molochronik

Aus der Lektorwerkstatt (»Nimmèrÿa 3« von Samuel R. Delany)

Folgender kleiner Plaudereinblick in meine Arbeit als Lektor entstand aus dem eMail-Wechsel mit Golkondas Delany-Herausgeber Karlheinz Schlögel, der dem Beitrag dann für den ›Golkonda Insider‹-Facebook-Auftritt noch eine Einleitung angedeihen ließ (hier kursiv gesetzt).

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Auch zu Weihnachten sind alle Golkondianer fleißig. Bevor der zweite Golkonda-Band der Geschichten aus Nimmèrÿa überhaupt das Licht der Welt erblickt, aber das dauert jetzt wohl nicht mehr lange, wird der dritte Band von unserem Delany Lektor molosovsky bereits in Angriff genommen und erste Einsichten zur damaligen Ausgabe gewonnen, dazu live aus der Lektoratsstube:

Abgesehen davon, dass ich seit dem ersten Nimmèrÿa-Band begeistert davon bin, wie Delany das Fantasy-Genre gegen den Strich bürstet (kommt meinem Gedankenspiel recht nahe, Alltag und Nebenfiguren zum eigentlichen Mittelpunkt einer Fantasy-Handlung zu machen, und Questen zu veranstalten, die zu nix führen, bei denen die Leut sich dennoch — bzw. erst recht — selbst entdecken), bin ich ziemlich hingerissen von der Aussicht, die erste große amerikanische AIDS-Erzählung bearbeiten zu können. Immerhin ein Stück Literaturgeschichte.

Habe die letzte Stunde (seit 5 Uhr morgens) damit verbracht, die Datei von »Flucht aus Nimmèrÿa« (»Flight from Nimmèrÿa«) zu kneten, da die Formatierung reichlich eigentümlich war. Alles benutzerdefiniert, gespiegelte Seiten, Blocksatz mit pfiffig eingestreuten Leerzeichen (wegen Zeilenumbruch?), einige Sachen wie »Ende« oder Zitat-Namen waren als verankerte Textfelder eingefügt (WTF!)… kurz: Großer Spaß, daraus erstmal normale Standardseiten zu machen.

Folgendes ist mir aufgefallen. Wir arbeiten ja ›nach Fassung letzter Hand‹, und die Anhang-Benennung stimmt nicht mit der uns zugrundeliegenden Wesleyan-Ausgabe (= WA) überein. — »A Tale of Plagues and Carnivals« war im vorliegenden Manuskript als »Anhang A« bezeichnet. — Der vorliegende »Anhang B: Schluß und Aussicht« besteht aus ca. der Hälfte des Appendix der WA von Band 3, sowie dem Appendix aus Band 4 »Return to Nimmèrÿa«. Der in der WA enthaltene »Appendix B: Buffon’s Needle« fehlt völlig. Ich nehme an (›SEUFZ‹), da steht mir ein gutes Stück Komplett-neu-Übersetzung bevor. Mathematische Notation sollte heutzutage kein Problem mehr sein, aber damit beschäftigte ich mich dann, wenn es so weit ist.

Ich hoffe, der Gehirnstärktiger wird mir beistehen, vor allem bei den New Yorker Echtwelt-Slang-Stromschnellen und Mathe-Klippen des Anhangs. Derweil reicht mein Vorrat an Nüsschen, Käse, Schoko und Kaffee über die Feiertage.

Der problematische Herr Lovecraft, oder: Das ›Nigger‹-Gedicht

›Schuld‹ ist ein Tweet von Damien Walter:

»Werft einen Blick auf die vernebelnden Hirnverrenkungn, wenn Lovecraft-Fans versuchen seinen Rassismus zu rationalisieren.«

In dem verlinkten Aufsatz »The ›N‹-Word Through The Ages: The Madness of H. P. Lovecraft« (Das ›N‹-Wort im Fortlauf der Zeitalter: Der Wahnsinn von H. P. Lovecraft) von Phenderson Djeli Clark bei ›Media Diversivied‹ wird geschildert, dass Rassismus keineswegs nur ein flüchtiger Aspekt von Lovecrafts Seelenleben war, sondern bereits früh eine seinem Herzen nahe und lebhafte Regung; und dass viele Personen des vor allem weißen Lovecraft-Fandoms diese hasserfüllte Seite des von ihnen verehrten Autors ignorieren, entschuldigen oder verharmlosen.

Zweiundzwanzig Jahre alt hat H. P. Lovecraft folgendes erst nach seinem Tod veröffentliche Gedicht geschrieben. Ist ein schönes Beispiel für jene Seiten seines Charakters, die von seinen Fans gern mal ausgeblendet werden, und mit denen man sich vor allem bei uns nur sehr ungern beschäftigt. — (Ändert allerdings nichts daran, dass er die Horror- & Phantastik-Literatur ungemein bereichert hat … auch im Guten.)

Das Gedicht findet sich in Abteilung ›VII. Politics & Society‹ der Gesamtausgabe von Lovecrafts Lyrik »On Ancient Tracks«. — (Hach gugge mal! Mit vierundzwanzig hat Lovecraft 1914 auch solche ›Gemmen‹ wie »The Teuton Battle-Song« verfasst, nebst Anmerkung zur Überlegenheit der nordischen Rasse aufgrund rücksichtsloser Grausamkeit & unglaublichem Mutes.)

Hier das Gedicht nebst einer gerade von mir schnell erstellten inhaltlichen Übersetzung (Ihr verzeiht mir hoffentlich alle, dass ich mir die Mühe spare, das Ganze auch noch silbengerecht auf Endreime hin zurecht zu dengeln).

On the Creation of Niggers (1912) When, long ago, the gods created Earth In Jove’s fair image Man was shaped at birth. The beasts for lesser parts were next designed; Yet were they too remote from humankind. To fill the gap, and join the rest to Man, Th’Olympian host conceiv’d a clever plan. A beast they wrought, in semi-human figure, Filled it with vice, and called the thing a Nigger.


