamst sind; und berichtet über einen Zwischenfall in einem Elfien-Kraftwerk.


Vergleichswaise

Folgende Aufzählung kann vielleicht dazu dienen, sich besser ausmalen, was für einen Ideal-Leser Tad Williams beim Schreiben vor seinem geistigen Auge hatte. Soweit ich das in freundliche Worten fassen kann, handelt es sich dabei um Leser, die wohl mehr an nervenberuhigender Entspannungs-Aufregung interessiert sind, denn an wahrhaftig herausfordernden neuen Ideen. Sich als Autor besonders solchen Lesern zu widmen will ich gar nicht als unehrenhaft verdammen, denn das ist für einen kreativen Geist ebenso eine Herausforderung, wie sogenannte anspruchsvolle Literatur schaffen zu wollen. Um die Freunde der Bücher von Tad Wiliams milde zu stimmen und der Anschaulichkeit halber, nun zuerst ein angenehmes Beispiel für einen gut untergebrachten Lieber Leser, stells Dir ungefähr so vor-Vergleich.

(Kapitel 1, Seite 29/23) • Theo steht seiner Freundin nach deren Fehlgeburt am Krankenbett bei. Die allgemeine Stimmung in Krankenhäusern wird dabei verglichen mit Gedichten von T. S. Eliot:

… gut ausgeleuchtete Wüsteneien, Orte leiser Gespräche, die nicht ganz verbergen konnten, daß sich hinter den Türen schreckliche Dinge abspielten.

Zu den Verweisen auf die zitierten Stellen: Die erste Ziffer der Seitenangabe bezieht sich auf die englische Taschenbuchausgabe von DAW (May 2004, 828 S.); die zweite Ziffer der Seitenangabe bezieht sich auf die von Hans-Ulrich Möhring (gut lesbar) übersetzte, gebundene Ausgabe mit Schutzumschlag bei Klett-Cotta (2004, 805 S.).

Als gelungen oder zumutbar empfinde ich solchartige Verweise eben, wenn sie mit etwas mehr Fruchtfleisch hingeschrieben wurden und der Geschichte eleganter dienen.

Achtzig Ideenlosigkeiten aus »Der Blumenkrieg« — Eine Autopsie —

Ideenlosigkeit No. 1 (Kap. 3, S. 61/54) • Was für Mukke hört Theo als Sterbebegleiter seiner Mutter? Die Smiths, wen sonst? Unangenehm naheliegender Griff ins Popmusikregal zur Veranschaulichung von Kummerstimmung.

2 (Kap. 5, S. 89/83) • Theo öffnet das Schließfach mit Eamonn Dowds Nachlass und

hätte sich nicht gewundert, wenn dem Ding eine Tutanchamuns Grab würdige Staubwolke entstiegen wäre.

3 & 4 (Kap. 7, S. 103/96) • Beim Lesen von Dowds Aufzeichnungen findet Theo einige Passagen zu blöd raunend und fragt sich, ob sein Großonkel durch

zuviel Lovecraft

beeinflußt wurde. Überhaupt: Ist Dowd ein richtiger Schriftsteller oder

ein Dilettant, der seine eigenen {…} Erinnerungen mit Sachen aufpeppte, die er aus den Weird Tales und ähnlichen Blättern gestohlen hatte?

5 (Kap. 9, S. 130/121) • Theo sieht ein seltsames Lichtphänomen in seiner Waldhüttenküche:

So was, wo die Piloten früher meinten, sie hätten ein UFO gesehen.

6 (Kap. 9, S. 135/125) • Theo beschreibt die Aufzeichnungen seines Onkels über New Erewhon und Elfien als

hoffnungslos unverkäufliche Mischung aus Fantasy ohne Abenteuer (wenigstens ohne richtige Abenteuer, wie die computerspielenden Drachenkämpfer sie suchten).

Die Originalpassage lautet jedoch:

(not real adventures anyway, the kind Dungeons-and-Dragon kids wanted)

grob überstezt also:

(jedenfalls nicht wie die richtigen Abenteuer, wie sie die Dungeon-and-Dragon-Kids mochten)

Bei Klett Cotta vertraute man wohl nicht darauf, daß D&D (oder überhaupt Rollenspiele) dem deutschen Leser irgendwas sagen. Erschreckende Zaghaftigkeit.

7 (Kap. 9, S. 144/134) • Für mich schon 'ne echte Stilblüte ist dann ein Vergleich für einen Adrenalin-Schub Theos beim ersten Äktschn-Höhepunkt, dem Angriff des Dämons in der Waldhütte, am Ende des ersten Teils:

Theo's heart felt as though it were about to explode out of the top of his head like a Polaris missle.

Selbst bei Klett-Cotta klingt das gesteltzt:

Theos Herz fühlte sich an, als wolle es im nächsten Augenblick wie eine Polarisrakete durch die Schädelplatte schießen.

