molochronik
Sonntag, 21. Oktober 2007

Borniertheit de Luxe, oder Marcel gesteht eine Lücke

Eintrag No. 415; — Bin grad wieder aus einer Ohnmacht erwacht, verursacht durch meine »FAZaS«-Lektüre.

In der heutigen Folge des munteren Kränzchens »Fragen Sie Reich-Ranicki« ist der wohl (lange Zeit) mächtigste Strippenzieher der Nachkriegsliteraturkritik so frei, auf zwei Anfragen die Science Fiction betreffend Auskunft zu geben. Ich paraphraisiere mal.

••• Der eine Fragende will wissen, wie es MRR mit der SF hält und nennt als Beispiele die Autoren Isaac Asimov und Stanislaw Lem (beide tot); der andere Fragende nennt auch Lem und will von MRR wissen, warum die hiesige Literaturkritik wenn, dann zumeist SF nur im Zusammenhang mit Toten (H.G. Wells, Jules Verne) würdigt.

Dem Marcel tut es erstmal leid, denn mit SF habe er sich nie ernsthaft beschäftigt. Ja, in seiner frühen Jugend habe er durchaus Verne und, ach, in den Fünfzigern auch Lem gelesen, aber Shakespeare, Schiller, Tolstoi, Teschechow, Flaubert und Fontane verdrängten diese dann. Zu Lem sei er nicht mehr zurückgekehrt, habe ihn aber in Warschau als höchst gebildeten, intelligenten, liebenswürdigen und sympathischen Menschen kennengelernt. Und noch mehr ausweichendes Erinnerungsgefasel am Gegenstand vorbei über eine Reise zusammen mit Lem durch die DDR im 56er-Jahr, wo die beiden nie über Literatur sprachen und überhaupt fand MRR die Unterhaltungen mit Lem zwar interessant aber auch anstrengend; so habe Lem nicht mitbekommen, dass MRR seine frühen Werke zwar amal gelesen hat, aber seine späteren gar nicht zur Kenntnis nahm. Und (wie überaus relevant für die Frage) der gute Lem habe MRR später ab und an in Hamburg besucht. Aber ganz wichtig: da war Lem schon ein berüüüüühmter Schriftsteller.

Zur Sache mit der gegenüber SF so ignoranten heimischen Literaturkritik weiß MRR korrekt zu konstatieren, dass dieses Genre trotz seiner Erfolge beim Publikum bei der Kritik nur dürftiges Echo zeitigt, und dass dies freilich kein Zufall sei. Woran das liegt (Achtung festhalten, jetzt kommt hochkonzentriertester Stuss): Die Vorzüge der Science Fiction-Prosa hätten nun mal mit Kunst (besser wohl: Kunscht) nichts zu tun! — »Womit denn dann?«, frag ich mich da. Mit Statik oder Statistik? Mit Teegebäck? Mit Feinrippunterwäsche? Oder gar mit diesen klebrigen Fuseln, die man nach einem 3-monatigen Suvival-Trekkingurlaub in Wales (oder Tirol) bisweilen ausm Bauchnabel zu puhlen vermag?

Abschließend bittet MRR nochmal um Verständnis und Nachsicht für diese seine (Bildungs- & Interessens-)Lücke.

Soviel Offenheit treibt meinen Puls zum ›Hau den Lukas‹-Spiel und läßt die Glocke dauerbimmeln.

  • simifilm

    • 29.10.07, 15:18

    … dann müsste sie witziger sein. MRR ist wenigstens unterhaltsam, Dein Blog-Eintrag dagegen frönt in meinen Augen primär dem SF-typischen beleidigte-Leberwurst-Syndrom. Du schreibst zwar dauernd, wie egal Dir MRR ist, so ganz nehme ich Dir das aber nicht ab ...

    Ach ja: Du verwechselst MRR konsequent mit einem Literatur-Wissenschaftler. Das war er nicht und das ist er nicht. Er ist Literatur-Kritiker. Und ich hoffe doch, dass MRR einen bestimmten Geschmack hat, den er leidenschaftlich vertritt. Nichts langweiliger, als ein Kritiker, der keinen eigenen Geschmack hat.

  • londo

    • 05.11.07, 22:30

    ...ist ein Fall für sich. Ich kann mich nur Michael Ende anschließen, der ihn in seinem "Satanarchäolügenialkohöllischen Wunschpunsch" sehr treffend parodiert hat - als "Büchernörgele", lt. Ende ist das "ein kleiner Gnom, der den ganzen Tag nichts anderes tut, als Bücher zu lesen und an ihnen herumzunörgeln". Ich selbst neige inzwischen dazu, Bücher, die MRR verreißt, in die engere Wahl zu nehmen :)

  • molosovsky Besitzerin

    • 07.11.07, 19:58

    Jetzt erst entdeckt, dass Dietmar Dath in seiner Rezi zu Pynchons neustem (und vielleicht letztem) Monsterschmöcker »Against the Day« ebenfalls Spott und Klage über die Bescheuklappheit weiter Teile des Lit-Establishments gegenüber Phantastik teilt.

    Die Hinweise aufs Textkontinuum spekulativer Phantastik sind wie die Kiesel von Hänsel und Gretel noch auf den dunkelsten Pfaden der Fabel zu finden; seien es Stoffe wie das »Tunguska-Ereignis« oder das Verschwinden der Anasazi-Indianer, die jedem heutigen Zuschauer von »Akte X« geläufig sind, sei es der Name Asimov — einer der bekanntesten Science-fiction-Autoren ist hier Namensgeber einer absurden Apparatur. Natürlich hat die Kritik, zumal in Deutschland, von alledem kaum etwas mitbekommen. Denn es ist zwar verboten, jemanden, der das Notenlesen nicht beherrscht, die Bayreuther Festspiele kommentieren zu lassen; aber über Stephen King darf schreiben, wer noch nie einen Horror-Roman in Händen gehalten hat, und zu William Gibson darf sich äußern, wer nichts von Bruce Sterling oder Harlan Ellison weiß. Nicht daß Kritiker alles kennen müßten; wenn sie aber weniger kennen als die gegenwärtige gebildete deutsche Leserschaft, die der bornierten Scheu vor Phantastik längst entwachsen ist, wird's bedenklich.
    Hervorhebung von Molo.

    Ich versinke ja diesetage genußvoll in »Against the Day« und bin hingerissen (mein erster Pynchen, nachdem ich »Die Enden der Parabel« nach einigen Seiten vor einiger Zeit lustlos abgebrochen habe). — Bin nach drei Tagen nun auf ca. auf Seite 130 (von 1200!) der englischen TB-Ausgabe und was ist das für ein wundervoller wüster Garn. Ein überwältigender Holterdipolter-Spiegelwelt-Monsterroman mit Luftschiff-Glücksrittern, Psycho-Detektiven auf der Weltausstellung in Chicago anno 1893, plutokratischen Kapitalistenbösewichtern a la George Hearst aus »Deadwood« mit ihren Helfershelfern denen einen Revolverkugel im Kopf steckt die für guten Empfang sorgt, dem schon aus »The Prestige« bekannten Echtwelt-Zauberer Nikola Tesla, einem in den USA nach neuen Sachen zum Abknallen gierenden Erzherzog Franz Ferdiand von Österreich, sprechenden Kugelblitzen, bombenwerfenden Anarchisten und und und … yummi!

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