»Jonathan Strange & Mr. Norrell«: Das Blog-Seminar von Crooked Timber über und mit Susanna Clarke. Deutsche Fassung
Eintrag No. 309 — Was macht Molo der Phantast in seiner Freizeit? Dicke Bücher zweigleisig auf Englisch und Deutsch lesen, und vor lauter Begeisterung für die Materie dazu passende Sachtexte übersetzten. Nun konnte ich endlich wieder einmal eine bei meinem Vormichhinbosseln für die Sache der Phantastik gezüchtete größere Frucht ernten, und gönne mir also, mit ein wenig Stolz und der für einen (und erst recht Möchtergern)-›Privatgelehrten‹ angebrachten Bescheidenheit, eine anregende Sammlung mit fünf Essays über den exzellenten Fantasy-Roman »Jonathan Strange und Mr. Norrell« (2004) von Susanna Clarke, sowie die Antwort der Autorin darauf, dem deutschen Literaturpublikum anbieten zu können.
Vielend Dank an den Malzan'schen Freund und Retter, den TeichDragon aus dem BibPhant-Forum. (Ich bin im Augenblick ganz feierlich vor lauter Phantastik-Internet-Kammeraderie).
Ich hoffe, die gegebenen PDF-Links zur deutschen Fassung funktionieren. Falls es Probleme gibt, schick ich das ca. 1MB größe Dokument auch gern per eMail. Zwecks Kontakt, siehe unten. — Die einzelnen Seminarbeiträge habe ich auch als Kommentare zu diesem Molochronik-Eintrag hier eingepflegt, für die ganz Harten, die so viel Text am Bildschirm lesen mögen. Es sind 53 PDF-Seiten mit 103 Fußnoten. Falls also Ihr Browser mit diesem Molochronikeintrag inkl. seiner Kommentare etwas lahmen sollte, wundern sie sich nicht.
Auf das hervorragende englische Gruppenblog Crooked Timber habe ich in der Molochronik schon einige Male verwiesen. Ein Jahr ist's her, daß die akademischen Freunde der Phantastik dort ein Seminar zu dem voluminösen Roman von Susanna Clarka veranstaltet haben.
Hier Henry Farrells einleitende Worte vom November 2005.
Die Namen-Links der einzelnen Autoren und Autorinnen führen zu den englischen Originalfassungen bei Crooked Timber, die Essay-Titel-Links zu den hier in den Kommentaren gelieferten deutschen Fassungen.
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John Quiggin behauptet in Die Magisch-Industrielle Revolution, daß der Roman zu den Ursprüngen der Science Fiction zurückkehrt, weil er sich mit den Auswirkungen der Industriellen Revolution auseinandersetzt.
Maria Farrell legt in Die Schürfgründe der Historie dar, wie der Roman geprägt ist vom Aufeinanderprallen zweier Welten: auf der einen Seite ein Regency England wie man es sich entsprechend der Romane von Jane Austen und anderen ›romance novels‹ vorstellt, und dem tatsächlichen Regency Engand auf der anderen Seite.
Belle Waring fragt in sich Wer erzählt Jonathan Strage & Mr. Norrell, und sind die Zauberinnen geblieben?, wer die Erzählstimme des Buches ist, und wo die Zauberinnen geblieben sind (und sie mutmaßt, daß beide Frage zur selben Antwort führen).
John Holbo richtet in Zwei Geddanken (Über christliche Zauberer und Zwei Städte) seine Aufmerksamkeit auf Zauberei, Ironie und die Darstellung von Dienern durch Clarke.
Henry Farrell ist in Rückkehr des Königs der Ansicht, daß eine Kritik an der englischen Gesellschaft die versteckte Geschichte von Jonathan Strange und Mr. Norrell ist.
Auf all das antwortet zuletzt Susanna Clarke mit Frauen und Männer; Diener und Herren; England und die Engländer.
Wie schon frühere CT-Seminare wird dieses hier unter den Creative Commons Lizenz-Bedingungen veröffentlicht (Namensnennung-NichtKommerziell 2.5). Das Copyright der zitierten Passagen aus Jonathan Stange und Mr Norrell oder anderer Texte wird gemäß der Gepflogenheiten redlicher Verwendung nicht beeinträchtigt.
Die Kommentarfunktion zu den einzelnen englischen Seminarbeirägen sind im Crooked Timber-Blog freigeschaltet. Wir möchten dazu ermuntern, allgemeine Kommentare bei Susannas Beitrag zu platzieren, denn dort wird die Hauptdiskussion geführt; wer spezielle Anmerkungen zu einem der Seminarbeitäge anbringen möchte, kann das in den Kommentaren zum jeweiligen Beitrag machen.
Dieses Seminar ist auf englisch als PDF verfügbar, für alle, die Texte lieber ausdrucken und auf Papier lesen.
— Henry Farrell, November 2005.
Zur Übersetzung des Seminars
Anders als in der englischen Originalfassung, habe ich die Quellenangaben der Zitate in dieser Übersetzung als Fußnoten formatiert. Zudem habe mir erlaubt, die Fußnoten um hilfreiche Fußnoten für die deutschen Leser zu ergänzen. Da ich kein ausgebildeter, professioneller, sondern nur ein (hoffentlich im positiven Sinne des Wortes) ›dilettantischer‹ Hobbyübersetzer und ›Edel-Phantastik-Fachdepp‹ bin, bitte ich etwaige Fehler und Ungereimtheiten, die Ihnen auffallen mögen nicht allzu Übel zu nehmen.
Über entsprechende Korrekturmeldungen würde ich mich freuen und bin im Voraus dankbar dafür. Auch den Damen und Herren der JvG-Universitätsbibliothek, sowie der Deutschen Bibliothek zu Frankfurt/M bin ich für ihr freundliches Entgegenkommen zu Dank verpflichtet.
— Alex Müller / molosovsky, November 2006.
Korrekturmeldungen bitte per eMail an molosovsky@yahoo.de richten (Sternchen weglassen)
Beginn der Arbeit an dieser Übersetzung: 16. Oktober '06.
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molosovsky Besitzerin
John Quiggin: »Die Magisch-Industrielle Revolution«
Auf eine gewisse Art handelt die gesamte Science Fiction von der Industriellen Revolution. Das Genre tritt mit der Erstveröffentlichung von Mary Shelleys Frankenstein: Ein Moderner Prometheus 1818 hervor. Auf die offensichtlichste von vielen Bedeutungsschichten, die sich in dem Werk finden lassen, macht schon der Nebentitel aufmerksam, nämlich jene Allegorie über die Industrielle Revolution und wie diese Umwälzung Kräfte entfacht, die ihre Schöpfer nicht mehr zu kontrollieren vermögen. Dies ist in den unterschiedlichen Formen das Grundthema des Genres geblieben.
Diesem prometheus’schen Thema der Science Fiction entgegengesetzt, ist der offen reaktionäre Medievialismus von Tolkien und den meisten seiner Nachfolger (»Es ist nicht unwahrscheinlich, daß sie {die Orks} einige von jenen Maschinen erfunden haben, die seither die Welt verheeren, besonders jene ausgeklügelten Vorrichtungen, die Massen von Lebewesen auf einen Schlag vernichten, denn Räder, Maschinen und Explosionen erfreuten sie schon immer«).[1]
Lange waren alternative Verläufe historischer Ereignissen nur Anlaß für Fingerübungen, wenn man sich z.B. ausmalte, was geschehen wäre, wenn Paul Revere's Pferd gelahmt hätte [2], doch haben alternative Geschichtswelten neue Möglichkeiten erschlossen, sich der Problematik der Industriellen Revolution zu nähern. Nach einer Phase, in der man schon dachte, daß die spekulativen Geschichten Gefahr laufen auszustreben, war das fiktionelle Potential des 18. und 19. Jahrhunderts die große Entdeckung der letzten Jahre. In diesen Jahrhunderten war die Umwandlung des Lebens durch Wissenschaft und Technologie, also die Moderne, noch jung und aufsehenerregend.
Susanna Clarke gibt mit JS&MN dem Rad der Alternativgeschichte neuen Schwung, indem sie sich einen Anfangszeitraum ausdachte, an dem sich die alternative mit der tatsächlichen Historie vereinte. Das Georgianische England von Clarke mutet ganz wie das Original an, hat aber eine Vergangenheit in der im Norden des Landes Zaubererkönige bis irgendwann ins 14. Jahrhundert hinein herrschten.
Aus Gründen die nie völlig geklärt werden, ist Zauberei verschwunden und zum Beschäftigungsfeld für Gentleman-Antiquare, ›theoretische Zauberer‹ geworden, die niemals tatsächlich zaubern. Deren angenehme Club-Zusammenkünfte werden plötzlich gestört durch das Auftauchen eines ›angewandten Zauberers‹, des seltsamen Gilbert Norrell. Zu diesem gesellt sich Jonathan Strange als Schüler und möglicher Rivale.
Von den beiden ist Strange im Umgang und Aussehen um einiges angenehmer, auch wenn Äußerlichkeiten täuschen mögen. Moralische Skrupel stehen ihm kaum im Weg, er schließt sich Wellington an, indem er magische Verwüstung auf Napoleons Armeen los läßt, auch wenn Strange danach oft Probleme hat, die Welt wieder in Ordnung zu bringen.
Das Wiederauftauchen von Zauberei in dieser fiktionalen Welt (in der die Industrie kaum erwähnt wird), fällt zusammen mit den aufstrebenden Technologien der Industriellen Revolution. Norrell entspricht dabei ganz dem Bild des modernen Forschers, der sich nach üppigen Geldquellen umsieht, der betont, daß magische Technologie umsichtig und praktisch in der Landwirtschaft, oder zur Sicherung der Küsten und ähnlichem angewendet werden sollte. Und Norrell hat auch die Laster, die einem zu diesem Forschertyp einfallen: mißtrauisch wacht er über sein geistiges Eigentum, hortet Informationen usw.. Derweil ist auch Strange munter und heißt die revolutionären Möglichkeiten der Zauberei willkommen.
Aber es ist nicht Strange sondern Norrell, der die Pforten zum Chaos öffnet, als er den altbekannten Fehler begeht und sich auf einen scheinbar vorteilhaften Handel mit dem Elfenkönig von Verlohrene Hoffnung einläßt. Um die hübsche junge Gemalin von Sir Walter Pole vor dem Tot zu retten, überläßt Norrell dem Elfenkönig das ›halbe Leben‹ der Frau. Doch der Elfenkönig nimmt nicht die zweite Hälfte eines 70 Jahre langen Lebens, sondern zwingt die Dame jede Nacht auf seinen endlos-trübsinnigen Empfängen zu tanzen.
Verlohrene Hoffnung bildet die Verbindung zur dritten Hauptfigur des Buches, den ›namenlosen Sklaven‹ Stephen Black, einem schwarzhäutigen Diener des Pole-Haushaltes. Der Elfenkönig findet Gefallen an Black und will aus ihm den nächsten König von England machen. Dieses Ziel strebt der Elfenkönig mit amoralischer Rücksichtslosigkeit an, ohne sich um das Leiden das er dabei bewirkt zu kümmern. Zum Schluß allerdings ist es sein eigenes Königreich Verlohrene Hoffnung, dessen König Black wird.
Das Buch endet mit einem Schwarm an nur vage absehbaren Möglichkeiten. Norrell und Strange sind aus England verschwunden, die Zaubererei hat den Norden des Landes verwandelt, sehr ähnlich, wie in den tatsächlichen Geschehnissen zum Ende der Napoleonischen Kriege. Das scheint den Weg zu einer Fortsetzung (oder Trilogie) nahezulegen, die wir mit Spannung erwarten.
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molosovsky Besitzerin
Maria Farrell: »Die Schürfgründe der Historie«
Als letzte die ihren Text über JS&MN schreibt, genieße ich den Vorteil die Beiträge meiner krummholzigen Kollegen gelesen zu haben, und einige ihrer Themen aufgreifen zu können. Henry macht darauf aufmerksam, daß JS&MN auf den ersten Blick als Gesellschaftskomödie beginnt, um sich aber letztlich zu etwas sehr viel Ernsterem zu entwickeln. Dem stimme ich zu. Ich denke, JS&MN behandelt das von der Unterdrückung der Vergangenheit entfesselte Vergessen und Wiedererinnern, und befreit diese Vergangenheit von »der gewaltigen Herablassung der Nachwelt« um eine berühmte Wendung von E.P. Thompson [2] aufzugreifen. John Holbo merkt an, daß ein Jane Austen-artiger Tonfall von fast vollkommen müheloser Perfektion die magische Wirklichkeit von Susanna Clarke vermittelt. Ich denke, daß Clarkes Wahl des Regency England als Ort und Zeit für einen Roman über die Spannungen zwischen politischem und volktümlichem Erinnern kein Zufall ist.
Im Jahre 1806, dem Jahr in dem die Handlung von JS&MN einsetzt, war das Regency England ein Zeitalter in dem gewichtige Gegensätzge zur Reife gelangten. Insofern jedem anderen bisherigen ›Zeitalter‹ ähnlich. Doch der Moment den Clark gewählt hat, um ihre Geschichte über verborgene Vergangenheiten zu beginnen, läßt aufmerken, denn er stimmt fast vollkommen mit dem Zeitraum überein, den wir Heutige als den Beginn der Moderne verstehen, der Herausbildung einer Welt, in der angemessen zu leben wir uns vorstellen können. Das Jahr 1800 ist wie ein Schleier, jenseits dessen alles im wahrhaftig Unbekanntem verschwindet. Vor dem Jahr 1800 herrschen unüberwindliche religiöse Dogmen und ein Krieg aller gegen alle. Danach gibt es Jane Austen und die Spezialisierungen der Arbeitsteilung. Das Jahr markiert eine Zeitenwende, die den modernen Roman, die Ökonomie, den Nationalismus, die Industrialisierung, die Erfindung der Kindheit und die Herrschaft des Justiz mit sich brachte.