Über die Schöpfung der Nigger Als die Götter, vor langer Zeit, die Erde schufen Ward bei Geburt der Mensch dem edlen Bildnis Jupiters gleich geformt. Sodann wurden wilde Tiere für niedere Dienste entworfen; Doch von der Menschheit waren sie abgeschieden. Die Kluft zu füllen, zum Rest der Menschen aufzuschließen, Ersannen die Olympier einen listigen Plan. Ein Tier sie machten, der Gestalt nach halb ein Mensch, Flössten ihm Laster ein und nannten das Ding einen Nigger.

ERGÄNZ: Auch wenn ich seit Entdecken des Blogs »Skalpell & Katzenklaue« von ›Raskolnik‹ ein großer Fan seiner Texte bin, habe ich erst durch einen Tweet-Reaktions-Hinweis seinen zweiteiligen Essay zum Thema entdeckt.

Ein Beitrag zur Debatte um H.P. Lovecrafts Rassismus: Der Gentleman aus Providence und seine Ängste (i) (28. Januar 2012); Der Gentleman aus Providence und seine Ängste (ii) (6. Februar 2012).

Am Anfang des ersten Teils zeigt sich Raskolnik — zurecht — erstaunt darüber, dass in der deutschsprachigen Phantastik-Bloggersphäre (und nicht nur dort, wie ich ergänzen möchte) erstaunlich wenig über diese unbequemen Aspekte von Lovecrafts Denken & Schreiben öffentlich berichtet wird. Als löbliche Ausnahme wird jedoch das von mir ebenfalls wertgeschätzte Blog »Lake Hermanstadt« von ›Anubis‹ und der dortige Eintrag »Lovecrafts Grab« (16. Dezember 2011) erwähnt.

Verweisen möchte ich auch auf meinen eigenen Eintrag »Lovecrafts Träumereien« (Mai 2006), in denen mein jüngeres ich aus sicht meines heutigen selbst peinlich weichgespült auf die sache blickt. inzwischen weiß ich durch weitere lektüren, dass lovecrafts rassismus, fremdenhass und Überlegensheits-phantasien der nordischen weißen rasse keine oberflächliche, vorrübergehende anwandlung war.

»Unterschätzte SF-Meisterwerke« …

… wobei ich (was Molochronik-Stammlesern bekannt sein dürfte) das Akronym ›SF‹ wahnsinnig gerne vor allem als Speculative Fiction‹ auflöse, und erst in zweiter Linie als ›Science Fiction‹. — So läßt sich auch erklären, warum die Titel, welche ich im Folgendem genannt habe, ein bischen aus der Reihe tanzen.

Es begab sich nämlich, dass Michael Schneiberg von der schönen SF-Podcast-Seite ›Schriftsonar‹ um meine Expertise zum Thema »Most underrated SF-Novels« gebeten hat. Neben meiner bescheidenen Wenigkeit haben auch solche mit dem Phantatischen vertrauten Kapazunder wie Michael Iwoleit, Hardy Kettlitz, Arno Behrend und Christian Hoffmann geantwortet.

Meine Tipps gehen so:

A.S. Neill: »Die grüne Wolke« (»The Last Man Alive«) — Klassiker der wilden Jugendliteratur aus dem Jahre 1938. Irgendwo zwischen Endzeit-SF, Abenteuertumult und völligem Chaos. Übersetzt von Harry Rowohlt. Empfohlen sei die Ausgabe mit den Illus von F. K. Waechter (oder das von Herrn Rowohlt selbst eingelesene Hörbuch).

William Browning Spencer: »Résumé With Monsters« — Siebzehn Jahre ist dieser Roman alt und immer noch unübersetzt im Land der mehrfachen Lovecraft-Ausgaben. Hier trifft kosmisches Grauen auf moderne McJob-Arbeitswelt … mit Romanze!

J. M. DeMatteis (Text) & Glenn Barr (Zeichnung): »Brooklyn Dreams« — Feine S/W-Psychophantastik die grandios mit Stimmungen, dem Kontrast von Realismus, Cartoon & Phantastik spielt. War vergriffen, ist nun in schöner einbändiger (engl.) Ausgabe zu haben.

»Eine andere Welt« (23) — Kap. XXI: Die Geheimnisse des Unendlichen von Grandville und Plinius dem Jüngsten

Eintrag No. 759Zur Inhaltsübersicht.

Die Illustrationen einer alten französischen Ausgabe habe ich dem flick-Album von blaque jaques entnommen.

XXI. Die Geheimnisse des Unendlichen

Die Welt ist eine Seifenblase. Newton.

Ohne das Unendliche versteht man das Endliche nicht. Lehrbuch der Sternenkunde für Töchterschulen.

Jenseits des Raumes ist alles Geheimnis. Bekenntnisse eines Kometen.

Schwadronarius’ Wanderungen durch den Raum. Der Reisende entdeckt den Ursprung aller Dinge und noch einiger anderen.

Man wird das Erstaunen begreifen, das sich Schwadronarius bemächtigte, als er sich umdrehte und weder die Laterna magica noch das Gliedermännchen mehr erblickte. Der frische Lufthauch der mit seinen Locken spielte, wie sich der aufmerksame Leser gefälligst die Güte haben wird zu erinnern, schwoll plötzlich zu einem Orkan an,, welcher das ganze Reich der Marionetten entführte und in einem Augenblick unsichtbar machte. — Mitten in diesem Wirbel hatte Schwadronarius die Geistesgegenwart sich an die Luftströmungen zu klammern. Auf diesem raschen aber nicht eben sehr sanften Rosse konnte er Courier reiten im Weltenraume, ohne andere Gefahr, als dass er mitunter an irgend eine Welt stieß, die hier gewissermaßen als Grenzstein hingestellt war. Mit einigen Beulen und Brauschen auf der Stirn kam er indessen noch davon.

