Borniertheit de Luxe, oder Marcel gesteht eine Lücke
Eintrag No. 415; — Bin grad wieder aus einer Ohnmacht erwacht, verursacht durch meine »FAZaS«-Lektüre.
In der heutigen Folge des munteren Kränzchens »Fragen Sie Reich-Ranicki« ist der wohl (lange Zeit) mächtigste Strippenzieher der Nachkriegsliteraturkritik so frei, auf zwei Anfragen die Science Fiction betreffend Auskunft zu geben. Ich paraphraisiere mal.
••• Der eine Fragende will wissen, wie es MRR mit der SF hält und nennt als Beispiele die Autoren Isaac Asimov und Stanislaw Lem (beide tot); der andere Fragende nennt auch Lem und will von MRR wissen, warum die hiesige Literaturkritik wenn, dann zumeist SF nur im Zusammenhang mit Toten (H.G. Wells, Jules Verne) würdigt.
Dem Marcel tut es erstmal leid, denn mit SF habe er sich nie ernsthaft beschäftigt. Ja, in seiner frühen Jugend habe er durchaus Verne und, ach, in den Fünfzigern auch Lem gelesen, aber Shakespeare, Schiller, Tolstoi, Teschechow, Flaubert und Fontane verdrängten diese dann. Zu Lem sei er nicht mehr zurückgekehrt, habe ihn aber in Warschau als höchst gebildeten, intelligenten, liebenswürdigen und sympathischen Menschen kennengelernt. Und noch mehr ausweichendes Erinnerungsgefasel am Gegenstand vorbei über eine Reise zusammen mit Lem durch die DDR im 56er-Jahr, wo die beiden nie über Literatur sprachen und überhaupt fand MRR die Unterhaltungen mit Lem zwar interessant aber auch anstrengend; so habe Lem nicht mitbekommen, dass MRR seine frühen Werke zwar amal gelesen hat, aber seine späteren gar nicht zur Kenntnis nahm. Und (wie überaus relevant für die Frage) der gute Lem habe MRR später ab und an in Hamburg besucht. Aber ganz wichtig: da war Lem schon ein berüüüüühmter Schriftsteller.
Zur Sache mit der gegenüber SF so ignoranten heimischen Literaturkritik weiß MRR korrekt zu konstatieren, dass dieses Genre trotz seiner Erfolge beim Publikum bei der Kritik nur dürftiges Echo zeitigt, und dass dies freilich kein Zufall sei. Woran das liegt (Achtung festhalten, jetzt kommt hochkonzentriertester Stuss): Die Vorzüge der Science Fiction-Prosa hätten nun mal mit Kunst (besser wohl: Kunscht) nichts zu tun! — »Womit denn dann?«, frag ich mich da. Mit Statik oder Statistik? Mit Teegebäck? Mit Feinrippunterwäsche? Oder gar mit diesen klebrigen Fuseln, die man nach einem 3-monatigen Suvival-Trekkingurlaub in Wales (oder Tirol) bisweilen ausm Bauchnabel zu puhlen vermag?
Abschließend bittet MRR nochmal um Verständnis und Nachsicht für diese seine (Bildungs- & Interessens-)Lücke.
Soviel Offenheit treibt meinen Puls zum ›Hau den Lukas‹-Spiel und läßt die Glocke dauerbimmeln.
paliato
... regt mich schon gar nicht mehr auf. Damit, dass nahezu eine gesamte Literatursparte, die mitunter sehr intelligent und künstlerisch, mal direkt, mal abstrakt, an jedes erdenkliche Thema und auch oft nicht so leicht erdenkliche, heranzugehen weiß (natürlich gibts auch viel Stuss, aber das ist genauso wenig ein Argument wie es das bei jeder anderen Literatur wäre), größtenteils aufgrund von Unwissenheit, Vorurteilen oder falschen Eindrücken schlichtweg ignoriert wird, habe ich mich ziemlich gut arrangiert.
Man lächelt halt über diejenigen, die ihrer Unvernunft und Sturheit, der Meinung anderer, den Vorrang gewähren, die sich nur mit dem beschäftigen, was sie eh kennen, was schon hundertfach vorgekaut wurde.
Viele erfolglose Versuche, nicht nur die SF, sondern die gesamte Phantastik außerhalb von Hohlbein, Harry Potter und dem eher zwangsweise gelesenen Tolkien jemandem zugänglich zu machen, zu empfehlen, belehren dann doch eines besseren.
Manchmal gibt es jemanden, der offen ist, der dann auch mal reinliest (so konnte ich einem Freund Hyperion, einem anderen sogar noch Neuromancer und Asimov, er mir aber auch G.A.S. näher bringen und dafür begeistern), doch die Mehrheit der Menschen läuft ignorant durch die Welt und scheint nicht gewillt, und wenn gewillt, nicht in der Lage, auch zu handeln, die Fesseln zu lösen und die selbsterbaute Höhle zu verlassen.
Abgesehn davon geb' ich auf den Reich-Ranicki eh nichts ;)
frankweinreich
... MRR darauf aufmerksam zu machen, dass SF Fontane und Tolstoi mit anderen Mitteln ist (also Zeit- und Gesellschaftsanalyse und -kritik durch die Beleuchtung und/oder Kontrastierung mit fiktiven Situationen und Ereignisketten)?
Wohl nicht ...