Das England der Zeit von Strange und Norrell erfreute sich Dank des Handels einer wachsenden Wirtschaft (trotz solcher Vorkommnisse wie dem Corn Law[3] und den Napoleonischen Kriegen), auch wenn die Beschränkung an wirtschaftlichen Möglichkeiten von Farmpächtern, Webern und Kunsthandwerkern einen krassen Widerspruch dazu bilden. Dieses Zeitalter machte sich Technologie und Arbeiter zu nutze, schuf die Arbeiterklasse und bereitete den Weg für eine Anhäufung von Kapital, die es weiten Kreisen der höheren Klassen ermöglichte, sich am Luxus einer sich entwickelnden Raffinesse und Müßigangs zu erfreuen. Dieses England wurde von damaligen Kontintaleuropäern als ein Liebhaber der Freiheit und der Redefreiheit beschrieben, was im Großen und Ganzen zutraf, solange man kein Diener (oder auch nur ›befreiter Sklave‹), eine Frau oder ein Katholik war. (Rechtlich war die Emanzipation der Katholiken bis 1830 nicht entschieden, und man kann behaupten, daß die Frauen bis heute um ihre Rechte kämpfen.) Die weithin hochgehaltene Doktrine des laissez-faire — und die institutionell schwächlichen Kirchen- und Staatsapperate — machten es den Reichen leicht eigenwillig Macht auszuüben. Doch dieser Geschichtsabschnitt erlebte auch frühe Entwicklungen der Prinzipien sozialer Gerechtigkeit — wie zum Beispiel Mary Wollstonecrafts Eine Verteidigung der Rechte der Frauen, die bedeutenden Errichtung von New Lanark durch Robert Owen[4], die Gründungen von vielen der großen Hostpitäler und Wohlfahrtseinrichtungen in London, und der Aufstieg einer zweckdienlichen Philantropie belegen; letztes ist wie ein hübsches Vorecho auf heutige Rethorik über die soziale Verantwortung von Firmen. Überall tummelten sich Luddisten[5], Methodisten und Kaffeehaus-Republikaner in England. Damals wie heute benötigte man im gleichen Ausmaß Zuckerbrot und Peitsche, um die Armen in Zaum zu halten.
Bemerkenswerterweise ist JS&MN in einer Zeit angesiedelt, gerade als die Zauberei tatsächlich erstarb, was nur religiöse Konservative beweinten. 1782 bemerkte John Wesley[6], daß »es bedeutet die Bibel abzulehnen, wenn man nicht an Hexerei glaubt«. Die Erinnerungen an die letzten Hexenverbrennungen sind dabei aus dem Gedächtnis der Lebenden zu verschwinden, just als Mr. Norrell seine Nase darüber rümpft, daß eine Frau angewandte Zauberei betreiben könnte. Doch nicht nur die Verdrängung von Zauberei/Religion durch die Vernunft[7], läßt für uns Jane Austens oder JS&MNs England so vertraut erscheinen, wie ein sonntägliches Kostümdrama. England — Britanien um genau zu sein — schrumpfte damals; die Reisedauer vom einem Ort zum anderen verkürzte sich in einem Zeitraum von 15 Jahren auf die Hälfte. Niemand war mehr wirklich weit weder von London noch von dem wilden und geheimnisvollen Norden des Landes entfernt. Wie John Brewer[8] darlegt, wurden in weiten Teilen des Landes Gewichte und Maße vereinheitlicht, um die Fähigkeit des Staates zu fördern, Steuerneinnahmen einzustreichen. Durch Zeitmessung wurde das Problem der Längengradbestimmung gelöst, und fegte die Vorstellung vom Tisch, daß in einigen Gegenden des Königreiches die Zeit langsamer verstreicht als anderwo. Das Jahr 1800 markiert den Beginn einer Welt, die sich messen und über die sich etwas in Erfahrung bringen läßt, und war der letzte Augenblick, als es noch immer möglich war an englische Zauberei zu glauben.
Doch obwohl JS&MN — zumindest in den ersten zwei Dritteln — an diesem Wendepunkt angesiedelt ist, der die Welt wie wir sie kennen von unserer magischen Vergangenheit trennt, zeichnet der Roman ein ahistorisches Bild politischer Ruhe. Seine Welt wird durch klar bestimmte und größtenteils unbestrittene Standes- und Geschlechterrollen bestimmt, in der das politische Establishment die vorangegangenen 150 Jahre sektiererischer Metzelei aus dem Gedächtnis und den höflichen Gesprächen verbannt hat. Die titelgebenden Charaktere haben weder um materielle Annehmlichkeiten noch mit den Ansichten anderer zu ringen, und sind sich somit völlig gewiss und zuversichtlich bezüglich ihrer erhöhten Stellungen in der Gesellschaft. Das Leben von Strange und Norrell ist scheinbar weit entfernt von Roy Porters[9] Beschreibung des Regeny Englands als eine rauhe und sich überschlagende Welt, in der die Letzten vom Teufel geholt werden, in der »die Grenzen zwischen Gedeihen und Taumel, zwischen Achtbarkeit und Ruchlosigkeit dünn waren«. Im späteren Verlauf des Romanes macht dann das prekäre Leben und der Niedergang der Figur Drawlight deutlich, daß das heitere Selbstvertrauen seiner Gönner eine Ausnahme ist und nicht den Regeln entspricht. Doch Strange und Norrell und die politische und militärische Elite der sie sich anschließen, ist jenes geschichtliche Vergessen und jene Blindheit gegenüber Unglück eigen, das womöglich alle Gesellschaften die auf wackeligen Fundamenten stehen auszeichnet.
Zauberei, im Verbund mit Politik und Kriegswesen, wird zum vornehmen Herumflicken an den Rändern der herrschenden Ordnung genutzt, um Küstenstädte zu unterstützen oder Ebenen zu überfluten und somit auf gerisse Art Napoleons Truppen zu verwüsten. Zauberer mögen mit Zauberei Menschen töten können, doch ein Gentleman würde so etwas niemals tun. Die Zauberei — vielleicht gerade weil sie ein Symbol für den unbekannten und unaufhaltsamen Zorn ist, der knapp unter der Oberfläche des Regency England brodelt, und der in der Französischen Revolution überkocht — wird im Buch in einer Weise immer auf Reichweite gehalten, die beinahe die Glaubwürdigkeit des Romans in Frage stellt. Würde Wellington[10], ausgestattet mit taktischen Möglichkeiten die sich mit der Atombombe vergleichen lassen, Strange wirklich am Rand des Geschehens belassen, damit der Zauberer Regenwolken herbeirufen kann, um damit Feuersbrünste zu löschen? Oder würde er nicht vielmehr die Zauberei zur Basis seiner Strategie machen und alles andere entsprechend nach ihr ausrichten? Oder wäre Lord Liverpool[11] wirklich mit nur zwei Zauberern zufriedenzustellen gewesen, und hätte sie lediglich mit öffentlichen Maschinenbau-Aufgaben betraut? Liverpool war als Politiker berühmt für seine Fähigkeit, die verschiedenen Fraktionen der Tories auf einer Linie zu halten (bis heute eine unmögliche Aufgabe), und daß er Macht dadurch erlangte und behielt, indem er nicht mit der Brillianz seiner Kollegen (Pitt und Peel um zwei zu nennen[12]) konkurrierte, sondern sie sich vielmehr zu Nutze machte. Hätte er nicht irgendwelche ernsthafteren und verwandlungsträchtigren — und selbsterhaltenderen — Unternehmungen für die Zauberer zu tun gewußt?
Warum ist die Zauberei über weite Strecken des Romanes so unrevolutionär, und warum ist der Leser bereit das hinzunehmen? Weil wir darauf eingestimmt stimmt, das Regency England auf eine bestimmte Art zu lesen, nicht nur durch Jane Austen, sondern auch durch Georgette Heyer[13] und eine ganze Menge anderer, minder begabterer Autoren und Autorinnen von Romanzen. Clarke reizt diese Unmöglichkeit, die Zauberei unter der Herrschaft und zu Diensten eines unverdächtigen Establishments darzustellen, aufs Feinste aus, indem sie uns gemäß unserer Erwartungen über das Regency England zuspielt. Zauberei steht in keinem hohen Ansehen, wie uns erzählt wird, sie ist ein Merkmal von Rummelplatzschaustellern. Selbstverständlich trivialisieren politische Führer die Zauberei, indem sie sie zur Reperatur sanitärer Einrichtungen nutzen. Während Clarke gelegentlich gebrochene Ansichten eines farbenfrohen, übelriechenden und unbestimmt aufrührerischen Londons gewährt, legt sie auf gewitzte Weise unseren Erwartungen entsprechend nahe, daß sich die dramatischen Hauptgeschehnisse dennoch alle in einem Salon zutragen werden. Und wenn Zauberei ausgewogen und angesehen genug ist, um hier geduldet zu werden, dann kann sie nicht wirklich gefährlich sein.
Darüberhinaus sorgen die Vertrautheit und Zuneigung der Leser für das tadellos in sich geschlossene Universum von Jane Austen dafür, daß wir das Regency England mit einem Gefühl geschichtlicher Beständigkeit erfüllen, das die Epoche so schlicht nicht hatte. Die für eine Gattenjägerin der Regency-Zeit so typischen verfeinerten Umgangsformen und damenhaften Vollendungen, wären für die Großmutter einer Lizzie Bennett[14] etwas völlig Neues gewesen. Zauberei wird von der englischen Gesellschaft in JS&MN offenbar, dem klassischen Stil der drolligen Komödie folgend, gezähmt, indem die außerordnetlichsten Geschehnisse wie etwas durch und durch Gewöhnliches behandelt werden. Im Fortgang des Buches wird allerdings gezeigt, daß diese Einverleibung nicht funktioniert. Sie beruht auf einer Art Wunschdenken, dem zu glauben etwa so sinnvoll ist, wie zu glauben, daß Monty Python und die Ritter der Kokusnuß eine wahrhaftige Geschichte der Kreuzzüge erzählt.
Die willentliche Aufhebung des Zweifels, die notwendig ist um derartiges zu glauben, wird gerade so aufrechterhalten, kurz bevor es zur Schlacht von Waterloo kommt. Bis dahin gibt es wenig das andeutet, daß die wichtigeren politischen und militärischen Figuren unter mehr leiden, als nur einem Mangel an Vorstellungskraft, wenn sie annehmen, daß Magie kaum mehr ist als ein nützliches neues Werkzeug, mit dem sich bestimmte Dinge, die sie sowieso vorhatten, einfacher gestalten lassen, und nicht — wie die Historie lehrt — ein Abgrund, aus dem die Widersacher von allem, was ihren lieb und teuer ist, hervorkommen. Im letzten Drittel des Buches sind Sir Walter Pole und General Colquhoun Grant verstört von den andersweltlichen und unenglischen Aspekten der Zauberei. Und Lascelles macht darauf aufmerksam, daß die Öffentlichkeit wahrscheinlich ein heftiges Mißfallen für die dunkle Seite der Zauberei entwickeln könnte, als er während des Krieges auf der Iberischen Halbinsel damit droht, den Gebrauch von ›Schwarzer Magie‹ durch Strange publik zu machen. Aber diese Figuren sind nicht im stande, sich eine Welt jenseits ihrer eigenen vorzustellen, eine Welt, die uns Lesern ebenfalls durch Fiktionen vertraut ist, die in dieser Zeit angesiedelt sind. Diese Figuren werden eingeschränkt, durch das Erzähl-Genre in dem sie sich befinden. In den letzten Teilen des Buches ändert sich das dann. Hinweggeblasen werden die angenehmen Vorstellungen, auf denen die Welt der Herren Strange und Norrell errichtet ist.
In diesen letzten Abschnitten des Buches wird der Tonfall dunkler, es kommt öfter zu heftigeren Ereignissen und Taten, und Figuren wie Stephen Black und Childermass treten in den Vordergrund. Childermass ist ein Charakter der in einem Grenzbereich angesiedelt ist; geschickt bewegt er sich im Lande auf und ab durch die sozialen Schichten, ebenso sicher im Gespräch mit Küchenmägden, wie mit Kabinettsministern. Er ist auch der erste der begreift, daß Strange und Norrell mit einer wilden und geheimnisvollen Kraft hantieren, die alle Sicherheiten und Annehmlichkeiten des bekannten Englands zu zerstören droht. Wir ahnen, daß Childermass sich in einer Weise an die neue Ordnung anpassen wird, zu der Strange und Norrell nicht fähig oder willens sind. Er ist nicht die Art von Charakter, die sich im Vordergrund von Regency-›romance novels‹ finden läßt; dafür ist er zu gerissen, vertrackt und selbstgewahr (ihm bleibt gar keine andere Wahl). Am ehesten kann man ihn noch mit Becky Sharp[15] vergleichen, doch ist er viel mehr als diese gegen die Strömung der Epoche ausgerichtet. Während Sharp in einer Welt, die sie nieder zu halten trachtet, schlicht so gut wie sie vermag vorankommen gedenkt, schaut Childermass nach vorne (und in die Vergangenheit) und hofft auf eine andere Ordnung, in welcher der Rabenkönig zurückkehrt. Er fügt sich weder in die Geschichte von Strange noch die Norrell, und wird sich mit keinem der beiden dauerhaft verbünden. Stattdessen will — und verdient er — eine eigene Geschichte.
Von welcher Macht, die das England von Strange und Norrell so nachdrücklich bedroht, ist Childermass denn nun der Herold? Eine Art den Roman zu lesen besteht darin, Zauberei als die Rückkehr der tatsächlichen Historie zu deuten, die mit ihren Kämpfen, Vertracktheiten und Brutalitäten über die künstlichen ›Historien‹ unserer kollektiven Vorstellungen hereinbricht. Eine Art Überfall der tatsächlichen Wirklichkeit auf die konstruierten Welten aus Höflichkeit, als die wir uns das Regency England vorzustellen gewohnt sind.
Anders ausgedrückt, ist der Roman so etwas wie ein Zusammenprall von zwei Typen von Geschichten. Auf der einen Seite haben wir Austens brilliante, manchmal bittere, aber grundsätzlich mit Zurückhaltung dargebrachte Geschichte eines Englands, in dem insbesondere Frauen durch ihre gesellschaftliche Stellung dazu gezwungen werden, bestimmte Rollen zu verkörpern. Belle verleiht einem Gefühl Ausdruck, das auch mir vertraut ist: eine unter anderm etwas gekränkte Überraschung darüber, daß die weiblichen Figuren weniger selbst handeln, sondern vielmehr ihr Handeln durch andere bestimmt wird, und auch mich erfüllt der Wunsch, im Zweifel trotzdem auf der Seite Clarke zu stehen. Mrs. Strange und Lady Poole sind derart vollkommene Vertreterinnen eines weiblichen Regency-Ideals, daß sie fast schon parodistisch wirken; selbst Fanny Price[16] hat mehr kecken Mut, als die gutgelaunt duldsame Arabella. Unsere von Austen stammenden Ideen darüber, was Heirat und Klasse damals bedeuteten, vermischen sich undeutlich mit den verschwommenen Ansichten über Liebe und bessere Gesellschaft des Regency Englands, die auf Georgette Heyer und ihre minder begabte Nachahmer und Nachahmerinnen zurückverfolgen lassen.