Wir wollen diese übermondliche Reise nicht Station für Station beschreiben. Nachdem sie eine ziemliche steile Küste erklommen, hielt die Luftströmung einen Augenblick still um zu verschnaufen. Eine unermessliche Ebene bot sich Schwadronarius’ Blicken dar. Er hatte den Fuß auf den Pol gesetzt, welcher Pol indessen keineswegs von Diament ist, wie einige berichtet haben.

Eine Brücke, deren Enden das menschliche Auge nicht zugleich umfassen konnte und deren Hauptpfeiler sich auf Planeten stützten, führte über vortrefflich polierten Asphalt nach einer anderen Welt.

Gerade als Schwadronarius sie betreten wollte, zupfte ihn Jemand am Rockschoß und eine Stimme verlangte strenge Brückenzoll von ihm. Schwadronarius wandte sich um und erkannte Charon, der, durch die Einrichtung eines Steges von Eisendraht über den Styx zu Grunde gerichtet, sich hier eben hatte einen Invalidendeinst geben lassen. Um der polizeilichen Anordnung:

Schnell über diese Brücke zu reiten und zu fahren, ist bei fünf Rthlr. Strafe verboten

zu genügen, nahm die Luftströmung einen Paßgang an, so dass unser Reisender ganz bequem die ihn umgebenden Gegenstände betrachten konnte. Der dreihundertdreiunddreißigtausenste Pfeiler stand auf dem Saturn auf. Schwadronaius konnte sich nun überzeugen, dass der Ring dieses Planeten nichts Anderes sei als ein kreisförmiger Balkon, auf welchem die Saturnbewohner die Kühle des Abends genießen.

Jenseits der Brücke fiel die Luftströmung wieder in Galopp und trug Schwadronarius nach noch höheren Regionen. Die himmlische Mechanik ward ihm ganz enthüllt durch die Nachlässigkeit ihres Besitzers, der gerade an diesem Tage vergessen hatte, die Wolkenvorhänge zuzuziehen. Dieser Eigentümer war ein alter Zauberer, welcher Seifenblasen aufblies und sie dann in den unendlichen Raum schleuderte.

Altersschwach wie er war, bemerkte der Greis ungeachtet seiner Brille wahrscheinlich nicht, dass etwas unter ihm, ein kleiner Dämon, die Blasen abfing um sie auf seine Weise zu colorieren und allerlei Elemente der Störung und Verwirrung hinein zu praktizieren.

Kaum hatten sich die Seifenblasen von seinem Pfeifenstiele wieder abgelöst, so konnte man auch schon durch den Spiegel ihrer Umhülung hindurch die Szenen wahrnehmen, welche später die gewöhnlichen Peripetieen des menschlichen Drama bilden sollten. Liebe und Eifersucht spielten die Hauptrollen; darüber wird Niemand erstaunen, der da erfährt, dass der Dämon, welcher so den alten Magier hinter das Licht führte, ein Weib war.

Schwadronarius wollte den Zauberer von dem Streiche, den man ihm spielte, in Kenntnis setzten, aber sein Luftroß hinderte ihn daran, indem es mit ihm vorrübersauste. Auch zog schon ein neues Schauspiel seine Blicke an; eine verbrecherische Zerstreuung, die wiederum die Menschheit verhindert hat, sich der Herrschaft böser Leidenschaften zu entziehen und sich endlich der Wohltaten des goldenen Zeitalters, das ihrer Geduld schon so lange versprochen worden, zu erfreuen. Um die Menschen zu retten, brauchte er bloß einen Pfeifenstiel zu zerbrechen. Die Weisen werden sich nicht zufrieden geben über Schwadronarius’ Nachlässigkeit. Wer sollte es glauben? In diesem feierlichem Augenblicke hatte er lieber Maulaffen vor einem Jongleur feil.

Auf dem Pole eines ziemlich großen Planeten führte nämlich ein Equilibrist und Taschenspieler alle seine Künste aus. Nie entfaltete ein indischer Juggler solche Gewandtheit und Geschicklichkeit. Hinten, vorn, rechts, links warf er Kugeln in die Höhe und fing sie mit den Händen auf oder hielt sie ungeweglich auf der Nase.

Diese Kugeln waren nur Weltkugeln. So wurde Schwadronarius eingeweiht in das große Gesetz vom Gleichgewicht der Welten, jedoch nicht ohne in bedeutende Gefahr dabei zu geraten. Als er nämlich jene Stelle des Planeten erstieg, welche die Alten culmen {= lat. ›Gipfel, Kuppe, Spitze‹} zu nennen pflegten, kam ein Aerolith, der wie ein sublunarischer Ordensstern gebildet war, ihm dicht bei der Nase vorbei, und würde ihn zerschmettert haben, wenn er nicht gerade den Kopf hinten übergebogen hätte. Wehe dem Sterblichen auf den dieser Aerolith hinabstürzt.

Gegen Abend verlor die Luftströmung etwas von ihrer Kraft. Schwadronarius näherte sich der Erde und erkannte selbst die Formen gewisser Gebirge, die noch kein Reisender entdeckt hat. Zwischen zwei Bergspitzen breitete sich ein ungeheurer Blasebalg aus. In demselben Augenblicke in welchem er sich fragte, wozu ein solcher Ventilator diene, erhielt Schwadronarius’ Luftstoß eine so gewaltige Erschütterung, dass er Gefahr lief, auf die Dächer einer Stadt geschleudert zu werden.

Glücklicherweise drehte sich der Wind. Schwadronarius war gerettet, aber die Stadt in weniger als einer Sekunde in die entsetzlichste Verwirrung gebracht. Schilder, Feueressen, Hüte, Mäntel, Regenschirme, Perrücken, Dachziegel, Alles wurde fortgerissen und Niemand konnte sich in diesen Straßen aufrecht halten.

