Selbstberuhigungsversuch
(Alltag) – Liebes Blog, heute mußt Du als Abladeplatz für meinen Seelenmüll herhalten. Morgen früh habe ich einen Termin bei der Arbeitsagentur und bin schrecklich nervös. Eine Gespräch über meine berufliche Situation steht auf der Tagesordnung, und eine detaillierte Aufstellung meiner Eigenbemühungen soll ich mitbringen. Knapp gesagt habe ich keine Vorstellung bei wem ich mich wie als was bewerben soll. Zwei meiner Ausbildungen sind wegen finanzieller Engpässe des Lehrherren abgebrochen worden, also habe ich vor drei Jahren Hilfe beim Arbeitsamt gesucht. Man hat mich damals zu einer Fortbildung zum Fachangestellten für Medien- und Infomationsdienste (Fachrichtung: Information und Dokumentation) vermittelt. Das klang gut und gab mit Hoffnung. Seit ich 14 bin strebe ich nach einem Job, der mit Büchern zu tun hat. Die zweijährige Fortbildung (die in meinem Fall als Ausbildung zählte) war ein Scheingeschäft, schlecht organisiert. Mit Hängen und Würgen wurde hinter den Kulissen geschoben und gedeixelt und den Schülern am Ende der Abschluß nachgeworfen. Wert ist das Papier nichts. Am Ende der zwei Jahre hatte ich nicht nur nichts gelernt, sondern ging verstört und eingeschüchtern nach Hause, orientierungslos, entmutigt und kaum noch zum selbstständigen Arbeiten im Stande. Es ist niederschlagend, von bestimmten Lehrern Komplimente für rasche Auffassungsgabe und originelles und kritisches Denken zu bekommen, aber von Klassenkollegen und Organisatoren schief angeschaut zu werden mit der Aufforderung das Maul zu halten, keine Unruhe zu verbreiten. Und mit Unruhe verbreiten war zum Beispiel mein Appell gemeint, daß die Schüler, welche über den zu anspruchsvollen Englischunterricht jammern, lieber beginnen sollen ein Vokabelheft zu führen, statt sich über zuviele unbekannte Wörter zu beschweren.
So sitz ich seit einem Jahr herum, mit einem gigantischen Minderwertigkeitskomplex, da ich mich selbst wahrnehme als jemanden, der zu bescheuert zum Schleimen und Lügen ist, der kaum noch Vertrauen fassen kann zu Ämtern und Institutionen. Spätestens jeden dritten Tag verbringe ein bis zwei Stunden im Netz mit Durchforsten von Stellenanzeigen. Aber da ich weder Student, noch weiblich noch besonders kräftig bin, keinen Führerschein habe und keine nachweisbaren Qualifikationen für eigenständige Bürotätiogkeiten habe, finde ich sehr selten Stellenangebote, auf die ich mich bewerben könnte.
Sehnsuchtsvoll halte ich Ausschau nach Gelegenheiten nützlich sein. Gerne hätte ich einen Job in einem Kino, einem Kiosk oder einem Geschäft, das annähernd mit Dingen handelt, von denen ich eine Ahnung habe. Callcenter- und anspruchslosere Büroarbeiten habe ich drei Jahre lang in Frankfurt erledigt, immer in Bereichen, die mich auf Dauer elend fühlen ließen: Leasing, Pharmazie und Finanzen. Selbst wenn ich nur stupide Datanverarbeitung zu erledigen hatte, brachten mich zum Beispiel die Geldbeträge, die ich einzutippen hatte ins Schwitzen. Ab einem Betrag von 500 Euro verliehre ich alle Nerven und habe panische Angst vor Fehlern. Wo mein Perfektionismus früher gute Dienste leistete, wenn es ums Zeichnen oder Schreiben ging, stand er mir bei diesen mich befremdenden Dingen nur im Weg. Heute pendle ich ziellos zwischen Korinthenlegerei und nachlässigster Laschheit.