8 & 9 (Kap. 10, S. 148/140) • Theos Ankunft in Elfien in einer befremdlichen Gegend. Hier gibt es seltsame optische Effekte, die mit öden Malerei- und Drogenerlebnisvergleichen veranschaulicht werden:

Eigentlich sah die Umgebung gar nicht ausgesprochen anders oder verkehrt aus, sondern bot einen ganz normalen Anblick mit einem gewissen romantischen, präraffaelitischen Einschlag: {…} Es erinnerte ihn an die Art, wie eine Dosis Psilocybin den Farben alltäglicher Gegenstände eine neonartige Grellheit verlieh.

10 & 11 (Kap. 10, S. 150/141 f.) • Auf der Flucht kommt Theo sein Abenteuer vor, als ob sich die

Gegend von einer Zauberlandschaft in den Alptraum eines strapaziösen Survial-Trecks durch eine Disneyfilmszenerie verwandelt hatte. {…} Er fühlte sich allmählich wie auf einem LSD-Trip.

12 (Kap. 10, S. 160/151) • Wieder ein Malereivergleich für eine Landschaft, die

satt wie der Hintergrund eines Maxfield-Parrish-Gemäldes

auf Theo wirkt.

13 (Kap. 12, S. 185/175) • Die Klamotte, die Theo bald in Elfien bekommt, nennt der Text einen

seidenen Ninjapyjama.

14 (Kap. 12, S. 187/177) • Beim Anblick der technischen Geräte im Arbeitsraum eines Elfen-Aristokraten

fühlte sich Theo in die Anfangstage der Computertechnik zurückversetzt, eine ihm nur von Fotos und Zeitschriftenartiklen bekannte Zeit, in der die Leute ihre PCs der ersten Generation in handgefertigte Holzkisten einmontierten.

15 (Kap. 12, S. 187/177) • Das Ausshen des Elfen-Aristokraten selbst wird dem Leser nahegebracht als das

… eines mondänen europäischen Konzeptkünstlers, was auch zu dem technominimalistischen Dekor paßte.

16 (Kap. 12, S. 193/183) • Im einem Dialog bringt Theo dann über diesen aristokratischen Elfen-Wissenschaftler auch den ersten von einigen Vergleichen mit dem Dritten Reich an:

‘Wenn der ein Wissenschaftler ist, dann muß er einer wie Dr. Mengele sein.’

17 (Kap. 12, S. 199/189) • Allein unterwegs in den Gängen eines Elfienhauses während eines Stromausfalls fühlt sich Theo wie

Theseus im finsteren Labyrinth, nicht ahnend, daß der schreckliche Minotraurus hinter ihm stand.

18 (Kap. 13, S. 227/216) • Unterwegs zu einer Eisenbahnstation kommt Theo ein Elfienbegleiter vor

wie aus einem Monty-Python-Sketch.

19 (Kap. 14, S. 231/219) • Für Theo, der offentlichlich nicht gerade über ein funkendensprühendes Assoziationsvermögen verfügt (¿oder ist es Tad selbst der schwächelt?), sehen einige Fahrzeuge auf den Straßen Elfiens aus

wie Volkswagen Käfer.

20 (Kap. 14, S. 235/224) • Fremdartige Elfenschrift, die Theo aber dennoch irgendwie lesen kann, erscheint ihm wie

längst untergegangene vorderasiatische Schrift.

21 (Kap. 14, S. 237/226) • Nochmal über den Wissenschaftler, dessen Äußerliches beim ersten Treffen in Theos Rückblick beschrieben wird als

keltisch-asiatische oder skandinavisch-asiatische Mischung.

22 (Kap. 15, S. 262/249) • Später wird das Verhalten dieses Kerls schlicht klassifiziert als

er benahm sich wie in einer Geschichte mit Jeeves dem Butler.

Gemeint sind die im englischen Sprachraum klassischen komischen Romane von P. G. Wodehouse über den adeligen Junggesellen Wooster und seinen Butler Jeeves, die bei Edition Epoca exzellent übersetzt erscheinen. Verfilmt als BBc-Serie mit Hugh Laurie als Wooster und Stephen Fry als Jeeves.

23 (Kap. 15, S. 262/250) • Das Zombiewesen von der Waldhüttenäktschn wird Theo den ganzen Roman durch auf den Fersen bleiben. Mit Galgenhumor denkt sich Theo, warum ihn außer lebenden Leichen und Schleimschneckenmännern nicht auch noch anderes Böszeugs jagt:

‘wie heißen diese Ekelpakete am Anfang vom ›Herrn der Ringe‹ noch mal? Schwarze Reiter?’

Im Original freilich ist Theo noch nervig-dümmer, und dem Fantasy-Vertrauten wird eine lächerlich simple Gelegenheit zur Besserwisserei dargeboten, denn es heißt:

‘von Schwarzen Reitern wie im ›Kleinen Hobbit‹’

24 (Kap. 15, S. 266/254) • Die Angst, beim Klauen erwischt zu werden, läßt Theo fürchten, in ein

Gefängnis wie aus einem gruseligem Grimm-Märchen

geworfen zu werden.