Schwadronarius begriff nun, dass der Blasebalg, den er gesehen, die Schläuche des Aeolus ersetzte und ihm jetzt der Ursprung der Orkane nicht fremd mehr sei. Hätten ihm die notwendigen Instrumente nicht gefehlt, so würde er nicht ermangelt haben, die geographische Lage des Blasebalgs genau aufzunehmen, um sie in alle Landkarten einzutragen. Er tröstete sich jedoch mit dem Gedanken, dass es dann vielleicht den Menschen gelungen sein würde, ihn zu zerstören und dass er dadruch der Literatur, indem er sie vieler Metaphern beraubt, und den Gewerbtätigen, welche von der Verfertigung der Aushängeschilder, Hüte, Regenschirme und Perrückten lebten, — ohne es zu wollen, — großen Schaden zugefügt hätte.

Eine Minute länger und der Erdball wäre auf seinen Fugen gewichen. Aber der Sturm legte sich. Sanft auf Wolkenkissen sich lehnend, welche die untergehende Sonne mit goldenen Fransen säumte, zeigte sich mitten im Weltraum das Haupt eines blöden, schüchternen jungen Mädchens Schwadronaius’ entzückten Blicken. Luna war es, die sich im See spiegelte, um sicher zu sein, dass Endymion sie schön fände. — Sie war mit ihrer Toilette zufrieden und zog langsam weiter.

Ihre Gegenwart genügte, Frieden zwischen den Elementen zu stiften; sie schwiegen, um sie ungestört bewundern zu können, und Schwadronarius setzte seine Himmelsreise fort.

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Alfred Kubin: der neue alte Star der Weird Fiction

Eintrag No. 755 — Derweil ich noch auf meine Paperbackausgabe der umfangreichen, von Jeff und Ann Vandermeer zusammengestellten Anthologie »The Weird« (hier das Inhaltsverzeichnis in Jeffs Blog) warte, freue ich mich wie Schnitzel darüber, daß sich Alfred Kubin schön langsam zu einem heißen Tipp im englischsprachigem Raum mausert.

Nicht nur eröffnet ein längerer Auszug von Kubins »Die andere Seite« die »The Weird«-Anthologie, Jeff Vandermeer widmet auch den ersten Beitrag der Reihe »101 Weird Writers« bei ›Weird Fiction Review‹ Meister Kubin: The Tortured Triumph of "The Other Side". — Ebendort hat diese Woche auch Paul Charles Smith unter dem Titel The Shadow World of Alfred Kubin: The Life and Art of a True Original ein Lobpreis auf Kubins Pionierleistung angestimmt.

Smith hat schon vor einiger Zeit in seinem Blog zwei Beiträge über Kubin verfasst: zum ersten über die Themen in dessen Frühwerk (Themes in the Early Work of Alfred Kubin); zum zweiten insbesondere über »Die andere Seite« (The Other Side).

Nachtrag — Damien Walter hat für ›The Guardian‹ eine herrlich begeistert wirre Jubelei zu der Anthologie geschrieben: Beware The Weird!.

»Eine andere Welt« (22) — Kap. XX: Aerostatische Lokomotionen von Grandville und Plinius dem Jüngsten

Eintrag No. 754Zur Inhaltsübersicht.

Die Illustrationen einer alten französischen Ausgabe habe ich dem flick-Album von blaque jaques entnommen.

XX. Aerostatische Lokomotionen

Ihr, so da fliegen wollen, Betrachtet Ikarus, Den naseweisen tollen, Er kam zu bösem Schluß, Phoebus ist ihm gestiegen Alsbald zu Kopfe stracks. Drum wißt: Man wird nie fliegen Mit Fittigen von Wachs. Griechischer Hymnus.

Die Herrschaft des Dampfsystems liegt weit hinter uns und hat sich ganz überlebt. Ein moderner Philosoph.

Doctor Puff, Neugott, führt nach einander auf verschiedene Weise mehrere Luftfahrten aus, kehrt mit ungewöhnlicher Schnelle auf die Erde zurück und findet hier einen ganz unverhofften Empfang.

Das traurige Ende einer Unsterblichkeit, der Puff die Augen zudrückte, veranlasste den Doctor zu ernsten Selbstbestrachtungen. Als Neugott sah er sich von ewiger Langeweile bedroht, und glaubte schon dies schleichende Gift in seinen Adern zu fühlen, so daß er sich nach seiner früheren bescheidenen Niedrigkeit zurücksehnte. Nachdem er von den Blumen freundlich Abschied genommen, deren Familienleben und gesellschaftlicher Organismus sein Gepäck von Beobachtungen vermehrt hatte, beeilte er sich den Garten zu verlassen, indem er sich sogleich die in solchen Fällen üblichen Fragen vorlegte.

»Wohin wende ich mich! Wohin wende ich mich nicht? Gehe ich bergan oder bergab, in die Länge oder in die Breite, in gerader, schiefer, kreisförmiger, diagonaler, horizontaler oder senkrechter Linie? Was soll ich tun um vor Erwartung keuchende Leser und Verleger, deren einzige Hoffnung auf meinem Genie beruht, zufireden zu stellen?«

Diese Fragen erwägend, fiel es ihm plötzlich ein, daß er kürzlich den Titel eines Buches gesehen, welcher lautete: »Die Reise ins Blaue«. — »Hurrah!«, rief er. »Ins Blaue! Gerade hinein, so ist’s recht und Zickzack obendrein!«

Diese Reise alsbald anzutreten war ihm ein Geringes, nur fehlte ihm noch irgend eine bewegende Kraft. Nicht weit davon sah er Arbeiter an einer Eisenbahn damit beschäftigt, für den künftigen Schienenweg Felsen zu sprengen und Abgründe auszufüllen. »Arme Leute!«, sagte er, und konnte nicht umhin die Achseln zu zucken und mitleidig zu lächeln, als er seinen, von ihm in einer schlaflosen Nacht erfundenen, einfachen und doch blitzschnellen Mechanismus mit diesen kostspieligen und doch weit hinter der Gegenwart zurückgebliebenen Mitteln zur Bewegung im Raume verglich. Demungeachtet verschmähte er indessen doch nicht, sich jener zahlreichen und kräftigen Arme zu bedienen, um seiner Maschine die notwendige Kraft zu verleihen. Dann setzte er sich auf dem einen Ende seiner Zugbahn, wie er sie nannte, hin, und befand sich in weniger als einer Drittelsekunde auf dem Gipfel eines Berges, den die Geographen nich immer vergessen haben, in den Landkarten aufzuführen.