Einen Lichtblick gibt es derzeit: einen Job als Neugestalter und monatlicher Auffrischer einer Webseite. Soetwas habe ich ansatzweise schon gemacht, auch wenn ich weit davon entfernt bin, wirklich sicher mit diesen Dingen umgehen zu können. Aber wenigstens kann ich ohne großen Druck für jemanden etwas nützliches machen und werde auch bezahlt. Kann üben und Selbstwertgefühl tanken. Gut.
Um meine Nerven bis morgen zu beruhigen, bin ich heute am aufräumen, wäschewaschen, spühlen und staubsaugen und zwischendurch verschlinge ich den neuen Roman von Miéville (»Iron Council«).
Liebe Leser, ich hoffe Ihr könnt meine aufdringliche Seelenwäsche verzeihen. Über Rat und Hinweise, was ich tun soll wäre ich sehr froh.
Hella
"So sitz ich seit einem Jahr herum, mit einem gigantischen Minderwertigkeitskomplex, da ich mich selbst wahrnehme als jemanden, der zu bescheuert zum Schleimen und Lügen ist, der kaum noch Vertrauen fassen kann zu Ämtern und Institutionen. "
Auf daß dein Sachbarbeiter (oder heißt das bei euch jetzt auch "Fall-Manager"?) auch einer sei, der zu bescheuert zum Schleimen und Lügen ist, also ein Mensch und kein Roboter.
david ramirer
bei allem verständnis, hella, was du damit dem lieben alex sagen willst, was ich übrigens nur voll unterschreiben kann, dennoch ein aber: welche roboter sind in der lage zu schleimen und lügen? in der geschichte der KI wäre das ein riesensprung vorwärts.
"menschenroboter" aber, die das schleimen und lügen, buckeln und treten zum eigenen programm gemacht haben, die gibt es sehr viele, leider leider "gottes".
zum glück gehört alex da nicht dazu, und darüber bin ich auch sehr froh. toll wäre wirklich, wenn sein arbeitsamtzuständiger der gleichen gattung angehören würde.
Hella
Mit dieser Frage, lieber David, hatt' ich gerechnet; und meine Antwort ist: daß ich, wenn ich von Robotern spreche, genau jene meine, die du als "Menschenroboter" bezeichnest. Vgl. Günter Anders, Die Antiquiertheit des Menschen.
molosovsky Besitzerin
Hallo Hella, hallo David.
Puh, komme gerade von der Agentur und bin (wie immer) völlig euphorisiert, weil niemand mir gedroht hat. Diesmal war der Berater eine Beraterin. Die Dame hatte viel Verständnis, hat mir so gut sie vermag Mut zugesprochen (ich solle doch im sozialen Bereich herumtelephonieren wegen – auch wenn nur ehrenamtlicher – Mitarbeit; ich solle mich um Praktikas künmnern {als was, bei wem?}). Schließlich hat sie empfohlen, ich solle die Gelegenheit wahrnehmen, im Ausland nach Arbeit zu suchen, am besten in Amerika. Naja, da ist auch noch meine Partnerin Andrea, die erstmal mit ihrem Studium fertig werden muß. Andrea hängt mit ihrem Herzen zwar sehr an ihrer Heimatstadt Frankfurt, denkt aber auch darüber nach ins Ausland zu gehen. Diesertage ist mein Lieb in der Schweiz auf Uni-Exkursion und hat gestern abend schon berichtet, sie hätte ihren Altersitz in Basel gesehen (schönes altes Haus am Kanal mit Enten); aber ich geh auch gerne nach England, Irland, Amiland oder sehr gerne auch wieder nach Wien. Na lieber David, vielleicht sehen wir uns in 2 oder 3 Jahren wieder regelmäßiger :-)
@Hella: Deine Unterscheidung Roboter/Mensch ist schon ganz gut. Ich selbst empfinde diese geschlossenen Kreise der Paragraphenfetischisten und Ellenbogensportler ehr wie diese Verschwörungen parasitärer Außerirdischer, die sich in Menschen einnisten und aus ihnen mittels direkter Hirnmanipulation Marionetten ihren finsteren Pläne machen.