Auf der anderen Seite haben wir die Geschichtswerke von E.P. Thompson, Douglas Hay[17] und anderen Sozialgeschichtlern, die eben über jene Menschen schrieben, die in Jane Austens Romanen nicht wirklich vorkommen (Sozialgeschichtler wurden auch sogar dann von feministischen HistorikerInnen dafür gescholten, nicht ausführlicher über Frauen geschrieben zu haben, selbst wenn man wenigstens damit angefangen hatte). Wie John Holbe schreibt, wird uns das reiche Innenleben der Diener in Clarkes Buch vorgeführt; es treten zudem enteignete französische Flüchtlinge, Juden, Arbeiter, freie Landpächter und ärmliche Bauern auf, die an den Rändern der gesellschaftlichen Fassaden hereinlugen. Die damalige Zeit war auch deren England, und gegen Ende des Buches zwingt uns Clarke, das nicht zu übersehen. Das wahrhafte England dieser Epoche, war das England eines Ned Ludd[18], der London Corresponding Society[19], und dem, was später der Grundstock der charitativen Bewegung werden sollte. In diesem England trug sich die Geschichte vom Werdegang der englischen Arbeiterklasse zu (und E.P. Thompson erzählt sie großartig). Diese Geschichte erlangt gegen Ende des Romanes Bedeutung; wir bekommen einen Eindruck davon, wie das Regency England unserer gewöhnlichen literarischen Vorstellung durch etwas Fremdartigeres und Komplexeres ersetzt wird.
Selbstverständlich könnte dies hier eine völlig falsche Interpretation von JS&MN sein. Es könnte auf meinem Wunschdenken beruhen, wenn ich einen dunklen, revolutionären Subtext in Clarke's ungereimt reaktionären England hineinlese. Und obwohl ich mir große Mühe gegeben habe, kann ich mir immer noch nicht vorstellen, wie Becky Sharp am Vorabend von Waterloo in Brüssel auf der Straße Jonathan Strange bei dessen gedankenverlohrenen Spaziergang begegnet. Entsprechend darf ich hoffen, daß Susanna Clarke uns in ihrem Antwortschreiben für CT, noch mehr von dem erzählen wird, was uns (wie wir meinen) noch nicht klar ist.
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molosovsky Besitzerin
Belle Waring: »Wer erzählt Jonathan Strage & Mr. Norrell, und wo sind die Zauberinnen geblieben?«
Zu den auffälligsten Eigenschaften von Susanna Clarkes JS&MN gehören die reichlichen Fußnoten, die zwischen trockenem Zitieren imaginärer Magiegeschichtsschreibung und wahrhaft andersweltlichen Erzählungen wechseln, gleichsam einer Reihe bezaubernder Miniaturen. Die erste begegnet uns gleich auf der allerersten Seite: ein knapper Verweis auf das — erst in etwa zehn Jahren nach Beginn der Romanhandlung erscheinende — Buch Geschichte und Ausübung der englischen Zauberei von Jonathan Strange (und das nach Erscheinen wohl für weitere zehn Jahre niemand lesen kann, da der grollende Mr. Norrell es sofort mittels Magie vor dem Auge der Öffentlichkeit verbirgt). Dank dieser Fußnote, begegnet dem Leser im Roman der Name des Zauberers zuerst, der auch im Titel des Buches an erster Stelle steht, und das, obwohl sich ungefähr die anfänglichen 170 Seiten außschließlich um Mr. Norrell drehen. Was aber die unterschiedliche Bedeutung und Macht der beiden Zauuberer betrifft, ist diese Ersterwähnung angemessen.
Manchmal beherrscht die mürrische Schwärze der Fußnoten die unteren 7/8 der Buchseiten, und lassen dem Haupttext nur ein paar wenige Zeilen, um sich als dünner Fluß über den Anmerkungen entlangzuschlängeln. Der Leser muß sich entscheiden, ob er nun einen der Sätze des Haupttextes fertigliest, oder eben beiseite läßt und riskiert, die Handlung des Haupttextes aus den Augen zu verliehren, um zum Beispiel die interessante Geschichte der Tochter des Meisters von Nottingham zu lesen, und wie ihre Niedertacht vergolten wird.[1] Diese Aufspaltung der Aufmerksamkeit dürfte jedem vertraut sein, der Sachbücher liest, und mir fällt auf, daß sich JS&MN in mehrerlei Hinsicht als Sachbuch bezeichnen läßt. Ich will nicht behaupten, daß Buch wäre kein Roman, sondern nur, daß es eine Leseerfahrung beschert, die der eines Sachbuches sehr ähnlich ist. (Die Fußnoten sind zudem ein hervoragendes Mittel, um Information zu liefern, die den Figuren des Romans vertraut, aber dem Leser unbekannt sind. Damit werden die ermüdenden »ich gebe für Dich, liebe Mitfigur, der dies alles hinreichend bekannt ist, mal diesen lagen Monolog über unsere eigene Geschichte und Kultur zum Besten«-Informationsbrocken vermieden, die so viele Fantasy- (und noch mehr) Science Fiction-Werke verderben.)
Doch wenn JS&MN soetwas wie ein gelehrtes Sachbuch ist, wer ist dann der Gelehrte? Von außerhalb des Buches können wir fragen: wer erzählt den Roman? Innerhalb der Grenzen des Buches würde die Frage genauer lauten: Wer hat diese imaginäre Geschichte des jüngsten Wiederauflebens der englischen Zauberei geschrieben? Offensichtlich ein Historiker der Zauberei. Jemand aus England, nicht sehr viel jünger als Lady Pole, wie ich mir denke. Man achte auf folgende Stelle:
In der Zeit bevor die Zauberei nach England zurückkehrte, genauer: bevor Mr. Norrell alle Staßenzauberer verscheuche, war die Erzählerperson also ein Kind oder nur wenig älter. Zu der Zeit, in der das Buch erzählt wird, aber muß es freilich mengenhaft angewandte Zauberer geben, und somit keinen Platz mehr für die tricksenden Krämer vergangener Zeiten.
Desweiteren vermute ich, daß die Erzählerperson Sir Walter Pole gekannt, oder zumindest gesehen hat:
Mir fällt auf, daß diese Beschreibung um einiges persönlicher ist, als jene von Childermass oder Mr. Norrell oder anderer Figuren. Die Beschreibung ist anteilnehmend und bezieht sich auf Feinheiten der Gesichtsbewegung, wie sie sich auf einem Kupferstich niemals erkennen lassen. Nun könnte man sehr wohl einwenden, daß im Verlauf von JS&MN so einiges geschieht, was kein Zeitgenosse oder Historiker der Zauberei beobachtet haben könnte; z.B. was Stephen über etwas, was der Mann mit dem Haar wie Distelwolle sagte, dachte, oder was die beiden in Afrika gesehen haben, oder wie Mr. Norrell dreinblickte, als er vor seiner Bibliothek in Hurtfew stand und Strange von drinnen hört, und so weiter. Das mag alles offentlichlich richig sein. Doch wo es Fußnoten gibt, da ist auch jemand der vor einem hohem Stapel Bücher sitzt, und nach einer Zitatstelle sucht, die sich nicht finden läßt — auch wenn sich das nur nachträglich aus dem Zusammenhang so sehen läßt. Meine Schlußfolgrung ist, daß diese parteiische Allwissenheit auf die Vorstellungskraft der Erzählerfigur zurückgeht, eines Historikers der Zauberei.
Ist diese Person angewandter Zauberer? Ziemlich sicher ist sie das, denn es könnte sonst nur ein sehr armseliger Gelehrter der Zauberei in diesem zukünftigen England sein, der keine richtige Zauberei beherrscht. Wenn immerhin ein dreizehnjähriges Quäcker-Mädchen mit einem Spruch, der mit Kieselsteinen geschrieben wurde, zaubern kann[5], dann kann das sicherlich auch eine so gelehrte Person wie unser Erzähler. Einiges deutet auch auf diesen Umstand hin. Man beachte folgende Zitate aus der makaberen Passage mit den siebzehn toten Neapolitanern: Zu diesem Satz: »Leider gelang es Strange nicht, den Zauber zu finden, der die toten Neapolitaner in ihren bitteren Schlaf zurücksandte«, gehört folgende Fußnote: »Um das ›Leben‹ der Leichen zu beenden, schneidet man ihnen die Augen, die Zunge und das Herz heraus«.[6] Kein Verweis auf Thomas Lancaster oder andere Authoritäten der Zauberei; diese Anmerkung liest sich vielmehr wie ein unumwundener, durch Erfahrung gewonnener Ratschlag, von einem Zauberer der sich an andere Zauberer wendet: »…schneidet man ihnen die Augen aus…«. Leicht läßt sich ein Zauberer vorstellen, der das dann ließt und sich denkt: »Werde ich anwenden, wenn es mal nötig sein sollte«.
Und wie steht es um Thomas Lancaster und seine Abhandlung über die Sprache der Vögel, erstmals erwähnt von einem aufgebrachten Mr. Norrell nach seiner Begegnung mit Vinculus, und die später, während des Höhepunktes des Romans, so effektreich zum Einsatz kommt — woher hat die Erzählerperson eine Ausgabe dieses Buches? Die Bibliothek von Hurtfew, genauso wie die am Hannover-Square, werden am Ende des Romans von einer Säule endloser Dunkelheit in alle Weltgegenden verstreut …, was nicht danach klingt, als ob die Bücher problemlos zugänglich wären. Wir wissen, daß Mr. Norrell größte Anstrengungen unternommen hat, um jedes Buch über Zauberei, das es in England gibt, seiner Sammlung einzuverleiben. Kann es sein, daß unser Erzähler eine erschreckend genaue Liste all dieser Bücher und ihrer Inhalte hat? Nein. Als sie bei ihrem Auseinandergehen über den Verfall der englischen Zauberei reden, richtet Mr. Norrell eine irritierende Frage an Strange:
»Nein, das kenne ich nicht«, sagte Strange. Er warf Mr. Norrell einen scharfen Blick zu, der zu besagen schien, dass er es aus dem gleichen Grund wie immer nicht gelesen hatte. »Aber ich komme nicht umhin, mir zu wünschen, Sir, Sie hätten einiges davon früher erwähnt.«[7]
Die Fußnote bei der Anführung von Watershippes Buch, läßt keinen Zweifel daran, ob der Erzähler es gelesen hat:
Es sind also entweder noch mehr Ausgaben dieser Werke aufgetaucht, oder die Erzählerperson war in der Bibliothek von Hurtfew, oder Strange hat Norrell davon überzeugt, Exemplare der Bücher nach England zu schicken, oder …?
Nachem ich es mir zur Aufgabe gemacht hatte dieses Rätsel zu lösen, begann ich zu überlegen, ob es nicht einleuchtender wäre, wenn es sich bei der Erzählperson um jemanden handelt, den wir im Verlauf des Romanes bereits kennengelernt haben. Leider habe ich keinen überzeugenden Kandidaten ausmachen können. Auf seine Art ist John Segundus noch die naheliegenste Person dafür. Er ist ein Gelehrter der Zauberer und scheint dazu bestimmt, eher ein Bewunderer denn ein Ausübender zu sein, woran auch sein erfolgreicher Gebrauch von Pales Restauration und Rektifikation, um Lady Poles Finger wiederanzufügen und ihre Verzauberung aufzuheben, nichts ändert.[9] Aber er schrieb schon eine Biographie über Jonathan Strange, auf die mehrfach in den Fußnoten des Romans verwiesen wird, auch Segundus scheint kaum jemand zu sein, der sich derartig auf sich selbst bezieht. Auf jeden Fall verfügt er nicht über die Fertigkeit zu solch phantasievollen Annahmen wie sie den Roman auszeichnen. Die Herren Strange und Norrell haben besseres zu tun; Stephen Black hat anderswo genug zu schaffen; Miss Greysteel würde womöglich zögern sich selbst so schmeichelhaft darzustellen. Lady Pole will zwar sicherlich ihre Verfehlungen wieder gut machen, aber gibt es jemandes, die mit noch geringerer Wahrscheinlichkeit zur Zauberinn würde? Und sie würde, was bedeutender ist, ein düstereres Bild von Mr. Norrell zeichnen, und ein noch düstereres von Mr. Strange, als unsere Erzählerperson. Arabella Strange? Auch bei ihr habe ich nicht den Eindruck, daß sie sich zu einer Gelehrten der Zauberei entwickeln könnte. Childermass ist ein unmöglicher Kandidat. Nein, die Erzählerperson muß irgendein zukünftiger Zauberer sein.
Hier muß ich mich nun auf das Gebiet der unstichhaltigen Spekuliererei wagen. Ich denke, daß unser Erzähler jemand sein muß, der bei dem zweiten Treffen der Gelehrten Gilde der Zauberer von York anwesend war, die am Ende des Buches stattfindet. Die von Mr. Norrell enthobenen ›Zauberer‹ versammeln sich wieder unter der Anwesenheit vieler neuer Zauberer. Aller Bücher aus Mr. Norrells umherwandernder Bibliothek beraubt, müssen sie beginnen, die englische Zauberei auf die alte Weise neu zu erlernen, mit Hilfe des Buches des Rabenkönigs, das dieser auf Vinculus Haut geschrieben hat. Viel Uneinigkeit liegt vor ihnen, ganz so wie es Strange mit seinem auf der ersten Seite zitierten Kommentar vorhergesagt hat. »{Zauberer müssen} sich das Hirn zermartern und den Kopf zerbrechen, damit ein Mindestmaß an Gelehrtheit hineingeht, aber an liebsten streiten sie«.[10] (Diese Anmerkung beschreibt passender den Zeitumstände als der Roman von der Erzählerperson geschrieben wurde, als jene Zeit da es nur zwei Zauberer gab, auch wenn die beiden sich ständig stritten.) Die neue Gesellschaft ist um einiges durchmischter, sogar eine junge, »auffällig hübsche Person weiblichen Geschlechts in einem roten Samtkleid« ist darunter.[11] Die älteren Mitglieder kommen damit schlechter zurecht, sind sie doch insofern Norrelisten, weil sie glauben, daß ungeignete Personen keinerlei Zauberei ausüben sollen, und »Personen weiblichen Geschlechs« sind zwangsläufig nicht geeignet.
Es bereitet mir Vergnügen, mir vorzustellen, wie diese Frau in dem rotem Samtkleid ihren jugendlich-radikalen Strangeismus hinter sich läßt, um sich zu einer großen Zauberin zu entwickeln, die in ihrem späteren Leben das vorliegende, nur noch gemäßigt strangeistische Werk zu verfassen, welches wir nun lesen. Es gibt allerdings kaum Gründe anzunehmen, daß diese Überlegung stimmt. Es ist lediglich eine Art Sehnsucht, die aufkommt, wenn man einen Blick auf den Buchrücken wirft.
Das bringt mich nun dazu, kurz noch meine zweite Frage anzuführen: Wo sind die weiblichen Zauberer geblieben? Folgende Reaktion zu dieser Frage ist in einiger Hinsicht unangebracht. Aber es überkommt mich nun mal ein kleiner Stich der Entäuschung, wenn ich einen erstaunlichen Roman wie JS&MN lese, geschrieben von einer Autorin, in dem (männliche) Helden sich selbst entdecken, die Ordnung wiederherstellen und ihre verlohrenen Frauen aus der Gefangenschaft der Bösewichter befreien. Ich will nicht behaupten, daß dies dem üblichen Verlauf der Dinge widerspricht — ganz im Gegenteil. Es enspricht so gründlich gewohnten Romanentwicklungen, besonders auf dem Gebiet der ›Fantasy‹, daß ich nicht anders kann, als ein bischen verärgert darüber zu sein. (Dem entsprechend könnte ich fragen, warum Harry Potter nicht Hermione Potter ist? Warum nur?)