25 (Kap. 16, S. 287/274) • In Gesellschaft mit Poppy, der Tochter des obersten Menschenhasser-Elfen, ist Theo auf den Weg zu deren Familiensitz, oder wie Theo sich zynisch denkt:

‘Klar, wir steigen übers Wochenende einfach im Führerhauptquartier ab.’

Tja, liebe geschichtsverklemmten Deutschen, in der USA-Mainstream-Fantasy eines Williams wurde die Höhle des Löwen und die Teufelsküche vom Führerbunker abgelöst. Man kann sich ruhig unwohl deswegen fühlen, aber es läßt sich nicht ändern, daß die Nazis längst in den Bilderfundus der Populärkultur eingegangen sind. Nicht wahr Dr. Jones?

26 (Kap. 16, S. 293/280) • Zur Schnulze zwischen Theo und Poppy. Er ist ja Anfang Dreißig, sie in Jahren knapp über Hundert, in Elfen-Maßstäben aber gerade mal so aus dem schlimmsten Teenageralter raus. Theo denkt sich, daß er sich eine Romanze mit Poppy wohl ausmalen muß, wie in

… de{m} Film Harold and Maude.

27 (Kap. 20, S. 339/325) • Theo wird wieder mal magisch-wissenschaftlich untersucht und wirft einen Blick auf ein Gefäß, das

gelblich-grün {glühte} wie etwas in einem billigen Horrorfilm.

28 (Kap. 20, S. 341/326) • Laborratte Theo ist es leid, behandelt zu werden

wie Charlton Heston auf dem Planet der Affen.

29 (Kap. 20, S. 349/335) • Für Theo klingen die abenteuerlichen Geschichten über das Gesellschaftshickhack der mächtigen Elfen-Familien

wie der Anfang der West Side Story, witzig und eher aufregend als gefährlich.

30 (Kap. 20, S. 357/342 f.) • In einem hippen Elfen-Nachtclub wirken die Klamotten der Anwesenden auf Theo wie

eine absurde Mischung aus viktorianischer Tracht und zerschlitzter, beschmierter punkiger Gothic-Mode.

31 (Kap. 22, S. 387/371) • Theo besichtigt die Cafeteria eines Gemeinschaftsbaus kleiner Elfen. Einige Tische dort sind so groß wie ein

Silberdollar

und die größeren bieten Platz für mehrere

Gäste von Barbiepuppengröße.

Im Original werden

G. I. Joe-Figuren

zum Vergleich herangezogen.

32 (Kap. 22, S. 393/378) • Ein weiterer Elfien-Aristokrat, der nach Theos Bildung gut in ein

Renaissancegemälde gepaßt {hätte}, vielleicht als ein Ratgeber, der neben dem Thron stehend mißbilligend zusah, wie der arme Columbus Isabella und Ferdinand zu überreden versuchte, ihm ein paar Schiffe zur Verfügung zu stellen.

33 (Kap. 25, S. 445/428) • In einer heiklen Äktschn-Situation will der gebeutelte Theo aus einem beschädigten Gebäude raus. Ein rettender Türgriff blendet da schon mal wie eine Erscheinung gleich der Offenbarung

Saulus’ auf der Straße nach Damaskus.

34 (Kap. 25, S. 455/438) • Theo vergleicht seinen Ausblick auf zerstörte Häuser als

groteske Szene {…} wie Dantes Inferno.

35 & 36 (Kap. 27, S. 483/466 f.) • Theo vergleicht Siedler, von denen ihm sein Elfenbegleiter erzählt, mit den amerikanischen Pionieren. Und bald darauf kommentiert Theo dazu:

Wow. Das ist ja fast wie in einem von unseren Western.

37 (Kap. 27, S. 485/467) • Eine Gruppe wilder Goblins auf Pferden, die Theo auf dem Weg in die Metropole Neu-Erewhon bemerkt hat, sieht für ihn aus

wie Dschingis Khans Mongolen oder so. Wild. Verwegen.

38 (Kap. 28, S. 509/491) • In der Zeltstadt hoffnungssuchender Elfen kommt sich Theo vor wie

auf einem marokkanischen Markt.

39 (Kap. 28, S. 520/502) • Wieder mal sehr befremdet von der Feariewelt fühlt sich Theo wie

der erste Mensch auf dem Mars in einem altem Science-fiction-Buch.

40 (Kap. 28, S. 522/503) • Theo macht mit Goblins Musik, fühlt sich aber so fehl am Platze

wie ein Börsenmakler bei einem Jazzfestival.

41 (Kap. 28, S. 522 f/504) • Die Musik der Goblins ist für Theo schwer einzuordnen, klingt für ihn aber am ehesten wie

Qawwali, die gottestrunkene Sufimusik.

42 (Kap. 29, S. 540/520) • Für Theo trägt ein prophetischer Rebellengoblin

Franziskanertracht.

43 (Kap. 29, S. 544/524) • Wie ein

Beduinenscheich

wirkt der Rebellengoblinboss auf Theo.