Nachdem er abgestiegen war um die Gegend in Augenschein zu nehmen, fand er den Boden mit Papierdrachen besät, die ihre Bindfäden zerrissen und sich hier ein Stelldichein gegeben hatten. Dies schien ihm ein vortreffliches Mittel um sein Aufsteigen zu befördern, weshalb er auch keinen Augenblick zögerte, sich Hüften, Füße und Arme mit dem neuen aerostatischen Apparat gürtete und gleich weiter in die See des Aethers stach.

Anfangs ging es ganz vortrefflich und der Wind blähte seine Segel; bald aber lähmten widrige Luftströmungen die Kraft seines Vorspanns und er blieb eine halbe Stunde unbeweglich, wie ein Fixstern. Diese Situation fing an ihm mehr als seltsam vorzukommen, da ergriff ihn plötzlich eine günstige frische Kühle, und setzte ihn bei einer verlassenen Windmühle, die er durch die Dunstwolken hindurch bereits erblickt hatte, nieder.

Puff warf jetzt seine Flügel in alle Winde und ging in die Mühle; durch eine Öffnung, von der aus seine Blicke Land und Meer überschauten, sah er plötzlich die Wogen schäumen, kochen und aufwirbeln und ihm am Ende einer elastischen Spindel eine Depesche zuschleudern, die er voll Eifer ergriff, da er auf der Adresse Kracks Handschrift erkannte. Wir werden ihren Inhalt jedoch erst später mitteilen.

Indem er noch über die Mittel nachsann, durch deren Hilfe die dritte Phase seiner aerostatischen Odyssee sich erfüllen könne, sah Puff in einem Winkel alte Papiere und unter diesen das Hauptbuch des verschwundenen Müllers. Der Neugott durchlas dasselbe und es belehrte ihn, daß das eben so kühne als sinnreiche Werk, in welchem er sich befand, gebaut worden sei, um Tannen-Sägemehl in Griesmehl zu verwandeln. Die letzten Zeilen des Buchhalters berichteten, daß die Aktieninhaber zusammenberufen worden, um das Unternehmen auszulösen und das Inventarium sammt dem Gebäude zu verkaufen.

Gerade als unser Neugott diesen traurigen Trümmern großartiger Spekulation eine Zähre des Mitgefühls weihte, erschütterte ein heftiger Windstoß das luftige Haus. Puff erkannte alsbald den Nutzen der daraus zu ziehen war.

»Was Flügel hat, dessen Beruf ist es zu fliegen; eine Mühle hat Flügel, ergo«, lautete sein höchst logischer Schluß, der so vollendet war, daß er ihn gar nicht vollenden brauchte.

»Vorwärts«, rief er, »die Augenblicke sind kostbar und die Wirtshäuser sehr dünn gesät in diesem Landstrich.«

Bei diesen Worten machte er den Mühlstein los und warf ihn als überflüssigen Ballast hinaus. Die erleichterte Mühle erhebt sich von einem Windstoß gefasst in die Luft; ihre vier Flügel fangen an rasch zu arbeiten und von Neuem durchschneidet unser Neugott den blauen Aether.

Wechselweise der Erde nahe kommend und sich von ihr entfernend, erschien diese wunderbare Maschine, wunderbarer als die, welche dem Ritter von der Mancha wie ein Riese mit tausend Armen vorkam, um ihm Trotz zu bieten, der ganzen zivilisierter Welt als etwas unendlich Wunderbares; denn sie forderte die Vögel zum Wettflug heraus und entthronte den Dampf. Überall wurden, um sie zu begrüßen, die Hüte geschwenkt und mit den Taschentüchern wurde geweht.

Berauscht von diesem allgemeinen Enthusiasmus, der sich durch lautes Freudengeschrei äußerte, überhäuft mit Ruhm, aber nicht gesättigt, strebte Puff nach Erfolgen die noch weit größer waren. Die Idee, die Mühlenflügel an seinen eigenen Leib zu heften, fährt ihm wie ein Blitzstrahl durch den Kopf, und wird eben so schnell von ihm verwirklicht. Aus seiner fliegenden Arche, zum großem Erstaunen der verblüfften Menge steigend, erscheint er plötzlich wie ein ungeheurer Condor in den Lüften schwebend; dann aber nimmt er einen neuen Aufschwung und verschwindet jenseits der Wolken.

Aber ach, jedes Gestirn hat seine Erdferne und Erdnähe, seine Sonnennähe und Sonnenferne. Von seinen kühnen Flügeln getragen schwebt er über dem flammenden Krater eines Vulkans hin schon riecht einer von seinen Flügeln versengt…. Er verliert das Gleichgewicht — er wirbelt, im vollsten Sinne des Wortes … Himmel! Was soll aus ihm werden? Zerschmettert er seinen Schädel an einem Felsen, spießt er seinen Leib auf einer Kirchturmspitze, oder wird er, ein neuer Ikarus, dem Meere, das ihn verschlingt, seinen Namen geben?

Nein! Beruhigen Sie sich, gefühlvolle Leserinnen; Puff ist ja unsterblich. — Liebliche Schäferinnen, holde Schnitterinnen, vereinigt um den kühnen Hauptschmuck der Wiesen zu scheeren, haben den Tauber bemerkt, den des Jägers tödliches Blei traf. — Sie eilen herbei, um seinen Fall zu mildern; ihre Arme und ihre Schürzen strecken sich in edelstem Wetteifer aus, diesen göttlichen Mondstein aufzufangen. Glycere, Amaryllis, Phyllis, Galathee, Mimili, haltet Euch tapfer und mögen Eure Schürzen aus festem Gewebe sein!

