molochronik
Samstag, 6. August 2011

»Eine andere Welt« (18) – Kap. XVI: Liebesgeschichte des Gliedermännchens von Grandville & Plinius dem Jüngsten

Eintrag No. 743Zur Inhaltsübersicht.

Die Illustrationen einer alten französischen Ausgabe habe ich dem flick-Album von blaque jaques entnommen.

XVI. Liebesgeschichte des Gliedermännchen.

Deine Augen sind Sterne! Sterne sind Deine Augen! . . . . . . . . Sterne meiner Nächte! . . . . . . . . Wenn der Stern der Liebe aufgegangen . . . . . . . . Ist es möglich. Stern der Sterne? Fragmente aus deutschen Dichtern.

Geheime Denkwürdigkeiten aus der mythologischen Zeit. Eines Zephyr’s Autobiographie. — Die Rache der Venus. — Ein Gliedermännchen, das seine Flügel wieder erhält.

Es wäre vielleicht am passendem Orte genau zu berechnen, wie lange die Ohnmacht des Gliedermännchens dauerte; aber uns fehlen die algebraischen Formeln für derartige Aufgaben, und selbst Zacharias Dahse würde hier stecken bleiben, denn wer kann den Moment calculieren, wo die Knospe aufblüht und der Wassertropfen sich kristallisiert. So viel ist indessen gewiß, als er wieder zu sich kam, krähte der Hahn und verkündete das Wiedererwachen der Natur. Aurora zog ihre Rosahandschuh an, um mit zarter Hand den Vorhang der Nacht aufzuziehen und der Lampenputzer der Himmelslichter zündete die Sonnenstrahlen an.

Reize eines schönen Morgens, welches Wesen kann bei Eurem Zauber gefühllos bleiben? Das Herz des Gliedermännchens war nicht geschaffen Euch Widerstand zu leisten. Ein süßes Bedürfnis nach Mitteilung bemächtigte sich seiner Seele, der Hauch des Morgens gab ihm neue Kräfte; bald stand es auf. Die Gliedermännchen liebten es nicht, lange ausgestreckt zu liegen. Kaum war das unserige von Neuem auf den Beinen, als es mit einem schmerzlichen Seufzer ausrief:

»Junger Zeuge meiner Schwäche, ich darf Ihnen Nichts mehr verheimlichen: erfahren Sie also meine Geschichte.

»Unbekannten Eltern verdanke ich das Dasein. Eines Tages entschlüpfte ich den duftenden Lippen irgendeiner Nymphe, die vor Liebessehnsucht seufzte; so werden alle Zephyre geboren, denn wie ich Dir jetzt auch erscheine, ich bin ein geborener Zephyr.

»In dieser Eigenschaft trieb ich mich auf’s Geratewohl im Raume umher. Da keine sorgsamen Eltern meine Erziehung überwachten, so ward ich ein boshafter kleiner Taugenichts. — Ich schlüpfte in die versteckten Falten, spielte mit den Locken, lüftete die Schleier der Spröden und brachte den Kopfputz der Coquetten in Unordnung. Ein alter Faun, mein guter Freund, lehrte mich tausend Streiche, die unschuldigen Schäferinnen zu quälen, und ich ermangelte nicht seine Unterweisungen auszuführen.

»Eines Tages hatte ich mich zu einem Trupp Zephyre gesellt, die ihr Wesen in einem Walde trieben, als ich eine junge, allerliebste Schöne sich nähern sah, die kaum mit ihrem sentimantalen Halbstiefelchen den Rasen zu betreten wagte und fortwährend ängstlich um sich blickte; es handelte sich offenbar um ein Stelldichein. Augenblicklich gab ich meinen Kameraden ein Zeichen; wir näherten uns mit Zephyerschritten, umzingelten das holde Wesen und wetteiferten darin, sie zu quälen. Bald flatterte ihr Umschlagtuch in die Lüfte, bald schlug ihr Sonnenschirmchen um, bald wieder flog ihr Halstuch fort. Der alte Faun lachte hinter einem Baume versteckt, dass ihm der Bauch wackelte. Überrascht und erschreckt durch diesen gewaltsamen Angriff, gab das holde Kind sich alle erdenkliche Mühe uns Widerstand zu leisten; ich war jedoch am meisten darauf erpicht sie zu necken, als plötzlich meine Gespielen, der Faun und das junge Mädchen verschwanden, meine Flügel abfielen und ich mich allein, vier Fuß größer fand, mit einem mit Goldstaub betreufelten Barte, in einem Purpurgewande mit einem Rosenkranz auf dem Kopfe und einer Lyra in der Hand.

»Verzweifelnd und voll Entsetzen suchte ich mir die Ursache dieser Verwandlung zu erklären, da gurrte mir eine auf einem nahen Aste sitzende Taube Folgendes zu: — ›Ich bin der Vogel der Venus; Deine Bestrafung kommt von ihr. Du weißt, daß die Götter und Göttinnen mitunter die Gestalt gewöhnlicher Sterblichen annehmen, um deren Freuden zu teilen. Du hast Venus in einem Vergnügen gestört. Um Dich zu züchtigen verwandelte sie Dich in einen Menschen und noch dazu in einen Dichter; Deine frühere Gestalt erhälst Du nicht eher wieder, als bis Du lange verliebt in sie gewesen, und es ihr gefällt Dir zu verzeihen‹.