Vielen Ihr zwei, für die netten Zeilen.
(Und Alex macht sich ans Bewerbungsvorbereiten zum bei-Bekannten-Ausdrucken, weil eigener Drucker kaporres.)
corinthas
Ich befide mich in eine ganz ähniche Situation.
Hab' wenig Fachausbildung, hab' auch keinen Führerschein und bin auch nicht weiblich.
Wenn heir jemand die "Discworld" Bücher von Terry Prachett kennt, habe ich viel mit seiner Rincewind person gemeinsam. Ich bin auch aus der Uni ausgestiegen, und hab' ein Schprachtalent. ;p
Tja und hier bin ich, in diesm mühsamen Callcenter um mir meine Euros an zu schaffen.
Hatte schon überlegt um wieder zur Schule zu gehen aber ich leide auch an diesem schwerem Mistrauen von Ämtern und Institutionen.
Tja was nun?
What to do or what not to do that is the question. Be it nobler in the mind to endure the slings and arrows of institutions or to take up arms against a see of offices and by opposing end them?
{/ Hmmm...
Hella
Gut, lieber Molosovsky, daß du es nicht mit einer dieser entseelten Zicken zu tun hattest. Auch gut, daß du dir vorstellen kannst, ins Ausland zu gehen. Doch ... aber hierzu wird Quirinus in den nächsten Stunden etwas schreiben.
Dir und allen Nichtrobotern einstweilen noch einen schönen Restsommertag!
Nachtrag: Inzwischen ist der Artikel fertig. Er trägt die Überschrift:
Geht doch nach drüben!
andreaffm
letzten sonntag saß ich am mainufer und meditierte. und kam zu dem ergebnis: ich muß hier weg.
dann fuhr ich nach basel, und da wurd's gleich noch schlimmer.
fakt ist: deutschland ist häßlich. deutschland ist von vorne bis hinten zwangsneurotisch. deutschland hat keine lebensqualität und will auch keine haben. und alles, weshalb man bisher hiergeblieben ist (der job, das geld, und die kultur, die von diesem geld quersubventioniert wird) - all das geht allmählich den bach runter. übrig bleibt ein haufen arbeitsloser, der sich gegenseitig das leben so schwer wie möglich macht - weil der einzige sinn, den das leben lange hatte (schaffeschaffeschaffe), weg ist. na toll.
wenn irgendwer nach drüben geht: ich komm gern mit. (wobei frankfurt wirklich noch eine der angenehmeren städte ist.)
molosovsky Besitzerin
Danke corinthias für die lustige Variante auf Shakespeare. Arbeit im Callcenter hab ich auch gemacht. Vor allem das Verkaufen war mir zu brutal. Inbound arbeiten, Anrufern helfen kann sehr erbaulich sein. Zu Helfen ist was feines. Aber irgendwelchen Fremden die Zeit stehlen, um ihnen einen überflüssigen Kram aufzuschwatzen frißt flott Lebensgeister. Ich drück Dir die Daumen und wünsch Dir Kraft für den Job (und Glück zum Ausbruch, Weiterkommen).
Ich bin baff über die Reaktionen bisher. Ich oute mich als höchst verkorster Depp. Sollte ich damit womöglich eine Modewelle, eine Bekenntniswelle auslösen, oder bin ich unwissend Teil einer solchen? »Zu blöd für diese Zivilisation« und auch noch stolz drauf. Nein, stolz bin ich nicht. Ich wüßte gerne, wer die Leute sind, die ich zum meinem persönlichen Nutzen verführen und blenden kann, ohne wegen grummelnden Gewissens zu scheitern. Vielleicht habe ich mich als ehemals hyperaktiver, lauter, aggressiver Mensch zu stark gezügelt, meine physisch emmitierende Energie zu stark nach »Innen« umgeleitet, und ein unbescholterens Leben in solcher Verfassung steht mir als Untermittelschichtkind nicht zu?