44 (Kap. 32, S. 588/567) • Pläne gegen die Machenschaften der Bösen wurden geschmiedet, doch Theo bezweifelt sehr, daß er der Richtige ist für eine

Rettungsaktion {…} wie in ›Stirb Langsam‹

45 (Kap. 32, S. 593/571 f.) • Theo begegnet wieder dem Elfenmädel Poppy, die inmitten der Hilfesuchenden im Zeltlager wirkt wie

eine idealisierte Rüstungsarbeiterin von einem Propagandaplakat aus dem Zweiten Weltkrieg.

Im Original wird genauer auf ›Rosie die Riveter‹ verwiesen.

46 (Kap. 32, S. 593/572) • Die schicke Poppy (immerhin die Tochter des Oberböslings) vergleicht dann Theo so:

Genau wie die adretten Fräuleins, die zu Hitlers Partys gingen, aber die Augen davor verschlossen, was wirklich geschah.

47 (Kap. 32, S. 600/579) • In einem Restaurant fällt Licht so auf Poppys Gesicht, daß sie aussieht wie

ein Porträt von Vermeer.

48 (Kap. 32, S. 602/581) • Nazi-Bunnies auf Davon geht die Welt nicht unter-Festen scheinen Tads Phantasie ganz schön umzutreiben. Theo fühlt sich nämlich mit Poppy im Restaurant nicht so recht wohl, denn sie macht auf ihn den Eindruck wie eines der

hübschen, munteren HJ-Mädels {…}, die in Berlin rauschende Feste feierten, während die SS die Unerwünschten in die Lager abtransportierte.

49 (Kap. 32, S. 608/587) • Ein Viertel von Neu-Erewhon, das am Wasser gelegen ist, vergleicht Theo für sich mit dem New Orleans oder Neapel des 19. Jahrhunderts.

50 (Kap. 33, S. 624/603) • Wieder zum Goblinpropheten, der diesmal umschrieben wird als eine

Art Mahatma Ghandi der Elfenrevolution.

51 (Kap. 33, S. 630/609) • Der Name eines alten und mächtigen Wesens – der Beseitiger von Hindernissen (Remover of Obstacles) – klingt für Theo nach dem Titel eines alten Black Sabbath-Songs.

52 & 53 (Kap. 35, S. 660/640) • Das Innere des Lagerhauses des besagten Beseitigers wirkt für Theo als

hätte {jemand} in großer Hast eine altmodische Apotheke mit einer besonders abartigen Spielwarenhandlung zusammengekippt und dann den ganzen Plunder großzügig mit den Beständen der Bibliothek von Alexandria garniert.

Die Szenerie erscheint Theo

wie eine Bühnenkulisse oder eine Disneyland-Attraktion.

54 (Kap. 36, S. 662/641) • Die Wächter des Beseitigers (Alraunen) sehen für Theo aus, als wären

sie gerade von ihren angestammten Plätzen an der Steilküste der Osterinsel gekommen

55 (Kap. 35, S. 666/645) • Empört über den Egoismus des Oberbösewichts der Elfen bemüht Theo wieder einen Vergleich mit dem Dritten Reich:

Selbst Hitler hätte nicht getan, was Nieswurz tun will, nämlich eine ganze Welt zerstören, bloß um an der Macht zu bleiben.

56 (Kap. 36, S. 671/651) • Die herrschenden Blumen-Elfen und ihre vertrackte Bürokratie werden umschrieben als

so schlimm wie die britischen und selbst russischen Apparatschiks.

57 (Kap. 36, S. 677/657) • Ein mächtiger Elfen-Aristorat wird vom Beseitiger verglichen

‘mit dem Oberhaupt einer reichen, alten neu-englischen Familie – Bostoner Brahmanen nannten wir sie früher.’

58 (Kap. 36, S. 680/660) • Die Pläne für Kraftwerke der Bösewicht-Elfen und deren verächtlicher Verschleiß von niederen Elfen wird so beschrieben:

Diese Pläne sahen völlig autarke Kraftwerke vor, in denen Goblins und Kobolde eigens gezüchtet, verbraucht und dann im Prinzip weggeworfen worden wären.

Im Original heißt es wiederum Drittes Reich-bezogener:

then essentially thrown them away, like the Nazi camps.

59 (Kap. 37, S. 686/666) • Das Innere des Lagerhaus von dem Beseitiger kommt Theo vor wie

die Kulisse eines existentialistischen Theaterstücks.

60 (Kap. 37, S. 694/674) • Theos Gedanken über den Beseitiger von Hindernissen:

Vielleicht ist er einer wie der ‘große und schreckliche {Zauberer von} Oz’.

Vielleicht, vielleicht.

61 (Kap. 37, S. 696/676) • Der Beseitiger erzählt davon, daß er sich

verhüllt und maskiert {hat} wie das Phantom der Oper oder sonst ein melodramatischer Blödsinn.

62 (Kap. 37, S. 700/680) • Theo weiß nicht warum verschiedene Gesinnungsgruppen der Elfen-Welt hinter ihm her sind, und warum sie glauben, er sei im Besitz von irgendwas enorm Wichtigem.