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»Eine andere Welt« (21) — Kap. XIX: Der Tod einer Immortelle von Grandville und Plinius dem Jüngsten

Eintrag No. 753Zur Inhaltsübersicht.

Die Illustrationen einer alten französischen Ausgabe habe ich dem flick-Album von blaque jaques entnommen.

XIX. Der Tod einer Immortelle

Die Langeweile ist der Unsterblichkeit Kind. Homer.

Nachdem er sein Kautschuck-Beafsteak und das zweite Kapitel von Kracks Manuskript, beide gleich schwer verdaulich, zu sich genommen, geht Puff in einen Garten, um den Duft der Blumen zu atmen, und wird Zeuge eines Selbstmordes.

Wie süß ist es, in einem Garten zu lustwandeln, wenn auf den Fittigen der Frühlingslüftchen die Blumen ihre Düfte tauschen gleich eben so viel Boten der Liebe!

Wie süß ist es — aber lassen wir es dabei bewenden; wollte ich meiner Begeisterung freien Lauf lassen, so müßte ich sie steigern und in Versen fortfahren, und dazu habe ich mich nicht mit dem nötigen Vorrat an Reimen, langen und kurzen Silben und Flickwörtern für die Reise versehen.

Um die Wahrheit zu gestehen, so ging ich nur in diesen Garten, um fern von dem Treiben und Lärmen der Welt meine Verdauung besser abwarten zu können; die hier landesüblichen Beafsteaks liegen entsetzlich schwer im Magen. Es wird mir aber doch gelingen, mit Hilfe des guten alten Sprichwortes: Geduld, Vernunft und Zeit macht möglich die Unmöglichkeit.

Wie glücklich bin ich, die Sprache der Pflanzen und Vögel zu verstehen! Die Wissenschaft wird mir eine große Entdeckung mehr verdanken.

Als ich den Garten betrat, zog ein Schmetterling, der eine Immortelle umgaukelte, meine Aufmerksamkeit an; eine Spinne, die unter derselben Pflanze ihre Fäden gezogen hatte, sagte zu ihm:

»Du verspottest mein Netz, weil Du ein alter Praktikus bist, aber Deine Kinden könnten es bezahlen müssen. Ich bin indessen bereit, mit Dir ein Bündnis zu schließen. Ich werde Dich und die Deinen verschönen unter der Bedingung, daß Du mir Deinen Rücken leihst und mich hinträgst, wohin es mir beliebt.«

»Angenommen«, entgegnete der Schmetterling und setzt sich auf die Erde.

Die Spinne bestieg seinen Rücken und fort ging’s. Einen Augenblick verlor ich sie aus dem Gesichte, dann aber sah ich sie sich auf dem Wipfel eines Baumes am anderen Ende des Gartens niederlassen. Ich fragte mich, was die Spinne bewegen könne, solchen Unterricht in der Reitkunst zu nehmen — als Mittel gegen zu vieles Sitzen wandte sie es sicher nicht an — da gewahrte ich plötzlich einen langen siblernen Faden, der von dem Baum bis zur Immortelle gezogen war. Vermittelst der Bereitwilligkeit des Schmetterlings hatte nämlich die Spinne ihr Schlappseil ziehen können, auf welchem sie nun gar viele Seiltänzerstückchen mit und ohne Bancierstange ausführen konnte. Eben machte sie den gefährlichen Luftsprung, als der zarte Faden plötzlich riss und die Immortelle zugleich herzlich lachend ihren Stengel schüttelte.

Von jeher bin ich ein großer Freund der Akrobaten gewesen. Erzürnt setzte ich die die Immortelle daher zur Rede, warum sie der kunstreichen Spinne den an ihrem Stengel befestigten Faden zerrissen hatte.

»Um mir die Langeweile zu vertreiben«, antwortete sie freimütig. »Wenn man schon seine sechstausend Jahre gelebt hat und nicht weiß, wann man sterben wird, so ist jedes Mittel gut, sich Zerstreuung zu verschaffen. — Übrigens hat sie Spinne ihr Schicksal wohl verdient; sie bringt ihre Tage damit zu, die Schmetterlinge durch große Versprechungen zu hintergehen, und bedient sich ihrer Flügel, was sie jedoch nie hindert, die Nachkommenschaft derselben bei der ersten Gelegenheit zu verzehren. Du kannst mir’s glauben, mein Freund, eine Immortelle hat Erfahrung«

Eine Rose in unserer Nähe schüttelte ihre Blätter und öffnete ihren Kelch; süßer Duft verbreitete sich ringsum.

»Meine Nachbarin macht Toilette«, fuhr die Immortelle wehmütig fort. »Um die Rückkehr des Frühlings zu feiern, geben die Blumen und die Früchte einen Ball, den der Gott versprochen hat, durch seine Gegenwart zu verherrlichen. Siehst Du nicht die Vorbereitungen zu dem glänzenden Feste? — Die Nelke schminkt sich und streut ein Bischen Puder in das Haar; die Riecherbse, geschniegelt und parfümiert, eilt schon nach dem Ballsaal; die Kaiserkrone schmückte ihre Stirn mit Smaragden; die Lilien prunkt mit ihrem Kragen von feinem Batist; die Stiefmütterchen ordnen ihren sammetnen Kopfputz. Der Franzapfel hat die Georgine für den ersten Contretanz engagiert; der Quittenapfel walzt mit der Erdbeere, und macht schon lange einer Anemone den Hof. Die Birne sorgt für die Erfrischungen, denn man muß immer eine Birne für den Duft haben. — Aber ach, während sie springen, tanzen, lachen, muß ich den Abend mit einem alten Kaktus zubringen, der mich mit seinen Geschichten langweilt.«

»Sie sind also nicht zu dem Balle eingeladen, gnädige Frau?«, fragte ich bescheiden.