... schade
Frank
molosovsky Besitzerin
Als Kasper des TV-Medienzirkus ist (oder war?) MRR erstmal ein Entertainer, macht also im Bereich ›Bücher für Bildungsbürger-Betulichkeit‹ in etwa das, was Harald Junke in Richtung ›Apologie für den Bon Vivant‹ leistete. Das korrumpiert freilich den ernsten Kritiker MRR, der sich schriftlich und als Herausgeber platziert.
Seine Meldungen zur SF sind halt exemplarisch. Einerseits sagen: »Ich habe mich nicht mit SF beschäftigt und keine Ahnung«, aber dennoch wissen wollen, dass »die Qualitäten der SF mit Kunscht nichts zu tun haben«. — Knieschussargument nenn ich sowas.
Man muss das nur umklappen: »Ich habe zwar noch nie einen Chinesen getroffen und kenne mich mit den Chinesen auch nicht aus, aber richtige Menschen sind diese Hundefresser nicht«. — Das ist ja unter anderem ›das Schöne‹ an Kunst und Unterhaltungsmedien: Hier gehen monströse Schwachsinnsaussagen noch als ›Geschmacksäußerung‹ durch, die in anderen Sachgebieten deutlich als Ungeheuerlichkeit auffielen.
simifilm
Das ist nicht, was MRR sagt. Er sagt nicht, dass SF 'keine Literatur' sei, sondern 'keine Kunst', was man hier getrost mit 'Literatur, die MRR interessiert' übersetzen kann. In Deiner Analogie müsste das dann heissen: "Chinesen sind zwar Menschen, aber keine Europäer", und das ist zweifellos richtig.
simifilm
… dann müsste sie witziger sein. MRR ist wenigstens unterhaltsam, Dein Blog-Eintrag dagegen frönt in meinen Augen primär dem SF-typischen beleidigte-Leberwurst-Syndrom. Du schreibst zwar dauernd, wie egal Dir MRR ist, so ganz nehme ich Dir das aber nicht ab ...
Ach ja: Du verwechselst MRR konsequent mit einem Literatur-Wissenschaftler. Das war er nicht und das ist er nicht. Er ist Literatur-Kritiker. Und ich hoffe doch, dass MRR einen bestimmten Geschmack hat, den er leidenschaftlich vertritt. Nichts langweiliger, als ein Kritiker, der keinen eigenen Geschmack hat.
molosovsky Besitzerin
Lustig, dass ich in Deinen Augen ein typischer beleidigter Leberwurst-SF-Leser bin. Was für ein typischer SF-Leser bin ich denn, Simi? Einer der ›SF-steht-druff‹-SF oder der Roth, Updike & Co-SF?
londo
...ist ein Fall für sich. Ich kann mich nur Michael Ende anschließen, der ihn in seinem "Satanarchäolügenialkohöllischen Wunschpunsch" sehr treffend parodiert hat - als "Büchernörgele", lt. Ende ist das "ein kleiner Gnom, der den ganzen Tag nichts anderes tut, als Bücher zu lesen und an ihnen herumzunörgeln". Ich selbst neige inzwischen dazu, Bücher, die MRR verreißt, in die engere Wahl zu nehmen :)
molosovsky Besitzerin
Richtig, Londo.
Michael Ende gehörte zu diesen Schriftstellern, die den MRR gar nicht mochten. Woran das wohl lag? Muss mal versuchen das rauszubekommen.
Den »Wunschpunsch« will ich ja noch lesen. Hab ja noch einige Ende-Bücher nicht gelesen und der Mann ist ja durchaus einer unserer wertvollsten Phantasten.
molosovsky Besitzerin
Jetzt erst entdeckt, dass Dietmar Dath in seiner Rezi zu Pynchons neustem (und vielleicht letztem) Monsterschmöcker »Against the Day« ebenfalls Spott und Klage über die Bescheuklappheit weiter Teile des Lit-Establishments gegenüber Phantastik teilt.
Ich versinke ja diesetage genußvoll in »Against the Day« und bin hingerissen (mein erster Pynchen, nachdem ich »Die Enden der Parabel« nach einigen Seiten vor einiger Zeit lustlos abgebrochen habe). — Bin nach drei Tagen nun auf ca. auf Seite 130 (von 1200!) der englischen TB-Ausgabe und was ist das für ein wundervoller wüster Garn. Ein überwältigender Holterdipolter-Spiegelwelt-Monsterroman mit Luftschiff-Glücksrittern, Psycho-Detektiven auf der Weltausstellung in Chicago anno 1893, plutokratischen Kapitalistenbösewichtern a la George Hearst aus »Deadwood« mit ihren Helfershelfern denen einen Revolverkugel im Kopf steckt die für guten Empfang sorgt, dem schon aus »The Prestige« bekannten Echtwelt-Zauberer Nikola Tesla, einem in den USA nach neuen Sachen zum Abknallen gierenden Erzherzog Franz Ferdiand von Österreich, sprechenden Kugelblitzen, bombenwerfenden Anarchisten und und und … yummi!
lucardus
und da war er ja auch kürzlich und hat über seinen neuen Roman geplaudert, bei 3sat, glaube ich, war es.
Ich warte mal, wie mir mein Mängel-Exemplar-Pynchon gefällt. Der ist für den Weihnachtsurlaub geplant ...