Alle machen auf mich Jagd, aber ich habe nichts! Keinen Schlüssel, keinen Zauberstab, keinen Ring sie alle zu binden, nichts!

Und Tad Williams hat echt die Chuzpe zu behaupten, daß er bestrebt ist, sich über die Händchenhaltprosa eines Tolkiens hinauszuentwickeln. Buhrufe sind angebracht.

Tad Williams Abgrenzungsbemühungen zu Tolkien kann man z.B. in einem Interview mit Marcel Feige bei misterfantastik beobachten.

63 (Kap. 38, S. 705/685) • Seltsame Salamander sehen ein wenig aus

wie Cartoondämonen.

64 (Kap. 38, S. 709/689) • Auftrieb und Durcheinander auf den Straßen,

wie beim Mardi Gras.

65 & 66 (Kap. 39, S. 718/697) • Theo schaut dem Oberbösewicht tief in die Augen, und was geht ihm als Soundtrack durch den Kopf? ‘Sympathy For The Devil’ von den Rolling Stones. Die körperliche Nähe des Oberböslings fühlt sich für Theo an

als ob Dracula hinter ihm stünde.

67 (Kap. 40, S. 733/711) • Die Zugtiere von Kriegskutschen sehen für Theo aus

wie Außerirdische aus einem Hollywoodfilm.

68 (Kap. 40, S. 734/712) • Inmitten einer wilden Äktschn sehen die vielen Gesichter aufständischer Elfen für Theo aus

wie einem Gemälde von Bosch entsprungen.

69 (Kap. 40, S. 740/717) • Schrecklicher Monstergeruch, wie

das Alligatorbecken im Aquarium von San Francisco.

70 & 71 (Kap. 40, S. 748/726) • Die heiligen Bäume im Zentrum Elfiens sind

breit und massig wie Wolkenkratzer

die Wurzeln versinken in Hügeln, die so groß sind

wie ein ganzer Sportplatz.

72 (Kap. 40, S. 749/727) • Eine gebieterische Geste des Oberbösewicht ist so lässig, daß

jeder römische Kaiser {ihn} beneidet hätte.

73 (Kap. 41, S. 756/733) • Magische Spezial-Effekte wirken auf Theo

geradezu fraktal {…}, das Ergebnis eines Experiments in der Blasenkammer, liebevoll fotografiert und im Smithsonian Magazine abgedruckt.

Bei uns bekannter: Geo und National Geographic.

74 (Kap. 41, S. 756/734) • Theo ist überzeugt, daß er vom Oberbösewicht geopfert werden wird, wie die

Vulkanjungfrau eines bezarren religiösen Rituals.

75 (Kap. 41, S. 763/741) • Magische Blubbersubstanz wird einmal als ›Plasma‹ bezeichnet, für von Star Trek und Co. Konditionierte.

76 (Kap. 41, S. 765/742) • Theo begreift, daß ein magischer Singsang in etwa funktioniert

wie die Formel für eine Wasserstoffbombe.

77 (Kap. 42, S. 782/758) • Theo über Poppys neuen Look beim Wiedersehen nach dem Showdown:

{ein} seltsam japanisches Aussehen, {…das} Gesicht ein weißes Oval wie bei einer Geisha.

78 (Kap. 42, S. 786/762) • Die Bücher von Frank L. Baum haben Tad anscheinend gut gefallen, denn er läßt Theo über das Ende seiner überstandenen Abenteuer ausrufen:

Das ist ja wie der Schluß von ›Der Zauberer von Oz‹.

79 (Kap. 42, S. 793/769) • Neue Klamotten der Elfen für Theo, diesmal wie

die Ausgehuniform einer Karateschule.

80 (Kap. 43, S. 807/783) • Die Erstaunheitsäußerungen von Theo werden von seinem Onkel beschrieben als

Sätze {die} aus einem Flash-Gordon-Comic stammen {könnten}.

In einer dunklen Passage des Romans heißt es einmal, daß Theo sich fühlt, als ob er von einem Märchen mit Zähnen verschlungen wird. Da kann ich nur den Kopf schütteln, denn Zähne oder Biß hat »Der Blumenkrieg« nun kaum.

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Folgende Resteln hab ich in der Magira-Fassung nicht verwertet:

Hätte ich eine Aktionskarte für einen willkürlichen Eingriff in Phantastik-Verlagsprogramme, würden die Bas Lag-Romane von China Miéville als liebevoll gestaltete Hardcover bei Klett Cotta erscheinen und dem Tad Williams seine Prosa-Maische als hektisch-schiache Abzock-Pulp-Ausgabe bei Bastei.

Meine Vorsätze also: dies ist der letzte Tad Williams den ich lese … und ich sollte mich lieber umtun, und wieder GUTEN Genre-Trash aufstöbern. So, und die nächsten Tage bekomme ich nun hoffentlich meine Meinungen zu wirklich lesenswerten Büchern aus mir raus.