Mir ist klar, daß mein Eindruck zu sehr vom Makel naiver Lieschen Müller-Phantasien gezeichnet ist, um eine ästhetische Reaktion stichhaltig darzulegen. Ich kann mir eben viele gute Gründe vorstellen, warum das Buch nicht von Josephine Strange und Mr. Norrell handelt. Der naheliegenste ist, daß man einen anderen Mr. Norrell bräuchte, um so einen Roman plausibel erscheinen zu lassen. (Andererseits ist es keineswegs so, daß der vorliegende Mr. Norrell in seiner jetztigen Form unveränderlich die Erzählbühne betreten hat.) Zudem widerspricht der akribisch gepflegte historische Tonfall des Romans — der vielleicht noch genialer ist, als die einfallsreichen phantastischen Aspekte — der Wahrscheinlichkeit, daß es um eine Romanzen-Heldin geht, die ohne sich anzustrengen die gesellschaftlichen Konventionen überwindet. Denn selbst wenn die Zauberei vieles in der Welt von Clarkes Roman verändert hat, so hat sie doch in keinster Weise die englischen Sitten beeinträchtigt.
Aber ist nicht ein Schwarzer, ein befreiter Sklave der Held des überzeugend im Milieu der Napoleonischen Kriege angesiedelten Romans? Wäre eine Zauberin nicht noch unwahrscheinlicher und ungewöhnlicher? Eine Frau die mehr ist, als nur hübsch, liebenswürdig und Jonathan Strange zugetan? Eine Frau, die nicht nur wegen des wässerigen Lichtes eines Venzianischen Spiegels überzeugend leidet?
JS&MN ist ein wundervoller Roman, und ich scheue ein wenig davor zurück, Frau Clarke wegen dieser Dinge zu rügen, denn Literaturkritik entsprich eben nicht dem Umschreiben und Weiterspinnen, wie man es von Fan-Fiktionen kennt. Wie auch immer, sollte sich herausstellen, daß ich bezüglich der Frau im roten Samtkleid richtig liege, dann wäre ich selbst nur um so mehr von diesem vorzüglichen Buch angetan.
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molosovsky Besitzerin
John Holbo: »Zwei Gedanken (Über christliche Zauberer und ›Zwei Städte‹) «
Hier also, mehr oder minder, zwei Gedanken über Susanna Clarkes JS&MN.
§1 Die Christlichen Zauberer
Schauplatz ist England zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Es gab mal eine Zeit, in der richtige Zauberei vorhanden war — doch die ist vergangen. Entsprechend kommt es zu der amüsanten Zusamenkunft der Gilde der Zauberer von York:
John Segundus tritt auf und »würde gerne wissen, so sagte er, warum moderne Magier unfähig seien, die Zaubereien zu vollführen, über die sie schrieben. Kurzum, er wollte wissen, warum in England nicht mehr gezaubert würde«.[2] Den anderen Gildenmitgliedern bereitet das Unbehagen.
Zauberei genießt kein gesellschaftliches Ansehen und gilt als »Busenfreundin von unrasierten Gesichtern, Zigeunern, Einbrechern; sie frequentiere schmuddelige Buden mit schmutzigen gelben Vorhängen. Oh nein! Ein Gentleman könne nicht zaubern. Ein Gentleman könne die Geschichte der Zauberei studieren (kein Unterfangen könnte ehrenwerter sein), aber er dürfe selbst nicht zaubern«.[4] Man beginnt eine Debatte und einige Mitglieder werden aus ihrem Historiker-Schlummer gerissen, um Segundus zur Seite zu stehen. Einer von ihnen — Honeyfood — erzählt kurz darauf Segundus von der Gilde der Zauberer von Manchester, einem gescheiterten Haufen positivistische Zauberei-Pfuscher.
Hätte Max Weber[6] doch nur Zauberei als Berufung geschrieben und dargelegt, wie im Verlauf der Beschäftigung mit Zauberei diese sich schrittweise selbst entzaubert hat.
Ein törichter Trugschluß der Fantasy — mit Tolkien als klassischem Fall — ist die unvernünftige, auf Gefühl beruhende Annahme, daß, wenn es Elfen und Zwerge und magische Ringe und Zauberer und Drachen wirklich gäbe, Politik und moralische Grundsätze um so vieles einfacher wären, daß Feudalismus mit Elfen gerechter wäre.[7] Oder wie Isaiah Berlin[8] in Zwei Freiheitsbegriffe schrieb: »Deshalb kommen all jene, die ihre Hoffnungen auf eine die ganze Welt erfassende Umwälzung setzten, etwa auf einen »Endsieg« der Thaumaturgie oder dem Triumph der Weißen über die Schwarze Magie, nicht umhin, zu glauben, alle politischen und moralischen Probleme ließen sich in magische Probleme umformen.«[9] Darauf wäre Jane Austen auch ohne Sir Isaiahs Hilfe gekommen.
Dem entspricht Mr. Norrells Hilfslosigkeit nach seiner Ankunft in London, trotz der Kräfte die in ihm schlummern, mit den herrschenden Machthabern in Kontakt zu treten, bis etwas Zauberhaftes geschieht:
Es gibt in dem Roman einen Wendepunkt, als sich die Zauberei wahrhaftig wieder Geltung als grundlegende Kraft verschafft, und aufhört nur eine Angelegenheit zu sein, die locker über der Oberfläche der gewichtigeren Sphäre der Sitten schwebt. Aber bleiben wir bei der Austen'schen Ausgangssituation, bevor die Salonzimmer-Atmosphäre durch das Ausgesetztsein mit viel größen Reichen zerstreut wird.
Man könnte sagen, daß Clarke ›Magischen Realismus‹ schreibt. Das wirft aber zumindest die Frage auf, ob der Begriff ›Magischer Realismus‹ hier überhaupt nützlich ist. In einer angenehmen Sammlung[11] mit Definitionen und Glossen zu diesem Begriff, findet sich auch der Vorschlag von Gene Wolfe[12], daß »Magischer Realismus Fantasy ist, die auf Spanisch geschrieben wurde.«
Ich gebe hier die erste Definition wieder, die zugleich die chronologisch früheste aus dem Jahre 1925 ist:
Klingt das für Sie wie eine Beschreibung von Clarkes Prosa? Ich bin mir nicht sicher.
Vielleicht sollten wir den ›auf Spanisch geschrieben‹-Stier bei den Hörnern packen. Dazu lohnt es sich, die beiden folgenden Zitate zu beachten. Das erste stammt aus einem Interview, das Salon.com[14] mit Suanna Clarke geführt hat:
Susanna Clarke: Das stimmt, auch wenn ich nicht sagen kann, das ich dies irgendwie mit Absicht tat. Mich selbst betrachte ich nicht als Romanautorin. Ich betrachte mich als eine Schriftstellerin. Ich erzähle Geschichten. Der Tonfall von JS&MN ist mir sozusagen zufällig passiert, als ich versucht habe Jane Austen mit Zauberei zu kombinieren.
Das zweite Zitat stammt von Gabriel Garcia Márquez :
Es ist verführerisch anzunehmen, daß als gemeinsamer Nenner hier weniger Realismus, denn vielmehr das Understatement, die Untertreibung auffällt. Das paßt gut zu einer Passage aus der englischen Wikipedia über ›Magischen Realismus‹. Dort wird vorgeschlagen, daß sich schon E.T.A. Hoffmann für diesen Begriff qualifiziert, aufgrund seines ›nüchternen Tonfalls eines Stellung beziehndem Journalisten‹, mit dem er seine übernatürlichen Geschichten darbietet.
Das erinnert mich an den klassischen Essay von Mark Twain »Wie man einen Zauber spricht«. Halt, moment, der Titel lautet etwas anders:
Ich denke, man kann nachvollziehen, daß sich ein ähnlicher Gegensatz zeichnen läßt, zwischen ›Magischem Realismus‹ und einigen über das Ziel hinausschießenden Gothic-Werken oder epischen Schwert und Magie-Trilogien, die sich, während sie einen bei den Schultern packen, kaum zurückhalten können auszurufen: »Wäre ist es supertoll einem Elf zu begegnen!« Wie auch immer, worum es mir geht ist folgendes: Es gibt immer nur eine gewisse Anzahl von Methoden, um so etwas wie eine Ironie der Untertreibung stabil aufrechtzuerhalten, bei der die Erzählerstimme in keinster Weise signaliert, hinlängliche Kenntnis von den erstaunlichen Inhalten zu haben. Bei Clarke gibt es darüberhinaus noch eine weitere Feinjustierung der Erzählerstimme, in der Art und Weise, wie die Renaissance der angewandten englischen Zauberei für diese christlichen Gentleman erstaunlich ist; aber trozudem — da sie von Anfang an zaubernde Christen sind, wenn auch auf dem absteigenden Ast — sind sie doch auf andere Weise als wir erstaunt. Twain hätte das gefallen: eine Art, eine humoristsche Geschichte zu erzählen, ist eben sie wie eine komische Geschichte zu erzählen, und dabei nicht zu vergessen Beifall einzustreichen und im falschen Moment eifrig von Gesicht zu Gesicht zu schauen.
Es ist nicht leicht genau zu erklären, warum diese Art von stabiler Ironie so zufriedenstellend ist. Zumindest ist sie das ganz bestimmt für mich. Es liegt wie ich glaube nicht daran, daß es eine ›realistisch‹ Geschichte ist, denn das ist sie oft nicht. Darüber sollten Sie miteinander diskutieren!
Und nun zu einer ganz anderen Sache.
§ 2 Und wenn deine Augen Bettzwingen[17] wären, und ich ein englisches Himmelbett, so sollten sie keinen Splitter von mir locker kriegen
Clarkes Roman erinnert mich an Eine Geschichte zweier Städte. Ich will auf eine etwas gewundene, doch wie sich hoffentlich erweisen wird, interessante Art meine Ansicht darlegen.
In JS&MN treten zwei bedeutsame Dienerfiguren auf. Die erste ist Norrells Agent, der rätselhafte und ziemlich unabhängige Childermass. Die andere ist Stephen Black, Lord Poles treuer, milder und fähiger Negerdiener, den der finstere Elfenbösewicht — der Herr mit Haar wie Distelwolle — versucht von seiner bescheidenen Position zu erheben, und damit Stephens verlohrenen wahren Namen wiederherzustellen und ihn auf den Thron von England befördern möchte.
Wenn man geneigt ist, JS&MN als eine Parabel über konservative politische Weisheiten zu lesen, könnte man den Herren mit dem Haar wie Diestelwolle als eine zum Absurden reduzierte Parodie eines ins Wahnhafte übersteigerten Jakobieners auffassen. Ausgeklügelte Vorschläge für ideale Reiche; herzlose und unaufrichige, im Wesentlichen selbstbezogene Vorschläge für äußerst irrige Abwege. Die sprichwörtlich trügerische Schönheit der Elfen, die um so vieles vollkommener scheint, als die der Menschen. Die Gedankengänge von Elfen, die im Grunde einem unmenschlichen Verstand entspringen. In Kürze folgt weiteres zum Jakobismus.
Auch werden weitere Ängste der Immigranten-Problematik angesprochen.
Dieses Land ist viel zu nieder,
Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Mr. Norrell das Gefühl, dass es in England womöglich zuviel Zauberei gab.[18]In den fernen Himmel es entflieht,
Bebt wie windgepeitschter Regen,
So der Rabenkönig seine Kreise zieht.
Eine andere zentrale und einprägsame Teilgeschichte ist Mrs. Strange Flucht aus ihrer Gefangenschaft im Elfenreich, durch einen Spiegel hindurch — in die Arme von gütigen, gediegenen und zuverlässigen Engländern.
»Nein, Madam«, sagte Flora.
»In England?«
»Nein, Madam.« Tränen begannen über Floras Gesicht zu fließen. Sie legte sich eine Hand auf die Brust, um sich zu beruhigen. »Sie sind in Padua. In Italien. Ich heiße Flora Gerysteel. Sie kennen mich nicht, aber auf Wunsch Ihres Mannes habe ich hier auf Sie gewartet. Ich habe ihm versprochen, Sie hier zu treffen.«
»Ist Jonathan hier?«
»Nein, Madam.«
»Sie sind Arabella Strange«, sagte Dr. Greysteel überrascht.
»Ja«, sagte sie.
»Oh, meine Liebe!«, rief Tante Greysteel und bedeckte mit einer Hand ihren Mund, mit der anderen ihr Herz. »Oh, meine Liebe!« Dann flatterten ihre Hände um Arabellas Gesicht und Schultern. »Oh, meine Liebe!«, rief sie ein drittes Mal. Schließlich brach sie in Tränen aus und umarmte Arabella.[19]
Phantastische Namen — Lancelot Greysteel, Floras Vater — die sehr wirkungsvoll mit Tränen und flatternden weiblichen Händen zusammenspielen. Alles sehr sentimental, allerdings reizvoll inszeniert. (Auch die Szene, in der Frank, der treue Diener der Greysteels, den »giftigen, feigen Lump«[20] Drawlights wegen eines heimtückischen Vorschlags gehörig tritt, liefert ein weiteres Portait der Tugenden loyaler Bediensteter.)
Wie dem auch sei, möchte ich dem Leser mit einem gegenteiligen Urteil über die Greysteels bekannt machen. John Clute[21] schreibt:
Dieser Ansicht kann ich gar nicht genug widersprechen. Nun zu den Ähnlichkeiten zwischen Clarke und Dickens. Ich denke dabei an die Rolle der heldenhaften Diener in Eine Geschichte zweier Städte: Jerry Cruncher, und vor allem, Miss Pross. Meine Meinung ist, daß Clarke gewisse Themen von Dickens erneuert, die, um es freundlich zu sagen, ohne Erneuerung nicht wiederbelebt werden können.
Doch zuerst möche ich die Leser an etwas über Dickens Roman erinnern, daß vielleich in Vergessenheit geraten ist. Zwei Städte, mit seiner Behandlung des Themas der Wiederauferstehung, ist ein furchteinflößender Roman. Es gibt darin verlohrene Namen, Bestattung von Lebenden, ›Von den Toten Wiederauferstandene‹, wahnsinnige Revolutionäre, Fluchten nach England aus einem angrenzenden, feindlich gesonnenem fremden Land, und sogar so etwas wie eine heldenhafte Selbstopferung eines Wechwselbalges. (»Was ich tue, ist etwas viel, viel Besseres, als ich je getan…«[22]) Hier einige Zitate, die mir gefallen. Sie sind sehr stimmungvoll.
Und die alte Antwort: »Das weiß ich nicht.«[23]
Diese Frage und ihre Beantwortung sind so gruselig wie jede Gespenstergeschichte. Und weiter heißt es, während unsere Heldenfiguren aus einem alptraumhaften Land fliehen:
Die Revolutionäre verhalten sich — um es auf den Punkt zu bringen — wie kinderverschleppende Elfen, die durch das heimtückische Befolgen ihrer undurchschaubaren Befehle Menschenleben ruinieren.