»Dies begab sich in der Umgegend von Rom, unter der Herrschaft des Kaisers Gallienus. Am Tage richtete ich Episteln an den Monarchen und in der Nacht dichtete ich Oden an Venus, um sie zu erweichen. Ich liebte sie in der Gestalt des Sterns. Bald sind es zweitausend Jahr, daß ich sie liebte, zweitausend Jahr, wo ich nicht aufgehört habe Poet zu sein, was nachgerade sehr ermüdend wird.

»So aber ereignete sich meine Umwandlung.

»Ich saß im Opernhause zu Berlin in einem Sperrsitz ruhig und guter Dinge, als eine Loge in meiner Nähe geöffnet wurde und ein wunderschönes Weib (Sie wissen ›wunder‹ ist die beliebteste Berliner Zusatzformel für alles, was den Berlinern imponiert, wenn es auch gar nicht wunderbar ist; dies Mal war jedoch die Bezeichnung richtig) also, als ein wunderschönes Weib darin Platz nahm. Aller Augen waren gleich dahin gerichtet. Man muss gleich mir das Feuer gesehen haben, das aus allen diesen Augen strahlte, um sich einen Begriff von der Schönheit der Unbekannten zu machen. Nie, ich schwöre es bei Liszt und Lind, war die Verwunderung rascher, allgemeiner, lebendiger. Ein Auge, das wahrscheinlich Archäolog war, rief entzückt: ›Das ist Venus selbst, wie sie leibt und lebt!‹

»Der Ausruf war keine Berliner Übertreibung sondern Wahrheit. Meine alte Natur erwachte; ich warf der Fremden einen brennenden Blick zu; sie schien mich huldvoll anzulächeln. Meine Verwegenheit trieb mich an, wieder so keck zu sein, wie ich es als Zephyr gewesen; ich passte ihr am Ausgange auf, und will ihr ein Briefchen in die Hand drücken; da wendet sie sich um, betrachtet mich stolz von oben bis unten und sagt: ›Du bist nur eine Marionette!‹

»Ach, dieser gräßliche Ausspruch ward zur Wahrheit! Das Blut erstarrte mir in den Adern, meine Gelenke verhärteten sich, meine Arme wurden länger, meine Beine, die vor Schrecken zitterten, schlugen zusammen und gaben einen klappernden Ton; ich sah meine Nase sich über die Maaßen verringern, und als ich meine Handschuh anziehen wollte, hatte ich hölzerne Hände. Ohne mir Rechenschaft geben zu können, von der Kraft, die mich fortriss, ward ich von der Erde emporgehoben und auf diesen Planeten hingesetzt. Die schöne Frau im Opernhause zu Berlin war Venus selbst gewesen; sie hatte mich auf die Probe stellen wollen, und, als sie den Himmel verließ, einen Nebel benutzt, der mir nicht gestattete ihre Abwesenheit zu bemerken. Nun ermessen Sie die Größe meines Falls!

»Seit diesem Augenblicke vegetiere ich als ein Verbannter hier auf dem verschlafenen Planeten, es ist ein totes Gestirn das als Sibirien oder Botanybai dient für Diejenigen, mit denen die Götter unzufrieden sind. Ich habe diesen traurigen Aufenthalt mit meinen Erinnerungen bevölkert, und mit großem Aufwand und Geduld die schöne Welt, von der ich scheiden musste, hier nacherschaffen. Als Gliedermännchen konnte ich nur über Automaten herrschen. Sie werden finden, daß mir die Fabrikation meiner Untertanen und die Verfertigung meines Königreiches leidlich gelang; trotzdem langweile ich mich aber entsetzlich und wäre glücklich, wenn ich oft die Gelenheit hätte, wie heute, meinen Schmerz in den Busen eines Freundes auszuschütten.«

Als er diese letzten Worte vernahm, konnte Schwadronarius sich der Tränen nicht enthalten und stürzte in die Arme des Gliedermännchens.

»Bringen wir uns nicht in Rührung«, sagte der Herr Zephyr, »lassen Sie mich die Geliebte betrachten; gerade jetzt pflegt sie auf ihrem Balkon die Kühlung des Abends zu genießen und das Leuchtfeuer anzuzünden, nach dem sich die Liebenden richten welche Nachts auf dem Meere der Liebe schiffen. Sehen wir, ob mir ihre Augen Hoffnung winken.«

Das Gliedermännchen legte das Auge an die Laterna magica und rief: »Oh Himmel!«

Schwadronarius wandte sich um und sah Nichts mehr, weder das Gliedermännchen noch die Laterna magica, nur ein kühler frischer Windhauch spielte mit seinen Haaren, woraus unser Neugott sich beeilte zu schließen, daß Venus dem Zephyr seine ursprüngliche Gestalt wiedergegeben hatte.

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