Wirklich gute flott lesbare moderne Realwelt/Fantasywelt-Überschneidungs-Romane (U-Bahn tauglich) kann ich bessere aufzählen:

  • Neal Gaimans »Neverwhere« (Niemalsland) und »American Gods«; leider sind die deutschen Übersetzung von Gaiman ziemlich mies.
  • Matt Ruffs »Fool on the Hill«; gut übersetzt.
  • Charles de Lindts »Memory and Dream«;
  • Clive Barkers »Thief of Always« und »Weaveworld« (Gyre);
  • Peter S. Beagles »Hey Rebeck!«;
  • * Martin Millars »Die Elfen von New York«
  • usw. usf. …

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    Und zuletzt:

    Für die Bibliotheka Phantastika schreibt der Rezensent Top Dollar:

    Gewalt in Romanen kann nur so lange unterhaltsam sein, wie sie sich eindeutig in einem fiktiven Rahmen abspielt und der Leser in seinem bequemen Sessel sicher sein kann, daß sie mit der Realität nicht das Geringste zu tun hat.

    Abgesehen, daß Top Dollar den Roman mit 4 von 5 Sternchen bewertet, obwohl er im Fazit meint:

    Starker Beginn, folgt dann aber zu vorhersehbar ›Schema F‹

    … ist die Aussage zu Gewalt in Fiktionen ein ungeheuerlicher Satz … mich gruselt es richtig. Zumindest meiner Meinung nach ist es genau umgekehrt: Gewalt in Fiktionen ist eben gerade eine Meßlatte dafür, wie sehr sich die Fiktion von der (bösen bösen) Realität entfernt hat. Wird Gewalt als akzeptables Mittel zum Zweck dargestellt, verdächtigt man zurecht das Werk als ein gewaltverherrlichendes. Doch eine Verharmlosung oder »Will ich nicht wissen«-Ausblendung von Gewalt ist nicht minder verwerflich.

    Gilbert Keith Chesterton: »Der Mann der Donnerstag war«, oder: Bombe und Kursbuch

    Eintrag No. 20

    Version 1.0 erschienen in »MAGIRA 2003 – Jahrbuch zur Fantasy« , herausgegeben von Michael Scheuch und Hermann Ritter. Für die Molochronik z.T. gekürzt bzw. erweitert. Version 2.0 vom 20. September 2007: Portrait und viele Links eingepflegt, um Verehrerrundschau erweitert Fehler gemerzt.

    Gilbert Keith Chesterton (1874-1936) zählt neben Herbert George Wells, Arthur Conan Doyle und Rudyard Kipling zu den klassischen Alleskönnerautoren Englands am Ende der Viktorianischen Epoche bis zum Ende des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts. Wie diese hat er Texte verschiedenster Art hinterlassen, darunter äußerst originelle Beiträge zur Phantastik. Und wie Tolkien gehört er zu den ›schrulligen Katholiken‹ der anglikanischen Insel (siehe die beiden Essay-Bände »Ketzer« und »Orthodoxie«). In Deutschland ist er wohl, wenn überhaupt, vor allem als Erfinder des von Heinz Rühmann (bzw. Ottfried Fischer) dargestellten Pater Brown bekannt. Comiclesern ist vielleicht sein Aussehen bekannt, immerhin leiht sich das die Figur (bzw. der Ort) Fiddlers Green in Neil Gaimans »The Sandman«.

    Der Wagenbach-Verlag hat dankenswerterweise »Der Mann der Donnerstag war« wieder mal dem deutschem Leser zugänglich gemacht, wenn auch in einer gewöhnungsbedürftigen Übersetzung aus dem Jahre 1910.

    Das 1908 erstmals erschienene Buch handelt vom apltraumdurchwirkten Ringen um eine gesicherte Sicht auf die Auseinandersetzung zwischen Anarchie und Ordnung. Es beginnt mit der Begegnung zweier gegensätzlicher Poeten in einem Künstlerviertel Londons. Der Platzhirsch des Saffron Park, Lucien Gregor, verherrlicht den Archetypen des bombenwerfenden Anarchisten als DEN Künstler schlechthin. Seinem Herausforderer Gabriel Syme dünkt das Chaos aber öde und er preist lieber den Zugfahrplan als Triumph des menschlichen Willens. Gregor möchte nicht nur Konventionen und Regierungen, sondern sogar Gott abschaffen, Syme aber wirft ihm vor, es mit dem Anarchismus nicht wirklich ernst zu meinen. Gregor will Syme von seiner Ernsthaftigkeit überzeugen und Syme folgt Greogor zu einem geheimen Treffen. Beide offenbaren zuvor einander ihre Geheimnisse und geloben Verschwiegenheit darüber. Gregor entpuppt sich als Anarchist, Syme als Geheimpolizist, beide nur als Poeten getarnt. Beklommen stellen die sie fest, daß ihre Angst aufzufliegen und ihre Ehrenworte sie voneinander abhängig machen.