»Sie hat einen schönen Kopf dazu«, krächzte Jaques drei. »Ich habe blaue Augen und goldenes Haar dort gesehen, und sie sahen reizend aus, als Samson sie in die Höhe hielt.« Der Blutsäufer[25] sprach wie ein Epikuräer.
Madame Defarge schlug die Augen nieder und dachte ein wenig nach.
»Auch das Kind«, bemerkte Jaques drei mit nachdenklichen Genuß in seinen Worten, »hat goldenes Haar und blaue Augen. Und wir haben selten ein Kind dort. Es ist ein hübscher Anblick.«[26]
Defarge hat natürlich ihre Beweggründe. Doch obwohl Dickens sich diese Gründe nur ausgedacht hat, vermeidet er es, sie als unerklärlich abzutun. Defarge ist schlicht deshalb unmenschlich: »…weil sie {die Familie Evrémondes} ihre natürlichen Feinde und ihre Beute waren und als solche kein Recht hatten zu leben. Sie zu erweichen war hoffnungslos, weil sie kein Mitleid kannte, nicht einmal mit sich selbst. Wenn sie in einem der vielen Straßentumulte, an denen sie beteiligt war, erschlagen worden wäre, hätte sie sich gewiß nicht bemitleidet.«[27]
Weiter in der Angelegenheit die Diener betreffend. Unmöglich, hierzu nicht Orwells Essay über Dickens zu zitieren:
Man kann sich leicht vorstellen, was die junge Frau im wirklichen Leben hierzu gesagt hätte. Man beachte jedoch die feudale Atmosphäre. Sam Weller ist selbstverständlich bereit, seinem Herren Jahres seines Lebens zu opfern, und gleichzeitig kann er sich in seiner Gegenwart hinsetzten. Einem modernen Diener würde beides nicht in den Sinn kommen. Dickens Ansichten zur Dienstbotenfrage gehen nicht wesentlich über den Wunsch hinaus, daß Herr und Diener einander lieben sollen. Sloppy in Unser Gemeinsamer Freund repräsentiert, obwohl er als Figur ein fürchterlicher Fehlschlag ist, die gleiche Loyalität wie Sam Weller. Selbstredend ist eine solche Loyalität naturlich, menschlich und liebenswert; aber das war der Feudalismus auch.[28]
Das Sam-Problem ist freilich auch das Sam und Frodo-Problem — und deshalb auch ein ewiges Problem der Fantasy-Literatur mit ihrer Fixierung auf den Feudalismus. (Dennoch: innige Bindungen zwischen Menschen entsprechen nicht gleich den Banden zwischen Homosexuellen.). Lassen sie mich an die Herr und Diener-Paare aus Zwei Städte erinnern: Jarvis Lorry/Jerry Cruncher und Lucie Manatte/Miss Pross.
Zum erstgenannten Paar liefert Dickens fabelhafte visuelle Kontraste, die eines Mervyn Peake[29] würdig wären. Der alte Bankier in seinem Glasdom und sein Stachelkrone tragender Handlanger. Über Crunchers Kranz aus schwarzen Haaren schreibt Dickens:
Und zu Lorry:
Es gibt eine entsprechende Treuebeziehung. Auf seinem Weg nach Frankreich, um sich der wertvollen Unterlagen von Tellson anzunehmen, erklärt Lorry, warum Cruncher die denkbar beste Wahl für seinen Leibwächter darstellt:
(Und ja, auch wenn Lorry nichts davon weiß, ist Jerry ein Teilzeit-Wiederauferwecker. Selbst treue Hunde buddeln oder hecken ab und zu in ihrer Freizeit irgendwelche eigenen Sachen aus.)
Lorry und Cruncher sind ja schon ein ›reizendes‹ Paar. Doch zu einer äußerst gewaltigen Szene kommt es, als Miss Pross gegenüber Defarge zeigt, was für Kräfte in ihr schlummern. Dickens kann nicht widerstehen, diese Zwillings-Horatius auf der Brücke[35] und ihre selbstaufopfernde Edelmütigkeit, ins Lächrliche zu ziehen. Immerhin sind sie ja nur Diener, die ihren Herren die Flucht ermöglichen.
»Furcht und Hoffnung, für unsere liebe Herrschaft machen mich so wirr«, fuhr Miss Pross unter hellen Tränen fort, »daß ich keinen Plan fassen kann. Könnt Ihr einen Plan fassen, mein lieber, guter Mr. Cruncher?«
»Was meine künftige Lebensweise betrifft, Miss«, entgegnete Mr. Cruncher, »hoff ich's nicht. Wollt Ihr mir den Gefallen tun, Miss, sich zwei Versprechen und Gelübte zu merken, die ich in dieser vertrackten Lage hier machen möchte?«
»Ach, um Himmels willen«, rief Miss Pross, immer noch laut weinend, »nur gleich heraus damit und aufgeräumt, wie's ein richtiger Mann macht.«
»Ernstlich«, sagte Mr. Cruncher, der am ganzen Leib zitterte und mit leichenblassen, feierlichen Gesicht sprach, »wenn die armen Dinger glücklich heraus sind, will es nie wieder tun, nie, nie wieder!«
»Ich bin fest überzeugt, Mr. Cruncher«, entgegnete Miss Pross, »daß Ihr's nie wieder tun werdet, was es auch sei, und ich bitte Euch, es nicht für notwendig zu halten, näher darauf einzugehen, was es ist.«
»Nein, Miss«, gab Jerry zurück, »Ihr soll weiter nichts davon hören. Zweiteres, wenn die armen Dinger glücklich heraus sind, will ich gar nie mehr was gegen Mrs. Crunchers Rutschen sagen, nie, nie wieder!«
»Was für eine Wirtschaftseinrichtung das auch sein mag«, sagte Miss Pross, indem sie die Augen zu trocknen und sich zu fassen versuchte, »so bezweifle ich nicht, es ist das beste, Ihr überlaßt es ganz Mrs. Cruncher eigener Entscheidung — ach, meine armen Lieben!«[36]
Schließlich taucht die elfengleich-böse Defarge auf und Pross liefert ihr einen heftigen Kampf. Nun mache ich etwas Ungewöhnliches, indem ich einen Gutteil von Kapitel 14 »Ausgestrickt« aus Teil III von Zwei Städte anführe. Falls Ihnen dieser entsetzliche Mangel an Konzentration für Clarkes Roman mißfällt, bitte einfach weiterblättern, weiterblättern. Mein Grund diesen ganzen Abschnitt anzuführen ist, daß die schiere Seltsamkeit — seltsam für Dickens oder sonstjemandes Verhältnisse — des Dialoges als Ganzes goutiert werden sollte. Beide Figuren reden zu sich selbst in bizarren Selbstgesprächen. Aufgrund der Sprachbarriere kann keine der beiden die andere verstehen, was die Szene undurchschaubar wirken läßt. Man muß bis zu Stan Lees blechernen Dialogen für Kirbi-Werke warten, bis einem vergleichbar unnatürliche Kampf-Selbstgespräche geboten werden.[37]
Das Waschbecken fiel zu Boden und zerbrach, und das Wasser floß auf Madame Defrages Füße zu. Auf seltsam rauhen Wegen und durch viel vergossenes Blut waren diese Füße diesem Wasser genaht.
Madame Defarge sah sie kalt an und sagte: »Wo ist die Gattin Evrémondes?«
Es fiel Miss Pross ein, daß alle Türen offenstanden und dadurch die Flucht verraten könnten. Ihr erstes war, sie zu schließen. Das Zimmer hatte vier, und sie schloß alle. Dann stellte sie sich vor die Tür des Gemachs, das Lucie bewohnt hatte.
Madame Defarges dunkle Augen folgten ihr bei dieser raschen Bewegung und verharrten auf ihr, als sie beendet war. Miss Pross war nicht weniger als schön; die Jahre hatten ihr schroffes, eckiges Wesen weder gezähmt noch gemildert; aber auch sie war auf ihre besondere Weise eine entschlossene Frau und maß Madame Defarge mit den Augen von Kopf bis Fuß.
»Dem Aussehen nach könntest du Luzifers Frau sein«, sagte Miss Pross, während sie verschnaufte. »Dennoch sollst du mich nicht kleinkriegen. Ich bin eine Engländerin.«
Madame Defarge sah sie geringschätzig an, aber doch mit derselben Empfindung wie Miss Pross: daß sie beide kampfbereit waren. Sie sah eine energische, unnachgiebige, kräftige Frau vor sich, wie Mr. Lorry in vergangenen Jahren in derselben Gestalt ein Weib mit starker Hand gesehen hatte. Sie wußte recht gut, daß Miss Pross der Familie treu ergeben war; Miss Pross wußte recht gut, daß Madame Defarge der Familie todfeind war.
»Aus meinem Weg dorthin«, sagte Madame Defarge mit einer leichten Handbewegung nach dem Hinrichtungsplatz, »wo sie mir meinen Stuhl und mein Strickzeug aufheben, komme ich herauf, um sie im Vorbeigehen zu begrüßen. Ich wünsche sie zu sprechen.«
»Ich weiß, daß du böse Absichen hast«, sagte Miss Pross, »und du kannst dich darauf verlassen, ich behaupte meinen Platz gegen sie.«
Jede sprach in ihrer Landessprache; keine verstand die andere; beide waren voll gespannter Aufmerksamkeit, um aus Blick und Haltung zu erraten, was die unverständlichen Worte bedeuteten.
»Es ist nicht gut für sie, wenn sie sich in diesem Augenblick vor mir versteckt«, sagte Madame Defarge. »Gute Patrioten wissen, was das zu bedeuten hat. Ich muß sie sprechen. Sagt ihr, daß ich sie sprechen will. Hört ihr?«
»Und wenn deine Augen Bettzwingen wären«, erwiderte Miss Pross, »und ich ein englisches Himmelbett, so sollten sie keinen Splitter von mir locker kriegen. Nein, du bösartige, fremde Katze; ich bin dir gewachsen.«
Madame Defarge konnte natürlich diesen fremdsprachigen Bemerkungen nicht im einzelnen folgen, aber sie verstand doch so viel, daß man ihr Trotz bot.
»Einfältiges, schmutziges Weib!«, sagte Madame Defarge stirnrunzelnd. »Ich laß mich von dir nicht abfertigen. Ich muß sie sprechen. Entweder sag ihr, daß ich sie sprechen will, oder gib die Tür frei und laß mich hinein!« Dies begleitete sie zur Erklärung mit einem zürnenden Wink ihrer Hand.
»Ich hätte nicht gedach«, sagte Miss Pross, »daß ich je wünschen könnte, deine unsinnige Sprache zu verstehen; aber ich gäbe alles, was ich besitze, außer den Kleidern am Leib, wenn ich wüßte, ob du die Wahrheit ahnst oder einen Teil davon.«
Keine ließ für einen einzigen Augenblick die Augen der anderen los. Madame Defarge hatte sich noch nicht von der Stelle bewegt, wo sie stand, als Miss Pross sie zuerst erblickt hatte, aber jetzt trat sie einen Schritt vor.
»Ich bin eine Engländerin«, sagt Miss Pross, »ich bin zur Verzweiflung getrieben. Ich bin mir kein englisches Zweipfennigstück wert. Ich weiß, je länger ich dich hier festhalte, desto besser ist es für mein Herzblättchen. Ich lasse dir keine Handvoll von den schwarzen Haaren auf deinem Kopf, wenn du mich mit einem Finger anrührst.«
So sprach Miss Pross mit einem Kopfschütteln und einem Blitz ihrer Augen nach jedem raschen Satz, und jeden raschen Satz sprach sie in einem Atem. So sprach Miss Pross, die nie in ihrem Leben einen Schlag geführt hatte.
Aber ihr Mut war von der erregbaren Art, daß er ihr ununterdrückbare Tränen in die Augen trieb. Das war ein Mut, den Madame Defarge so wenig begriff, daß sie ihn für Schwäche hielt. »Ha, ha!«, lachte sie, »armseliges Weib! Was bist du wert! Ich wende mich an den Doktor! Weib des Evrémonde! Kind des Evrémonde! Irgendwer, nur nicht diese jämmerliche Törin, soll der Bürgerin Defarge antworten!«
Vielleicht das Schweigen, das folgte, vielleicht eine unbewußte Enthüllung im Gesichtsausdruck der Miss Pross, vielleicht eine plötzliche Ahnung, unabhängig von allen Anzeichen, flüsterte Madame Defarge zu, daß sie fort seien. Drei der Türen stieß sie rasch auf und blickte hinein.
»Diese Zimmr sind alle in Unordnung, man hat in Eile gepackt, vielerlei liegt auf dem Boden herum. Niemand ist im Zimmer hinter dir. Laß mich nachsehen!«
»Nie!«, sagte Miss Pross, die die Forderung so vollkommen verstand wie Madame Defarge die Antwort.
»Wenn sie nicht in diesem Zimmer sind, so sind sie fort und können verfolgt und zurückgebracht werden«, sagte Madame Defarge zu sich selbst.
»Solange du nicht weißt, ob sie in diesem Zimmer sind oder nicht, weißt du nicht, was du tun sollst«, sprach Miss Pross zu sich, »und du sollst es nicht erfahren, wenn ich es hindern kann; und ob du es weißt oder nicht, du sollst hier nicht wegkommen, solange ich dich halten kann.«
»Ich bin in den Straßen vorn dran gewesen, nichts hat mich aufhalten können, ich reiß dich in Stücke, aber weg von dieser Tür mußt du«, sagte Madame Defarge.
»Wir sind allein, im oberen Stock eines hohen Hauses, in einem einsamen Hof, es ist nicht wahrscheinlich, daß uns jemand stört, und ich bitte Gott um Kraft, dich hier festzuhalten, wo doch jede Minute, die du hier bist, hunderttausend Guineen für mein Herzblättchen wert ist«, sprach Miss Pross.
Madame Defarge ging auf die Tür zu. Miss Pross, von der Eingebung des Augenblicks getrieben, packte sie mit beiden Armen um den Leib und hielt sie fast. Vergeblich stieß und schlug Madame Defarge; mit der kraftvollen Zähigkeit der Liebe, die stets soviel stärker ist als der Haß, hielt Miss Pross sie fest und hob sie sogar während ihres Ringens in die Höhe. Die Hände Madame Defarges schlugen und zerkratzten ihr Gesicht; aber Miss Pross, den Kopf gesenkt, hielt sie umschlungen und klammerte sich an sie mit der Verzweiflung der Ertrinkenden.