»Eingeladen?«, erwiderte sie. — »Verbannt haben sie mich; die Wolfsrachen und die Granatzweige, welche Schildwache vor dem Ballsaal stehen, würden mir den Eintritt verwehren. Es ist jetzt ungefähr tausend Jahre her, daß ich versuchte, mich dort zu zeigen; da ich aber nach Patchouli roch, so zeigte man mir die Tür unter dem Vorwande, die Damen könnten diesen Parfüm nicht vertragen. — Nach solcher Beleidigung wollte ich sterben; aber es war unmöglich, denn nicht umsonst war ich eine Immortelle.«

»Aber wie sind Sie das geworden, meine Gnädigste; ich kenne nur den ewigen Juden, der ein gleiches Privilegium hat?«

»Meine Geschichte ist folgende. Die Welt war eben zweijährig. — Von dem Stamme eines wilden Feigenbaumes beschützt, hatte ich meine Schwestern der Strenge des Winters erliegen sehn, ohne daß es demselben möglich gewesen, mich zu erreichen. Der Frühling kehrte wieder und durchzog die Lüfte, einen Korb mit Blumen auf die Erde ausschüttend. Er war so lieb, so mild, daß ich ihn bat, mich vom Tode zu befreien. Meine Wünsche wurden erhört; aber um welchen Preis! Mein Leib magerte ab und dörrte aus; meine Düfte entwichen, ich verlor alle Jugend und alle Frische; ich ward eine alter Jungfer. — So sterbe ich nicht, aber ich bin immer alt. Ich habe keine Hoffnung mehr, als daß die Götter selbst, von meinem Elend gerührt, mir eines Tages den Tod senden …«

»Wenn die Königin der Blumen, die Rose, sich zu einem Feste begiebt, von ihrem glorreichen Gemahl, dem Oleander, begleitet, so umringen tausend Anbeter den von ihren Sklaven getragenen Palantin. — Alle Blumen eilen dem glücklichen Paare entgegen und bringen ihre Huldigungen dar. — Ich dagegen stehe allein und verlassen da; mein ganzer Hofstaat sind einige zynische Schnecken, die wie Diogenes ihre Tonne herbeirollen und Schutz zu meinen Füßen suchen. — Einem jungen Lilienstengel gab ich zu verstehen, daß ich ihn liebte; er entfernte sich mit Abscheu von mir und nannte mich die Totenblume. — Der Kaktus allein ist meine einzige Erholung in der Einsamkeit. — Aber, o Gott, was muss ich erblicken!«

Ich sah mich um und gewahrte den herausgeputzten Kaktus, der sich schläfrig nach dem Ballsaal, einem Treibhause begab. Jetzt begriff ich die Verzweiflung der Immortelle.

Der Klang der Instrumente drang bis zu uns. Eine Insektenbande — herumziehende Prager — spielten die neuesten Walzer, Galoppaden und Polkas; das Flageolet der Grillen mischte sich zu der Klarinette der Heuschrecken; die Scheiben des Gewächshauses klirrten taktmäßig von den Sprüngen der Tänzer.

»O Götter!«, rief die Immortelle, »da mich die ganze Welt verläßt, gewährt mir den Tod!« — In demselben Augenblicke tat sie einen Ruck, riß sich selbst aus dem Boden des Beetes heraus, fiel der Länge nach hin, und flüsterte mit erlöschender Stimme: »Endlich kann ich sterben!«

Seit diesem Tage ist ein Immortellenkranz von Papier das Emblem des Genius.

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»Eine andere Welt« (20) – Kap. XVIII: Ein Nachmittag im zoologischen Garten (2) von Grandville & Plinius dem Jüngsten

Eintrag No. 750Zur Inhaltsübersicht.

Die Illustrationen einer alten französischen Ausgabe habe ich dem flick-Album von blaque jaques entnommen.

XVIII. Ein Nachmittag im zoologischen Garten

Alle Gattungen sind gut, nur nicht die unbekannte Gattung. Aristoteles.

Fortsetzung und Schluß des Vorigen.

»Ein gewaltiger Lärm, nicht weit von mir, mit Gelächter, Geschrei und anderem Toben untermischt, reizte meine Aufmerksamkeit. Ich begab mich dorthin und sah Individuen jeder Art, jedes Alters, Geschlechts und Standes; Näherinnen, Soldaten, Kindermädchen waren es, die den Rand einer weiten und tiefen Grube besetzt hielten. Es kostete mir einige Mühe, einen Platz zu finden. Doch gelang es mir endlich, Dank den Bemühungen einer alten Frau, welche mit Fischen, jungen Hunden und Kätzchen handelte, die, wie ich später erfuhr, den Bewohnern der Grube als Leckerbissen hingeworfen werden. Die hier aufbewahrten Bestien sind alle zweiköpfig; ihr zweiter Kopf sitzt nämlich am Ende der bekannten Verlängerung der Rückenwirbel, die man im gewöhnlichen Leben Schwanz zu nennen pflegt. Sie erfreuen sich sämmtlich auch doppelter Organe der Verdauung, vermittelst deren sie beständig zu fressen vermögen, denn wenn die Vorderseite satt ist, fängt die Hinterseite an ihren Hunger zu stillen, und ist sie befriedigt, so hat jene neuen Appetitt bekommen, zur fortwährenden großen Ergetzlichkeit des Publikums.