    Bei einem Treffen des geheimen Anarchistenzirkels schafft es Syme, Gregor den Posten des Donnerstag wegzuschnappen. Die sieben Oberanarchisten sind nämlich nach den Wochentagen benannt, womit sich der seltsame Titel des Romans erklärt. Montag ist ein Sekretär, Dienstag ein polnischer Fanatiker, Mittwoch ein dubioser Marquis, Donnerstag in Person Symes ein Poet, Freitag ein alter Professor und Samstag ein praktischer Arzt. Anführer ist der monströse Präsident Sonntag, der sich selbst ›den Frieden Gottes‹ nennt. Der Rat beschließt ein Bombenattentat auf den russischen Zaren und den französischen König in Paris, das Syme und Greogor verhindern wollen. Von da an geht es zunehmend drunter und drüber.

    Chesterton hatte merklich großen Spaß daran, Atmosphären zu übertreiben und moderne Allegorien zu erschaffen. Nichts ist, was es scheint, und die Verschwörer stolpern von einer Bredouille in die nächste.

    Besonders bemerkenswert ist der Oberbösewicht Sonntag, eine grandiose Übersteigerung der Figur des Verbrecherkönigs. Er ist eine prophetische Mischung aus Goldfinger und Groucho Marx, wenn er z.B. bei der finalen dadaistischen Verfolgungsjagd nicht nur immer aberwitzigere Fluchtuntersätze nutzt, sondern dabei auch noch ständig Zettel mit rätselhaften Unsinnsmitteilungen hinterläßt. Durch solche Kapriolen wirkt der Roman über weite Strecken, wie eine Vorwegnahme von höherem Zeichntrickblödsinn. Dabei wird immer wieder auf das Grundproblem angespielt: die unvereinbare Gegensätzlichkeit der menschlichen Wünsche nach Ordnung, Kontrolle und Sicherheit einerseits, nach Freiheit, Individualität und Vertrauen andererseits.

    Chestertons satirische Gesellschaftsphantastik ist allemal ein Wiederentdecktwerden wert, besonders anempfohlen in unseren Zeiten, da man als Echtweltbürger feststellt, daß die Grenzen zwischen Ordnung und Chaos sich immer mehr verwischen, und der Übersichtlichkeit halber amal neu definiert werden müßten. Egal ob man sich (aus welchen Grund auch immer) für Bombe oder Kursbuch entscheidet, die Gegenseite lauert immer und überall.

    Meine liebste Fundstelle des Romans illustriert das dialektisch-paradoxe Ideenjoungliervergnügen, das ich mich Chesterton hab. Im ersten Kapitel werden zwei gegensätzliche Dichter — der dandyhafte Anarchist Lucien Gregor und der bürgerliche Ordnungs-Anakreont Gabriel Syme — im Streitgespräch gegenübergestellt.

    Gregor: »Ein Künstler ist dasselbe wie ein Anarchist. Man kann auch umgekehrt sagen: ein Anarchist ist ein Künstler. Der Mann, der eine Bombe wirft, ist ein Künstler, weil er einen großen Augenblick allem anderen vorzieht. Er erkennt, wie viel wertvoller das einmalige Aufflammen, der einmalige Donnerschlag einer wirkungsvollen Explosion ist, als die alltäglichen Körper von ein paar Polizisten. Ein Künstler kümmert sich um keine Regierung, er bricht mit jeglichem Herkommen. Den Dichter erfreut nur die Verwirrung. Wäre dem nicht so, dann müßte das poetischte Ding der Welt die Untergrundbahn sein.«

    Syme: »[...] Chaos ist öde, weil im Chaos der Zug tatsächlich irgendwohin gehen würde, nach Baker Street oder nach Bagdad. Der Mensch aber ist ein Magier, und seine ganze Magie besteht darin, daß er sagt: Victoria {Station}, und siehe da, es ist Victoria. Nein, behalten Sie Ihre Bücher mitsamt Ihrer Poesie und Prosa und lassen Sie mich einen Fahrplan lesen mit Tränen des Stolzes. Behalten Sie nur Ihren Byron, der die Niederlagen der Menschheit feiert und geben Sie mir das Kursbuch, das ihre Siege verherrlicht.

    [...] Sie behaupten verächtlich, es sei selbstverständlich, daß einer nach Victoria kommen muß, wenn er Sloane Square verlassen hat. Ich aber behaupte, daß in der Zwischenzeit tausenderlei Dinge geschehen könnten und ich jedesmal, wenn ich wirklich mein Ziel erreicht habe, den Eindruck habe, mit knapper Not davongekommen zu sein.«

    Zitiert nach der Ausgabe bei Heyne »Der G. K. Chesterton Omnibus 1«.

    Und wer mehr von diesem außergewöhnlich unbekannten Werk kennenlernen möchte: hier der ganze Roman auf englisch und noch ein Link zu einer netten Chesterton-Page.

    BLICK IN DIE RUNDE DER VEREHRER:

    • Wie klassisch dieser Roman im anglo-amerikanischen Raum ist, und wie lebendig er dort auch von jüngeren Genreationen goutiert wird, führt das Computerspiel »Deus Ex« vor, das u.a. von »Der Mann der Donnerstag« deutlich inspiriert wurde und in dessen Levels der Spieler immer wieder auf Zitate aus dem Buch stößt.
    • Neil Gaiman schreibt in seinem Blog:
      »The Man Who Was Thursday« is one of the most ambiguous books I've ever encountered, and its morals are deeply uncertain.