Bald hörten Madame Defarges Hände auf zu schlagen und fühlten nach dem Gürtel. »Es ist unter meinem Arm«, sagte Miss Pross mit halberstickter Stimme, »du sollst es nicht herauskriegen. Ich bin stärker als du, Gott sei Dank. Ich halte dich fest, bis eine von uns ihn Ohnmacht fällt oder stirbt.«
Madame Defarges Hände waren in ihrem Busen. Miss Pross bickte auf, sah, was es war, schlug danach, schlug einen Blitz und einen Knall heraus und stand allein — blind vom Rauch.
All dies dauerte nur eine Sekunde. Als sich der Rauch verzog, eine unheimliche Stille zurücklassend, entschwebte er in die Luft wie die Seele des wütenden Weibes, dessen Körper leblos am Boden lag.
Im ersten Schrecken und Grauen über ihre Lage, wich Miss Pross der Leiche möglichst weit aus und lief die Treppe hinab, um unnütze Hilfe zu rufen. Zum Glück dachte sie noch so rechtzeitig an die Folgen ihres Tuns, daß sie sich besinnen und umkehren konnte. Es war schrecklich, wieder an die Tür zu gehen; aber sie tat es und wagte sich sogar in die Nähe der Leiche, um ihren Hut und andere Kleidungsstücke zu holen. Diese zog sie draußen auf der Treppe an, schloß und versperrte die Tür und zog den Schlüssel ab. Dann setzte sie sich ein paar Augenblicke auf die obersten Stufen, um Atem zu schöpfen und zu weinen, und dann stand sie auf und eilte fort. Zum Glück hatte sie einen Schleier an ihrem Hut, sonst hätte sie kaum durch die Straßen gehen können, ohne angehalten zu werden. Zum Glück war sie auch von Natur so eigentümlich in ihrer Erscheinung, daß Entstellung bei ihr weniger auffiel als bei anderen. Beide Vorteile hatte sie nötig, denn die Finger der Gegenerin hatten ihr Gesicht zerkratzt, ihr Haar war zerzaust und ihre hastig mit flatternden Händen angelegten Kleider waren abenteuerlich zerknüllt und verzerrt.
Als sie über die Brücke ging, warf sie den Schlüssel in den Fluß. Sie kam einige Minuten vor ihrem Begleiter an der Kirchtür an, und während sie dort warteten, dachte sie, wie es wäre, wenn man den Schlüssel schon in einem Netz gefangen, wenn man ihn erkannt, wenn man die Tür geöffnet und die Leiche entdeckt hätte, wenn sie am Tor angehalten, ins Gefängnis geschickt und des Mordes angeklagt würde! Mitten unter diesen aufregenden Gedanken erschien der Begleiter, nahm sie in den Wagen und fuhr mit ihr fort.
»Ist Lärm auf den Straßen?«, fragte sie.
»Der gewöhnliche Lärm«, erwiderte Mr. Cruncher und sah sie an, erstaunt über die Frage und ihr Aussehen.
»Ich versteh Euch nicht«, sagte Miss Pross. »Was sagtet Ihr?«
Vergeblich wiederholte Mr. Cruncher seine Antwort; Miss Pross konnte ihn nicht hören. So will ich nicken, dachte Mr. Cruncher erstaunt, das wird sie jedenfalls sehen. Und sie sah es.
»Ist jetzt Lärm auf der Straße?«, fragte Miss Pross alsbald noch einmal.
Wieder nickte Mr. Cruncher.
»Ich hör ihn nicht.«
»In einer Stunde taub geworden?«, sagte Mr. Cruncher nachdenklich und sehr beunruhigt; »was ist ihr zugestoßen?«
»Mir ist«, sprach Miss Pross, »als wäre ein Blitz und ein Knall gewesen und dieser Knall wäre das letzte, was ich im Leben hören soll.«
»Wenn das nicht ein kurioser Zustand ist«, sagte Mr. Cruncher, mehr und mehr verwundert. »Was kann sie zu sich genommen haben, um sich Mut zu machen? Hört! Da kommen diese schrecklichen Karren angerumpelt! Das können Sie doch
hören, Miss!«
»Ich kann nichts hören«, sagte Miss Pross, als sie sah, daß er zu ihr sprach. »Ach, guter Mann, erst war ein großer Knall und dann eine große Stille, und diese Stille scheint fest und unveränderlich zu sein, als sollte sie nie wieder aufhören, solange mein Leben dauert.«
»Wenn sie das Rumpeln dieser schrecklichen Karren nicht hört, die jetzt dem Zeil ihrer Reise sehr nahe sind«, sagte Mr. Cruncher mit einem Blick über die Schulter, »so ist meine Meinung, daß sie wahrhaftig nie wieder was auf dieser Welt hören wird.«
Und wirklich war sie von Stund an taub.[38]
Nach alledem nun zurück zu JS&MN.
Die vergleichbare Gemeinsamkeit, auf die ich hinaus will, besteht darin, daß in beiden Fällen jeweils Bedienstete auf den Höhepunkt der Handlung verstrickt sind — demütige Charaktere — die herausgefordert werden, sich gegen schrecklich bösartige Mächte zu stellen, seien es feine Elfenherren oder Madam Defarge. In beiden Fällen müssen die Diener gleichermaßen dafür einstehen, die Flucht von Frauen der Oberschicht zu ermöglichen. Der Pathos beider Szenen liegt darin, daß bescheidene Personen plötzlich von unvorhergesehener Stärke erfüllt werden — genauer gesagt einer Stärke, die sie aus ihrer Beziehung zum Heimatland schöpfen; Pross als (Himmelbett)-Herz aus Eiche. Ich verrate Ihnen hier nicht, was mit Stephen geschieht, außer, daß sein Zauber funktioniert. Die Endkämpfe verwunden die demütigen Verteidiger. Das entspricht ganz der Art, wie man solche Ereignisse zu gestalten pflegt. Wenn man das mag. Und gewiss mag ich das. (Vgl. auch Granny Wetterwachs, eine weitere Pross-Nachfahrin, während des Höhepunkts von Terry Prattchets Lords und Ladies.)
Trotzdem, solche verflixt rätselhaften Kampfszenen wie Dickens kann man nicht einfach so daherschreiben, zumindest nicht heutzutage. Ich glaube, heute würde man für so etwas gesteinigt. Mit einer derart humoristischen Respektlosigkeit wie Dickens, darf man als Autor Untergebene nicht mehr behandeln. Ein möglicher Ausweg aus dieser Zwickmühle ist, diese ganze Sam-Frodo-Dyanamik als unzumutbar zu vermeiden. Es wäre bestimmt lustig Der Herr der Ringe und Was vom Tage übrigblieb[39] miteinander zu kreuzen, mit Sam der pflichtbewußt seinem Frodo folgt, und sich dann herausstellt, daß sein Herr nicht auf einer heldenhafte Suche, sondern dabei ist, etwas zutiefst Unrechtes und Dummes anzustellen, wodurch das Leben des Dieners für einen moralischen Irrtum verschwendet werden würde. Nicht nur entgeht dem Untergebenen dadurch die Frau, die sich nachvollziehbarerweise weigerte zu warten, womöglich wird er darüberhinaus zu seiner Qual in einen Nazgul oder etwas ähnliches verwandelt.
Ein andere Möglichkeit bestünde darin, einiges von der Originalszene zu bewahren, und dabei Figuren wie Childermass und Stephen mit mehr Würde und abgerundeter als Cruncher und Pross zu gestalten.. In meinen Augen ist Clarke das gelungen. Ich sollte hinzufügen, daß mir klar ist, daß seine Diener-Figuren mit Würde zu behandeln nicht der schwertste schreibhandwerkliche Kniff ist. Man kann zum Beispiel darauf achten, daß sie am Ende des Buches beide wohlbehalten von den Fesseln ihres Dienstbotendaseins befreit werden. Auch wenn sich die Intuition gehörig dagegen streubt, vermute ich, daß es mir einfach Vergnügen bereitet, mir Stephen als einen literarischen Nachfahren von Miss Pross vorzustellen.
Nun mag man den Einspruch erheben, daß Stephen im Gegensatz zu Miss Pross eine weitaus zentrale Figur ist, doch tatsächlich — wenn man's bedenkt — macht er bis zum Ende des Buches nicht wirklich viel. Das läßt sich freilich damit begründen, daß er von einem Gentleman verzaubert wurde.
Nun zur letzten Anmerkung über Stephen. Sehr brilliant ist der Symbolismus, wie er matt seinen Pflichten für Lord Pole nachkommt, während der Gentleman mit dem Haar wie Distelwolle ihn mit verschwenderischen Geschenken überschüttet und dafür sorgt, daß niemand dies bemerkt. Stephen häuft die herrlichsten Schätze aus ganz Europa in seiner einfachen Stube an, und bleibt der Diener, der er immer war. Normalerweise sind es — wie in Was vom Tage übrigblieb — innere, von niemandem bemerkte Reichtümer, von denen die Idee eines Dieners mit erfülltem Leben erzählt, bei Stephen aber ist es eine Fülle äußerer Schätze. Ein grausame Variante des reichen Innen/Außen-Lebens, oder wie Dickens berühmterweise sein drittes Kapitel von Zwei Städte eröffnet:
Es ist eine wunderbare, des Nachdenkens werte Tatsache, daß jedes Menschenwesen dazu angetan ist, für jedes andere ein tiefes Geheimnis und Rätsel zu sein. Es ist ein feierlicher Gedanke, wenn ich bei Nacht in eine große Stadt komme, daß jedes dieser düster zusammengedrängten Häuser von ihnen sein Geheimnis in sich schließt; daß jeder Raum in jedem von ihnen sein Geheimnis enthält; daß jedes schlagende Herz in den Hunderttausenden von Menschenbusen in einigen seiner Träume ein Geheimnis für das ihm nächste Herz ist. Etwas von dem erhabenen Grauen, das der Tod entblößt, ist dem zuzuschreiben![40]
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molosovsky Besitzerin
Henry Farrell: »Die Rückkehr des Königs«
John Crowleys[1] Roman Aegypten erzählt die Geschichte des Königs der Katzen neu. Ein Reisender hört, wie eine Katze zur anderen sagt: »Sag Dildrum, daß Doldrum tot ist.« Als er nach Hause kommt und das seiner Frau erzählt, springt die Familienkatze bei ihrem Platz am Feuer auf und schreit: »Dann bin ich nun der König der Katzen!«, und flitzt den Kaminschacht hinauf, und wurde nie wieder gesehen. Crowleys Figur, Pierce Moffatt, erzähl das so:
Nichts legt irgendwie nahe, daß Suasanna Clarke an diesen Abschnitt dachte, als sie JS&MN schrieb. Sicherlich ist sie mit Crowley vertraut — einer der Wahrsagekarten von Childermass könnte das Kartendeck von Großtante Cloud aus Little, Big – Das Parlament der Feen als Vorbild gedient haben —, aber JS&MN ist ein entschieden eigenständiges Werk, das seinen eigenen Themen nachgeht und dessen Quintessenz anders geartet ist. Dennoch ist die Passage aus Crowleys Buch nützlich, um zu bestimmen, zu welcher Sorte Geschichte JS&MN gehört. Der Roman gleicht der Geschichte über den König der Katzen. Dreh- und Angelpunkt des Romans treten nicht augenfällig an die Leser heran, denn es scheint um etwas anderes zu drehen. Schon der Romantitel führt auf eine falsche Fährte: Jonathan Strange und Mr. Norrell sind nicht annähernd so wichtig, wie die beiden glauben. In den Lücken zwischen den Taten der Hauptfiguren wird von einer verborgenen Geschichte geflüstert. Wie es Vinculus, der vagabundierende Prophet, Childermass sagt, sind die beiden Zauberer weniger die Agierenden, sondern es wird mit ihnen gehandelt, sie sind weniger Zauberer, somndern vielmehr Teil einer Zauberei. Vinculus selbst, wie schon sein Name andeutet, ist eine der Ketten, welche die beiden Zauberer mit der ihnen zugedachten Aufgabe verbindet. Die Zauberer scheitern an ihrer Aufgabe, und das sollen sie auch — die Zukunft des von Clarke beschriebenen England gehört anderen Menschen als denen, für die Strange und Norrell einstehen.
Wenn sich die Geschichte also nicht um Jonathan Strange und Mr. Norrell dreht, um was denn dann? Wie Neil Gaiman in seinem Sprüchlein für den Roman sagt, ist dies ein englischer Phantastik-Roman, und so wie das Buch verstehe, bildet den Kern des Buches die Auseinandersetzung mit der Frage, was Engländer zu sein bedeutet. Wie auch in Flucht ins Feenland von Hope Mirrlees[3], folgt die Struktur bei JS&MN den Spannungen zwischen dem Land der Elfen und den selbstgefälligen Wahrheiten der englischen Gesellschaft. Doch Clarke geht noch weiter und schildert das Land der Elfen weniger als lediglich separiertes Reich, sondern vielmehr als die uneingestanden Wurzeln des Englischseins. Die historische Geschichte der Zauberei, ebenso wie die mit ihr zusammenhängende Geschichte Englands, ließ man absichtlich dem Vergessen anheim fallen — »allem, was modernen Damen und Herren nicht ganz einsichtig war – John Uskglass' dreihundertjährige Herrschaft, die seltsame, komplizierte Geschichte unseres Umgangs mit Elfen –, könne man sich bequem entledigen.«[4] Die Rückkehr der Zauberei könnte die bestehenden Meinungen der englischen Gesellschaft verärgern; oder wie es ein Mitglied der Gilde von Manchester zu Beginn des Buches meint, ist angewandte Zauberei keine angemessene Tätigkeit für Gentleman. Die Zauberei kehrt zurück, und zwar durch das Wirken von Mr. Norrell, der sich wissentlich aus Angst davor, was wilde Magie anzurichten vermöchte, dazu entschieden hat ein verknöcherter Konservativer zu sein, und Jonathan Strange, der trotz all seiner Byron-haften Anteilnahme ein Zögling der oberen Klassen der englischen Gesellschaft und deren unbewußter Vorurteile ist. Zauberei wird als Mittel eingesetzt, um bequemere Straßen für Wellingtons Truppen zu erschaffen, und Britanniens Küsten vor Erosion zu bewahren. Zauberei wird dazu verwendet das England des achtzehnten Jahrhunderts zu schützen, mit all seinen Hierarchien und Konventionen.