Meine Zeit als Künstler zum Beispiel war beendet, als ich bei der Mappenschau in einer deutschen Kunsthochschule von einzelnen Profs. als künftiger Schüler herzlich imaginiert wurde; doch wußten die nicht von meiner Abiturlosigkeit und so hatte ich zwar von 250 Einreichern eine der drei Mappen mit Note 2.0, aber ohne Abitur war für mich (per Landesgesetzt) eine glatte 1.0 für eine Zulassung zur Aufnahmeprüfung definiert. Eine 1.0 hat es in der über zwanzigjährigen Geschichte der Schule aber nie gegeben, da 8 Profs. die Mappen beurteilen und einer von denen immer ärge Mängel findet.
Zwangsrechtshändigkeit, Zivildienst, dies und die Fortbildung sind die in Deutschland erlebten Lebensabschnitte, die mich nach unten formatiert haben.
Über Literatur und Kunst aller Zeiten und Länder habe ich mir angeeignet, mich in Zeiten hineinzuempfinden, in Gruppenpsychen zu denken, Kulturstimmungen zu extrapolieren. Hierzulande eine selbstgefährdende Fertigkeit.
Und Andrea: There has to some way out of here. Abgemacht.
P.S.: Wer dies alles gelesen und mich und meine entblödenden Entblößungen komplettamente beknackt findet und mich für ein weinerliches armes Würstchen hält, Euch sei versichert: Wir sind einer Meinung.
Hella
"Über Literatur und Kunst aller Zeiten und Länder habe ich mir angeeignet, mich in Zeiten hineinzuempfinden, in Gruppenpsychen zu denken, Kulturstimmungen zu extrapolieren. Hierzulande eine selbstgefährdende Fertig[k]eit."
Nicht nur hierzulande, sondern überall dort, wo die die Menschen besoffen sind vor lauter Wirtschaft.
molosovsky Besitzerin
Wobei ich an Wirtschaft glaube. Nur kann ich eine notwendige Unstellung von Akkumulations- und Kapitalwirtschaft auf Äquivalenz- und Konvivialwirtschaft eben nicht erwarten, wohl wegen dem mulmigen Gefühl, daß ich diese Umstellung nicht mehr erlebe. Doch doch, trotz allem halte ich Wirtschaft für eine geeignetere Basis einer Planetenbevölkerung, als sagen wir mal Religion oder Politik.
••• ERGÄNZ: Diesen Gedanken habe ich ausführlicher weitergetrieben, im oben beriets von Hella erwähnten Beitrag »Geht doch nach drüben«. •••
uadalrik
Rat und Hinweise habe ich leider nicht für dich. Für mich ist es ein Marktversagen, wenn du an der Kunsthochschule nicht angenommen wirst. Zwar ist eine Zugangsbeschränkung zu Hochschulen sinnvoll, z.B. durch Abitur. Auf der anderen Seite sollten sich die Hochschulen ihre Studenten und Dozenten auch selber aussuchen dürfen. Ich habe kein Verständnis dafür, dass Menschen alleine aufgrund ihrer erreichten Machtposition (Politiker) Ehrendoktorwürden erlangen und Lesungen halten, aber überaus talentierten Personen der Zugang verweigert wird. Das macht mich wütend.
Auf meiner Schule war ich einer der besten des Jahrgangs, habe niemanden gestört und mich recht normal verhalten, d.h. irgenwelchen Quatsch habe ich nicht mitgemacht. Die Quittung war, dass etliche Leute im Abi-Jahrbuch über mich herzogen. Lieber Molosovsky! Ich habe ähnliche, aber keine so tiefgehenden und weitreichenden Erfahrungen gemacht wie du. Insofern sollte ich glücklich sein und darf mich nicht beklagen. Schließlich liegt mein Uni-Abschluß in erreichbarer Nähe. Freunde habe ich keine, dafür vielen Menschen oft geholfen.
Mal ehrlich, nach Jammern klang das nicht, was du geschrieben hast. Eher interpretiere ich das so, dass vieles im Argen liegt in Deutschland.
Alles Gute und viel Erfolg! Ulrich