      (Molos Übersetzung) »Der Mann der Donnerstag war« ist eines der undurchschaubarsten Bücher das mir je untergekommen sind, moralisch zutiefst unbestimmbar.
    • Susanna Clarke zählt »Der Mann der Donnerstag war« zu ihren Lieblingsbüchern:
      Es ist so etwas wie ein sehr aufregender Detektivroman und fast wie ein Gedicht und wie ein theologisches Rätsel — und die meisten Dialoge lesen sich, als hätte Oscar Wilde sie geschrieben. Es ist etwas ganz Besonderes. Die Szenen laufen als eine Serie von Bildern ab — präzise, überraschende, einfache, farbenfrohe Bilder. Es ist wie eine wunderschöne Halluzination oder ein angenehmer Alptraum. Wie in allen Detektivromanen (oder Gedichten oder theologischen Rätseln) können die einfachsten Gegenstände oder Handlungen eine immense Bedeutung haben. Gleichzeitig zeichnet das Buch ein interessantes Bild der Zeit und vermittelt einen guten Eindruck davon, was es hieß, im Jahr 1908 ein dandyhafter englischer Gentleman zu sein.
    • Hierzulande hat z.B. Carl Amery G.K.C. enthusiasmiert bejubelt, wie im Vorwort zu »Der G. C. Chesterton Omnibus 1« (Heyne 1993)
      Chestertons Romane sind, da ist kaum ein Zweifel möglich, durchaus der modernen Form der Science Fiction, das heißt des spekulativen Genres zugehörig. »Was wäre wenn…?« oder auch: »Was wäre gewesen, wenn…?« — das ist die Frage, welche die wundersamen Maschinen dieses Genres in Bewegung setzt. {…} Wer von all den wissenschaftlich orientierten Prognostikern hat die Geburt des Tory-Faschismus (in »Don Quijotes Wiederkehr«), die Islamisierung Englands (in »Fliegendes Wirtshaus«), die totale Abstrusität des Terrorismus und der Terrorismus-Bekampfer (in »Der Mann der Donnerstag war«) so scharfsinnig antizipiert? Wer hat die Schnappfallen des bürokratischen Wohlfahrtsstaates, die Diktatur der psychiatrischen Normalitäts-Festsetzer, die Reduktion der Kunst zu Ware und die Reduktion der menschlichen Geschicklichkeiten durch die gloabe Normierung so gut gewittert und so amüsant ins Erzählerische übersetzt?
    • Michael ›Harry Potter ist superduper‹ Maar zitiert in seinem feinen Rundfunkessay für den SWR den Chesterton-Kenner Joachim Kalka, der folgendermaßen »Der Mann der Donnerstag war« lobpreist:
      Der {Roman} hat viel von genialer Kolportage. Das eigenartige Lächeln des Montags, des Sekretärs, der nur auf einer Seite des Gesichts den Mund verzieht, erscheint später großartig als coup de théatre. Ganz in der Ferne scheint es, als ob man eine Menge von Verfolgern drohend herandringen sähe; die Helden mustern den Auflauf unruhig durchs Fernglas. Die Anführer tragen schwarze Halbmasken. Und »schließlich lächelten sie während ihres Gespräches alle, und einer von ihnen lächelte nur auf einer Seite.« An solchen Momenten, in denen es den Leser leise überläuft (…), ist das Buch überreich: Maske und Duell, Attentat und Flucht, Hetzjagd und Verschwörung. Es ist kennzeichnend für Chestertons Werk, daß die stärksten Wirkungen im Ineinander von romance und Reflexion liegen.
    • Und in »Cicero« (Sept. 2007) begeistert sich Daniel Kehlmann (nebenbei auch erfrischend über die hiesige Verlagslandschaft spottent) für Chestertons Alptraum, indem er z.B. schreibt:
      Ein aktuelles Buch? Aber natürlich — denn es geht um Terror und terroristische Geheimorganistaionen, es geht um den Übereifer bei der Verfolgung des Bösen, es geht darum, dass Zivilisation und Glauben plötzlich selbst jene Gefahren sein können, vor denen sie uns schützen wollen.

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    Der Mann der Donnerstag war (The Man who was Thuesday, 1908) aus dem Englischen von Heinrich Lautensack; 192 Seiten; Taschenbuch; Wagenbach-Verlag; Berlin, 2002. oder antiquarisch z.B.: übersetzt von Bernhard Sengfelder in der Bearbeitung, einem Vorwort und herausgegeben von Carl Amery; zusammen mit »Der Held von Notting-Hill« in »Der G. K. Chesterton Omnibus 1«; 428 Seiten; Taschebuch; Heyne, ›Bibliothek der Science Fiction Literatur‹; München 1993. — Aufgrund der deutlich flexibleren, klareren Sprache zu bevorzugen.
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