Doch die Wurzeln der Zauberei in Vergessenheit geraten zu lassen birgt Gefahren. In seinem Aufsatz »Abhandlung über das erstaunliche Wiederaufleben der englischen Zauberei« in der Edinburgh Review schreibt Strange:
Strange hat nur halb Recht. Die Ursprünge der englischen Zauberei zu verstehen reicht nicht aus, um die Schwachpunkte im Gefüge der englischen Gesellschaft bloßzulegen. Weit gefehlt. Würde man die Grundrisse der englischen Zauberei, der Englischhaftigkeit bloßlegen, wäre die gesellschaftliche Ordnung in Gefahr hinweggefegt zu werden, mit all ihren Weisungen und Hierarchien, Unterscheidungen zwischen Oberschicht und Unterschicht, Männern und Frauen, Weißen und Farbigen, Nichtjuden und Juden, Londonern und Provinzlern, und diese Differenzierungen würden sich als das entpuppen, was sie sind, nämlich die Folgen von Zufällen. Die englische Zauberei ist nicht so angenehm wie es den Anschein hat. Das sehen auch Sir Walter Pole und Colonel Grant ein, als Jonathan Strange ihnen von seinen Reisen im unheimlichen Land hinter dem Spiegel berichtet. »Die Zauberei, die vor ein paar Stunden noch so vertraut, so englisch erschienen war, wirkte jetzt unmenschlich, unirdisch, anderländisch.«[6]
Spiegel und Zauberei gehören in JS&MN zusammen, ist doch Zauberei eine Art Bespiegelung des typisch Englischen. Im Zentrum der englischen Zauberei befindet sich der Rabenkönig, und einer seiner Namen ist John Duskglass, ursprünglich d'Uskglass. Und tatsächlich ist die englische Zauberei eine Art dunkles Glass[7], ein Spiegel der düster offenbahrt, woraus sich Englischsein zusammenfügt. Dementsprechend wie durch einen Spiegel gesehen, setzt sich das Elfenland aus alledem zusammen, was die Engländer über ihr Land vergessen haben, oder lieber nicht wissen wollen. Schlachtfelder auf denen immer noch Skelette in Rüstung vertreut sind; bedrückend düstere Burgen; Zeremonien, die wie »Feierlichkeiten aus Staub und Nichts«[8] sind. Zauberei erinnert an die brutalen Ursprünge der englischen Gesellschaft, mit ihren immer noch gültigen feudalen Unterscheidungen, und der Gewalt, oder Androhung von Gewalt, auf die sich diese Unterschiede stützen. Der »Herr mit Haar wie Distelwolle«, ein Elfenprinz, ist ein typischer Vertreter der aristokratischen Mißachtung der Bedürfnisse Anderer (auch wenn er vielleicht eher ein Autokrat, denn ein Aristorat ist). Wie er dem Diener Stephen Black erzählt, sind die Gäste auf seinen nächtlichen Festen seine Vasallen und Untergebenen, von denen er jeden ohne Skrupel töten würde, wenn es einer wagen sollte ihn zu kritisierten. Übertrifft seine Hartherzigkeit nicht sogar jene von Jonathans Vater, der aus einer gausamen Laune heraus den kranken Diener Jeremy Johnes in den möglichen Tod in die kalte Winternacht hinaus schickt? Ist er nicht schlimmer, als der bösartige und selbstzufriedene Lascalles, der zum Zeitvertreib Frauen ins Verderben stürzt, grundloss einen Mann tötet und grausam das Gesicht des Dieners Childermass aufschlitzt, als dieser die Unverschämtheit besitzt ihn (berechtigt) des Diebstahls zu beschuldigen? Ist er nicht schimmer, als der geckenhafte Schmarozzer Drawlight, der in einer zwielichten Welt zwischen der Oberschicht und Unterschicht pendelt, und davon lebt andere in den Ruin zu treiben?
Die Burg[9] des Herren mit dem Haar wie Distelwolle wird als »{e}in uraltes Gefängnis, errichtet aus kaltem Zauber sowie Stein und Erde«[10] beschrieben, und das selbe läßt sich auch über die englische Gesellschaft sagen. Tatsächlich empfindet Stephen Black seine nächtliche Gefangenschaft in der Burg manchmal als Erholung von den Demütigungen seines altäglichen Lebens als schwarzer Diener in London. Black, Johnes, Childermass und die überwiegende Mehrheit der Engländer sind Gesetzen und Verpflichtungen unterworfen, durch die sie zum Spielball der Launen der Bessergestellten gemacht machen — auch sie schuften unter dem Einfluß einer ganzen Reihe dunkler Verzauberungen. Selbst Jonathan Strange, der gegenüber den Ungerechtigkeiten aufmerksamer ist als die meisten, wird durch seinen Stand und seine Stellung geprägt. Er ignoriert die Warnung seines Nachbarn Mr. Hyde, zum Teil, weil Strange nicht glauben will, daß ein Bauer ihm irgendetwas Bedeutendes zu sagen hat, und auch Strange ist empört, als ihn Geschäftsleute aus der Provinz beim Billard anquatschen. Strange nimmt sich zwar des jüdischen Zauberers Tom Levy aus der unteren Mittelklasse an, beschreibt ihn aber dennoch als einen »sonderbaren kleinen Mann«.[11] Auch wenn Stranges Herablassung gegenüber gesellschalftlich Niederstehenden weniger merklich und widerlich ist, ist sie nichtdestotrotz vorhanden.
Die Normen der englischen Gesellschaft sind zwar repressiv, aber sie sind doch auch brüchtig. Wenn man diese Normen genauer in Augenschein nimmt, wird deutlich, wie willkürlich sie sind, und daß man sie, auch wenn sie der natürlichen Ordnung zu entsprechen scheinen, verändern könnte.
In den fernen Himmel es entflieht,
Bebt wie windgepeitschter Regen,
So der Rabenkönig seine Kreise zieht.[12]
Auf all dem gründet der widersprüchliche Ton den Buches, den John Clute (irrigerweise wie ich meine) als einen Makel liest. Des Buch kommt über Weite Strecken als eine Art Gesellschaftskomödie daher, mit einer Reihe trockener Beobachtungen über die Absurdität der englischen Sitten, und darüberhinaus als etwas, das sich wie ein kleinliches Hickhack zwischen zwei besessenen Zauberen ausnimmt. Doch hie und da schimmern Teile einer anderen, tieferen Geschichte durch, wie Childermass (die womöglich interessanteste und komplizierteste Figur des Romans) begreift, als auf ihn geschossen wird:
Die Unterschiedlichkeit des Tones zwsichen der Sittenkomödie und den finstereren Angelegenheiten zum Ende des Buches, wenn die Bühnenmaschinerien hinter dem Dramatis Personæ teilweise sichtbar werden, ist meiner Meinung völlig beabsichtigt. Dem Leser soll wohl nahegebracht werden, daß sich die Hauptfiguren mit bequemen Meinungen darüber, was als Englisch gilt, sich auf dünnem Eis bewegen. Als sich der Roman seinem Ende nähert, wird das Skelett eines fremdartigeren, kargeren Englands sichtbar.
Die traditionellen Hierarchien, aus denen sich die englische Gesellschaft zusammensetzt, werden zudem zu einer Falle. Lascalles regt sich so heftig über die Aufmüpfigkeit von Childermass und anderer Bediensteten mit ihrer »Demokratie« auf, die glauben, ihm dreinreden zu können, wie er mit einem Notall umgehen soll, daß Lascalles sich entschließt das Elfenreich zu betreten, um gegenüber Childermass seine Überlegenheit zu beweisen, wenn er sich etwas traut, daß Childermass nicht wagte. Doch durch seine pervertierte Auffassung von noblesse oblige fällt Lascalle einem ausgesprochen unangenehmen Schicksal anheim.
Nicht alle sind auf diese Art Gefangene ihrer Ansichten, wie sich anhand von Mr. Norrells Bestürtzung darüber zeigt, daß die Rückkehr der englischen Zauberei nichts weniger bedeutet, als eine Demokratisierung der Möglichkeiten. Als sich der Roman seinem Abschluß nähert, beginnt sich der Norden aufzulehnen, eine Entwicklung der nur am Rande Aufmerksamkeit gewidmet wird, die aber von großer Bedeutung ist. Der Rabenkönig John Uskglass entwickelt sich zu jemanden wie Ned Ludd oder Captain Swing[15] — zu einer Inspiration für die enteigneten Weber und aller anderen, die im England von Strange und Norrell zu den Verliehrern gehören. Die Gilde von Manchester kommt wieder zusammen — und die Mitgliedschaft ist nicht auf Gentleman (oder Quasi-Gentleman wie John Segundus) beschränkt. Englands Spiegel öffnen sich, doch weder Strange oder Norrell werden zwischen den möglichen Welten wählen.
Somit ist JS&MN letztendlich nicht eine Geschichte über zwei englische Zauberer, als vielmehr ein Roman darüber, was es heißt Engländer zu sein. Nicht zwischen zwei Zauberern findet der eigentliche Kampf des Buches statt (alle erwarten, daß sie sich ein magisches Duell liefern, nachdem Strange nach England zurückkehrte; stattdessen stellt sich heraus, daß die beiden mehr miteinander gemein haben, als sie zuvor bereit waren einzugestehen). In dem Buch ringen vielmehr unterschiedliche Ansichten über das Englischsein miteinander. Hinter der Komödie, die davon erzählt wie diese Ansichen sich begegnen, miteinander verkrachen und am Ende wieder vereinen, spielt sich eine geheime Geschichte ab; nämlich die Erzählung von der Rückkehr des Rabenkönigs. Der ist aber weniger ein König im herkömmlichen Sinne (auch wenn er das einst mal war). Der Rabenkönig ist ein Wirbelwind von Möglichkeiten, ein leerer weißer Himmel in dem Raben kreisen, unter denen die Stadtlandschaft von London verblaßt und endlose, braune, flache Felder erscheinen, übersäht mit Pfützen die wie Portale sind, die sich von jedem öffnen und durch die sich andere Welten betreten lassen. Man kann auch sagen, diese handelt Geschichte davon, daß England auch etwas anderes sein könnte, als eine vom ihrem Klassengefüge geplagte Gesellschaft, die keine Zweifel wegen ihrer Vorurteile hegt. Auch wenn es am Ende des Buches nicht so aussieht, als ob diese Idee eines Englands sich durchsetzten kann, so wird sie immerhin offenbart. Ich bin sehr gespannt, was Susanna Clarke aus diesem Material noch machen wird (und hoffe, sie gewährt uns dazu in ihrem Beitrag hier Einblicke). Es verspricht interesant zu werden.
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molosovsky Besitzerin
Susanna Clarke: »Frauen und Männer; Diener und Herren; England und die Engländer«
Wie China Miéville[1] werde ich mit sowas wie einer Ausschlußklausel anfangen. Ich gehe sogar soweit, etwas von ihm aufzugreifen, was er zu Beginn seines Crooked Timber-Beitrages geschrieben hat:
Ich gehe noch einen Schritt weiter. Mein Problem liegt weniger darin, daß Autorinnen nicht immer alles wissen, sondern kläßt sich eher so umschreiben: »Entschuldigt bitte, aber ich bin eigentlich gar nicht die Autorin.« Die Autorin konnte leider nicht kommen. Die Autorin hat das Gebäude verlassen. Sie ist gegangen, als das Buch fertig war. Ich bin nur die Person die übrig blieb, nun da sie fort ist. Ich bin vielleicht in der Lage auszuhelfen, weil ich einen Haufen ihrer Erinnerungen hier habe — eine Menge Notizen und Unterlagen. Einige Erinnerungen mögen kristallklar sein, doch andere sind verschwommen und viele sind ganz weg. Mit den Notizen und Unterlagen verhält es sich genauso. In vielen Fällen wäre die Autorin zudem sowieso nicht in der Lage, Fragen darüber zu beantworten, was sie beabsichtigt hat, als sie dieses oder jenes schrieb. Darüber hat sie nie nachgedacht. Ich werde so gut ich kann versuchen, was ich vermag zu rekonstruieren. Tatsächlich werde ich so tun, als ob ich die Autorin wäre und »ich« statt »sie« schreiben. Es geht mir darum, daß, falls Sie das Gefühl haben ich würde der Autorin widersprechen, sie ihr (der Autorin) Glauben schenken sollten. Sie ist von uns beiden die schlauere.
Wer erzählt den Roman?
Erst sehr spät beim Schreiben des Romanes habe ich begonnen mir diese Frage zu stellen. Ich zu keiner Lösung gelangt. Als das Buch dann erschienen ist, haben die Leute angefangen mich danach zu fragen, und ich mußte mir etwas einfallen lassen. Zu der Zeit haben etliche Personen Vermtungen geäußert, wer die Erzählerin oder der Erzähler sein könnte. Einige meinten es sei Segundus — was ich für ganz schön schlau halte — nicht zuletzt, weil ich mir überlegt habe, daß Segundus etwas schreiben oder editieren könnte — was noch geschehen mag, oder auch nicht.
Ich war ziemlich sicher, daß der Roman von einer Frau erzählt wird. Der erste Satz des neunten Kapitels scheint das anzudeuten:
Auch macht es den Anschein, daß die Erzählerin die männlichen Charaktere aus speziefisch weiblicher Sicht betrachtet. Vor allem ihre Ironie ist eine typisch weibliche Ironie. Die männlichen Figuren belustigen die Erzählerin nicht nur mit dem was sie sagen und tun, nein, allein schon der Umstand, daß sie Männer sind, amüsiert sie.
Belle macht darauf aufmerksam, daß die Ereignisse von denen die Erzählerin berichtet, sich in jüngster Vergangenheit zugetragen haben. Das ließ mich schlußfolgern, daß die Erzählerin ihr Buch in den späten Zwanziger-, womöglich in den Dreißigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts geschrieben hat.
Diese Ansicht habe ich aber wieder verworfen. Ich denke, ich wußte schon die ganze Zeit über, wer die Erzählerin ist. Sie ist die völlig gewöhnliche, alles sehende, allwissende Erzählerin aus dem 19. Jahrhundert.
Warum also glauben die Leser, daß sie eine bestimmte Person sein müsse? Warum dache ich das? Erstens wohl, weil die Erzählerin sich gelegenlich mit Kommentaren selbst unterbricht, und zweitens, wegen der Fußnoten. Doch die allwissenden Erzähler des neunzehnten Jahrhunderts unterbrachen sich nun mal. Sowohl Austen, wie auch Dickens, neigten dazu, plötzlich aus dem Erzählfluß aufzutauchen und das Publikum direkt anzusprechen. Zu Beginn von Die Abtei von Northanger schreibt Austen folgendes:
Und das zweite Kapitel von Bleak House, im dem es um die »Welt der Moden« geht (mit der Dickens in etwa die bessere Gesellschaft der Oberschicht meint) beginnt so:
Mit diesem Einschub (der so gar nicht zum Rest des Kapitels passt) scheint nicht nur Dickens' Erzähler eine Persönlichkeit zu entwickeln, sondern auch dem Leser wird eine übergetülpt. Oder warum sind wir plötzlich zu einer Hoheit geworden?
Natürlich hat Belle Waring vollkommen recht damit, daß die Fußnoten auf eine gelehrte Person schließen lassen. Dazu kann ich nur anmerken: Wer sagt denn, daß Gott kein Gelehrter ist, der keine Fußnoten schreibt? Mir kommt es so vor, als würde ER einen ganzen Haufen Fußnoten schreiben.
Wo sind die Zauberinnen geblieben?