»Einer meiner Nachbarn erzählte mir, daß der Sohn eines Karpfens und einer Häsin in die Grube gefallen und alsbald doppelt verschlungen worden sei von dem jüngsten dieser Bären, der gerade, als ich ihn sah, sich anmutig auf die Vordertatzen stellte und seinen hinteren Schlangenhals lang ausstreckte, um ein Stück Kuchen zu erhaschen. Ein Soldat, der seinen Tzschako hate haschen wollen, den ihm der Wind vom Kopfe gerissen, hatte das Unglück, vom Hinterrüssel eines anderen Doppelrachen gepackt und in die Ewigkeit geschleudert zu werden. Man zeigte mir den Urheber dieser Missetat; er schließ als Elephant und spielte als Stör mit einer Kugel. Der Katalog ist voll von solchen Tatsachen; ich führe sie jedoch nicht an, damit man mich nicht des Plagiats beschuldige.

»Von Vögeln hatte ich bisher nur die heraldischen gesehen; jetzt aber befinde ich mich vor einem großen Vogelheerde. Das Verzeichnis liefert folgende Notiz über diese gefiederten Wesen.

Provisorische Gattungen

»Wir sind bis auf weiteres gezwungen, unter dieser Benennung diejenigen Vögel zusammen zu fassen, welche die Wissenschaft noch nicht zu klassifizieren vermochte; nicht als ob sie darauf Verzicht leistete (die Wissenschaft leistet auf Nichts Verzicht), sondern weil die Akademie noch nicht die Zeit hatte die Wörter zu bilden, welche dazu dienen sollen, diese neuen Gattungen zu bezeichnen. Vierzig Akademiker sind fortwährend damit beschäftigt und schon ziemlich weit vorgeschritten. Der erste Teil dieser Namen ist schon erfunden — denn jede scientistische Benennung muß aus zwei Teilen wenigstens bestehen — und der zweite Teil wird auch bald folgen. Diese Nomenklatur muß wenigstens jedem Gebildeten verständlich sein, bis zur Vollendung derselben muß es aber den Freunden der Naturwissenschaften anheim gestellt bleiben, wie ihre Phantasie diese Geschöpfe zu charakterisieren für gut findet.

»Das würde mich zu lange aufhalten, ich verzichte darauf. Übrigens täten die Gelehrten dieses Landes wohl daran, sich selbst zu bestimmen, ehe sie die Tiere bestimmen. Die sonderbare Erscheinung eines Menschenkopfes auf einem Tierkörper wiederholt sich jeden Augenblick und noch ist es keinem Philosophen gelungen, die Grundbedingungen dieses sonderbaren Dualismus zu ermitteln.

»Einige Besucher dieses Gartens hatten zu gleicher Zeit mit mir vor dem Vogelheerde Halt gemacht. Unter ihnen war ein kleiner Greis, halb Mensch halb Papagei, der tortz dem offiziellen Verbot einen geflügelten Lachs neckte; neben ihm stand seine Gattin, eine Dame, deren Körper in den Schwanz eines Haifisches auslief. Ihr Söhnchen, das sie an der Hand führte, fraß Gerstenzucker und stand auf den Füßen eines Kückens.

»Meine Verwunderung steigt; ich öffne von Neuem den Katalog und setze meine merkwürdigen Forschungen fort.

Die Hybriden

»Wiederkäuende Vögel, geflügelte Vierfüßler, vielhufige Insekten; alle diese Tiere sind im zoologischen Garten geboren, man verdankt diese Mischlinge der Sorgfalt des Herrn Professors der Zoologie. Sie zeugen wiederum gekreuzte Arten, welche unzählig sind wie die des Pflanzenreichs.

»Als die merkwürdigsten führen wir an: den Hirschstorch, den Bockfloh, den Gemsenkasuar, den Schneckenhasen, den Schneckenschmetterling, den Eulenkater, das Ibismandrill, die Stachelschweinmücke.

»Die Giraffenrhinoceros und Elephantenkäfer bilden eine eigene Klasse unter dem Namen: Läufer, welche keiner ethymologischen Erläuterung bedarf; sie lassen sich leicht zähmen und wären vortrefflich zum Reiten zu gebrauchen, da sie den Lokomotiven an Schnelligkeit gleich kommen. Die Regierung hat eigene Landesgestüte für ihre Erhaltung und Vermehrung errichtet und mehrere Liebhaber von Wettrennen folgten diesem erhabenen Beispiel. — Vermittelst dieser lobenswerten Bemühungen wird bald viel Geld im Lande bleiben.

»Alle diese äußerst friedlichen und sanftmütigen Tierarten leben sehr vertäglich in einem Teil des ihnen bestimmten Parks zusammen.

Nun komme ich zu einer großen Gallerie; sie ist für das Mineralreich eingerichtet, wie der Katalog besagt. Werfen wir uns auf das Mineralreich.

Krystallisationen
Petrefakten, Stalaktiten

»Die menschliche Intelligenz weiß den Erdball ihrem Willen zu unterwerfen; indem sie die Natur kopierte, stellte sie sich ihre gleich und entlieh ihr Farbe und Form.

»Die Architektur entwickelte sich ganz aus den verschiedenen Kystallisationen, Petrefakten und Stalaktiten. Die ägyptischen Pyramiden, die griechischen Säulenordnungen und die gothischen Spitzen haben keinen anderen Ursprung. Der Mensch schöpfte seine sinnreichsten und anmutigsten Erfindungen aus den Launen der Natur; er hat ihr Alles abgeborgt, von der Baukunst bis zu den Schmucksachen, von den Palästen bis zu den Telegraphen, von den Ordenskreuzen bis zu den Lichtauslöschern, von den Zuckerhüten bis zu den Pfundbroden, den Würfeln, den Dominosteinen u.f.m.



Seepflanzen, Muscheln, Madreporen.

»Wir haben eben gesehen, wie der Mensch von der Natur das Geheimnis der Künste borgte; jetzt überraschen wir die Natur, wie sie von dem Menschen Vorbilder entlehnt. Was sind denn die Seepflanzen anderes als eine genaue Reproduktion von Spitzen, Schnüren, Bürsten, Schirmen, Epauletten, Pompons, Federbüschen, Toupets, Kämmen und dergleichen mehr?



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