Auf diese Frage gibt es eine ganz einfache Antwort: die Zauberinnen sind in der Kurzgeschichte Die Damen von Grace Adieu.[5] Diese Geschichte war das erste Stück von John Uskglass' Welt das fertig und veröffentlicht wurde, und handelt von drei Zauberinnen denen eines Sommers Jonathan Strange begegnet. Lange Zeit habe ich gehofft, daß diese drei Damen schließlich einen Platz in JS&MN finden würden, doch wie der Roman wuchs, entschied ich, daß die Damen nicht hineinpassen.
Ich verstehe, daß dies mehr Fragen aufwirft als beantwortet. Stellen wir uns deshalb einmal vor, daß aus Jonathan Strange und Mr. Norrell eben Johanna Strange und Mr. Norrell wurde. Was hätte das ergeben? Diese hypothetische Zauberin hätte vielleicht wie Mary Wollstonecraft gegen die Konventionen ihrer Zeit angekämpft, oder hätte wie Joanna Southcott[6] mit ihrer Fähigkeit zur Trance Mr. Norrell in Schrecken versetzt. Oder vielleich — was ich noch interessanter finde — hätte sie sich dagegen verwahrt, zu einer Berühmtheit gemacht zu werden. Vielleicht wäre sie eine stille, ziemlich anständige und gewöhnliche junge Frau gewesen, der es erheblich mißfällt zu einem Model für gesellschaftliche Revolutionäre gemacht zu werden, und die sich nur widerstrebend wegen ihrer Liebe für, und ihrem Talent zur Zauberei, ins Rampenlicht hätte zerren lassen.
Egal, wie sich so eine Alternativfassung von JS&MN entwickelt hätte, von der Erzählung wäre einiges verzerrt worden, zu einer Geschichte über das politische Verhältnis zwischen Mann und Frau im England der Regency-Epoche. Unsere Aufmerksamkeit wäre immer wieder von der Auseinandersetzung über englische Zauberei abgelenkt worden, hin zu einer Diskussion über die Frage, ob Frauen zaubern sollten oder nicht. Wie dem auch sei, wäre diese Johanna Strange-Version sicherlich eine wahrscheinliche Möglichkeit, ja sogar eine verführerische. Ich würde sie gern lesen. Ich kann mir sogar vorstellen, daß sie einigen Lesern besser gefallen würde als JS&MN.
Warum habe ich diese Verion also nicht geschrieben?
Die erste, einfache Antwort ist, daß sich die Geschichte mir so nicht eröffnet hat. Das klingt schwach, doch der Autorinnen-Teil in mir weiß, wie gewichtig diese Tatsache ist. Es streift den Umstand, daß einerseits Fiktionen zu kritisieren und zu analysieren, und andererseits Fiktionen zu schreiben, entgegengesetzte Unternehmungen sind. Die Anforderungen der deiser beiden Tätigkeiten gehen nicht immer Hand in Hand. Um das deutlicher darzustellen, möchte ich zuerst Belle zitieren:
Nun ja, eigentlich…
Ich könnte jedem, den es interessiert, bis auf Längen- und Breitengrad genau das Fleckchen Land zeigen, das Mr. Norrell hervorgebracht hat. Das Eck eines schlammigen Feldes zwischen den Dörfern Blackhall Rocks und High Hesleden im County Durham. Im Sommer und Herbst 1992 pflegte ich die Wege dort entlangzuspazieren, während ich mir Ideen für das Buch das ich schreiben wollte ausdachte. An dem fraglichen Tag versuchte ich einen englischen Zauberer mit einer Bibliothek heraufzubeschwören, und plötzlich war er da. Ich sah ihn sehr deutlich — klein, nervös, ein typischer Bibliothekar, freudlos und von Büchern besessen.
Aber unveränderlich war er natürlich nicht. Ich hätte ihn auch anders gestalten können, genauso, wie ich aus Jonathan Strange eine Frau hätte machen können. Doch Strange war eine Figur, die sich bereits seit einigen Jahren in meiner Vorstellung herumgetrieben hat; und über ihn wollte ich schon seit Jahren etwas schreiben. Das trifft leider nicht auf Johanna Strange zu.
Ich denke mir nicht zuerst die Geschichte aus, und dann die Figuren die dazu passen. Ich verlasse mich vielmehr auf die Figuren, mir dabei zu helfen, die Geschichte zu ergründen. Wie könnte ich auch den Faden einer Geschichte finden, wenn die Figuren völlig veränderbar und unbestimmt sind? Ich glaube sehr an die Idee, daß sich mir Figuren (oder Einzelheiten der Erzählung) aus gutem Grund auf eine bestimmte Weise eröffnen. Sie sprudelten nur so vor Möglichkeiten (seltsam, sich Mr. Norrell als jemand sprudelndes vorzustellen). Es gab einiges, was ich über sie herausfinden konnte. Schreiben gleicht oft eher der Archäologie, dem Freilegen von Details, als dem Erfinden von Sachen.
Die zweite Antwort dazu, warum es keine Zauberinnen gibt, ist, daß ich aus Gründen der Authentizität Frauen in der häuslichen Sphäre beließ. Maria Farrell hat ganz recht, wenn sie schreibt, daß ich bei JS&MN eine Welt nachzeichnete, wie wir sie aus den Büchern von Austen — und Dickens, wie ich hinzufügen würde — zu kennen glauben. Ich mußte die Oberfläche dieser Welt so eben und ungestört wie möglich lassen. Wie John Quiggin ganz richtig vermutet, war es wichtig, daß der Eindruck entsteht, als ob wirkliche und alternative Historie zusammenlaufen. Das bedeutete, daß ich Frauen und Diener so zu behandeln hatte, wie sie in einem Roman des neunzehnten Jahrhunderts beschreiben worden wären. Sonst wäre der angestrebte Kontrast zwischen den »uns bekannten Wissensfeldern« und den Elfen viel schwächer ausgefallen. Die uns bekannten Dinge sind bereits etwas entstellt. Nehmen wir einmal an, daß folgendes in der Welt von JS&MN wahr ist:
1. die Anliegen des späten zwanzigsten und frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts (soziale Gerechtigkeit und die Gleichstellung der Frauen) würden zur Sprache gebracht und kommentiert werden;
2. und es gäbe Magie.
Damit wird die ganze Sache offensichlicher zu einer alternativ-historischen Angelegenheit. Das würde sich stark von jeglicher Historie, wie wir sie kennen, unterscheiden. Ich streite keinen Augenblick ab, daß JS&MN eine alternative Historie ist, aber ich wollte, daß der Leser das außer Acht lassen kann beim Lesen. Durch zuviele unserer zeitgenössischen Angelegenheiten wäre das erschwert worden.
Über dieses Problem habe ich eine ganze Weile nachgedacht, denn die Unzufriedenheit von Belle Waring und Maria Farrell ist völlig verständlich. Ich selbst grummle aus den gleichen Gründen. Ich hatte gehofft, daß die weiblichen Figuren mehr Raum auf den Seiten des Buches einnehmen würden. (Ich kann nicht zustimmen, daß die weiblichen Figuren unwichtig sind — Arabella und Emma Pole beeinflußen zwar die Ereignisse, doch sie sind versteckte Elemente, Teil einer im Hintergrund verborgenen Geschichte, wie Henry Farrell anmerkt.) Aber würde ich deshalb etwas anders machen? Nein. Ich wollte eine Geschichte über englische Zauberei schreiben und denke immer noch, daß ich den besten Weg dazu genommen habe.
Ich freue mich, daß Belle die Frau im roten Samtkleid gefällt, die am Ende des Romans auftaucht (Miss Redruth). Bisher hat, wie ich glaube, noch niemand sie und ihre Geschwister erkannt, denn ich hatte Vorbilder für diese Figuren.
Die Stunde ist da, aber nicht der Mann
Ich finde es faszinierend, daß Henry Farrell die Geschichte des Königs der Katzen anführt. Mir war klar, daß ich mit JS&MN eine Geschichte aus umgekehrter Sicht erzähle, mit Lücken, durch die flüchtige Blicke auf eine andere, geheime Geschichte gewährt werden. Ich hatte sogar eine bestimmte Erzählung im Sinn, als Anschauung, welche Sorte von Geschichte ich erzählen wollte. Die Stunde ist da, doch nicht der Mann ist ein schottisches Volkmärchen über eine Kelpie, eine Art Wassergeist, die dabei beobachtet wird, wie sie bei einer trügerischen Furt in einem Fluß auftaucht und kreischt: »Die Stunde ist da, aber nicht der Mann«.[7] Obwohl das sehr beunruhigend klingt, wird niemand daraus schlau, bis man einen unaufmerksamen Reiter sieht, der auf der Straße zum Fluß entlangkommt. Er will sich im Fluß ertränken, wird aber durch wohlmeinende Beobachter davon abgehalten und in einer Kirche eingesperrt. Daraufhin ertränkt sich der Reiter im Taufbecken und der Wassergeist ist zufrieden.
Wahrscheinlich wird JS&MN nicht so sehr vom entgegengesetzten Blickwinkel erzählt, wie dieses Märchen, aber es gibt weitreichende Aspekte der Geschichte, deren sich unsere beiden Zauberer das ganze Buch hindurch — und darüber hihnaus — nicht gewärtig sind. Stephen müht sich zum Beispiel für die Belange zweier Frauen ab. Strange und Norrell werden sich zudem nie darüber im Klaren, inwieweit sie die Werkzeuge von John Uskglass sind. (Sie haben ein wenig Ahnung davon, was Uskglass vorhat, aber nicht in der gleichen Weise wie Vinculus und Childermass.)
Eine moderne Variante, Geschichten aus der entgegengesetzten Perspektive zu erzählen, besteht darin, sie als ›Mysteries‹, also soetwas wie geheimnissvolle Detektivgeschichten zu gestalten. Dementsprechend macht Große Erwartungen (1860-1861) den Eindruck einer pikaresken Geschichte über den Aufstieg eines jungen Schmieds, und nur hie und da kann man kurz erkennen, daß sich hinter der Handlung versteckte Aspekte auftun; aber sobald das Geheimnis einmal gelüftet wurde, erscheint alles was wir über die Hauptgeschichte zu wissen glaubten in einem anderen Licht. Das ist eine großartige Sache, wenn man damit zurecht kommt.
Henry erwähnt nebenbei noch ein weiteres, kleines Detail: die Karten in Little, Big – Das Parlament der Feen haben mir natürlich sehr gefallen. Und ich wäre neugierig zu erfahren, welche Karte aus Little, Big Henrys Ansicht nach einer von Childermass Karten gleicht. Die Karten von Childermass sind aber in der Tat völlig gewöhnliche Tarotkarten, wie sie im siebzehnten und achtzehnten Jahrhunert aus Marseille kamen.
Einige Beobachtungen über die Engländer der Regency-Epoche
John Holbos Besprechung der treuen Diener begeistert mich. Ganz besonders dankbar bin ich ihm dafür, daß er mich auf Geroge Orwells Kommentar über Dickens feudale Dienerfiguren aufmerksam gemacht hat (und mich dazu anregt, Die Geschichte zweier Städte nochmal zu lesen). Natürlich ist Dickens Darstellung treuer Diener übertrieben. Für mich gehört zu Dickens seltsamen Talenten, seine Figuren mit einer überragenden Charakteristik auszustatten — als ob sie allegorische Masken für Laster und Tugenden wären — und sie zugleich mit mehr Leben zu erfüllen, als die meisten ›realistischen‹ Charakterstudien an den Tag legen. Niemand sonst kann das.
Ich muß zugeben, daß es mich über alle Maße erfreut, daß Henry Farrell in seinem Essay Stephen Black und Childermass als Diener anführt, deren Dienst wie eine unheimliche Verzauberung wirkt, während John Holbo die beiden als Beispiele für treue Diener beschreibt. Meiner Ansicht nach, betrachen weder Childermass noch Stephen Black ihre Dienstbotenarbeit wirklich per se als demütigend. (Der Herr mit dem Haar wie Distelwolle sagt immer wieder, daß Stephen von Sir Walter erniedrigt und grausam behandelt wird — doch Stephen verneint das immer wieder höflich.) Beide Diener sind einflußreiche Personen in den Haushalten ihrer Herren. Ein Diener zu sein war nicht unbedingt etwas Deklassierendes in der Regency-Epoche. Es gab damals erhebliche Rangunterschiede unter den Dienern. Womit ich nicht bestreiten will, daß enorm viele Diener unter ihrer Machtlosigkeit und sexuellen Belästigunen gelitten haben. In den Briefen von Byrons männlichen Freunden finden sich Passagen über sexuelle Ausbeutung, bei denen einem das Blut gefriert.
Meine Darstellung von Dienern in JS&MN ist zun Teil eine bewußte Reaktion auf die Tendenz, die Bediensteten des neunzehnten Jahrhunderts in Kinofilmen und im Fernsehen, mit einer für das zwanzigste Jahrhundert typischen Mischung aus Keckheit und Unmut über ihre niedere Stellung auszustatten. Das scheint mit auf argen Irrwegen der Vorstellung zu beruhen. Einige Diener (natürlich nicht alle) wären auf das was sie taten stolz gewesen. Sie hätten auf die gleiche Art zu ihren Arbeitgebern gestanden, wie ein IBM-Manager sich für IBM einsetzt, oder wie ein Fußballfan sich für seine Mannschaft begeistert. Durch das Wohlergehen, den Status und den Erfolg »deiner« Familie wurde auch das eigene Wohlergehen, der eigene Status und Erfolg gewährleistet.
Maria Farrell behauptet, daß die Darstellung der Gesellschaft der Regency-Epoche in JS&MN, durch zuviel Geslassenheit ahistorisch wirkt. Das war bestimmt nicht meine Absicht. Sicherlich bewegen sich Maria und ich auf ziemlich unterschiedlichen Pfaden durch die Regency-Epoche, und ja, weite Teile des Buches in Salonzimmern spielen zu lassen, war eine mehr oder minder bewußte Entscheidung meinerseits. Wenn Strange und Norrell sich mir als Zauberer aus weit niederstehenden Gesellschaftsschichten eröffnet hätten, wäre offentlichtlich die ganze Stimmung des Buches eine ganz andere geworden.
Es gibt jedoch eine Sache, die ich klären möche: historische Analyse als Gegensatz zur gelebten Efahrung einer historischen Epoche.
Stimmt genau. Wir wissen, daß die Regency-Epoche eine Zeit des Wandels war. Aber das zu wissen sagt uns nicht viel darüber, was es hieß, in diesen Jahren zu leben — und zweiteres ist es, was wir als Autoren und Leser von Romanen wissen wollen. Eine Geschichtswissenschalterin kann die flüchtigen Moden, Sitten und wirtschaftlichen Umstände korrekt benennen (sie weiß, wann sie anfangen und enden). Doch das bedeutet nicht, daß sie auch von Menschen so wahrgenommen wurden, die in den entsprechenden Zeiten lebten. Die Heldinnen von Jane Austen (und deren Entsprechungen der wirklichen Welt), wurden vielleicht durch die heitere Bodenhaftung ihrer Großmütter in Verlegenheit gebracht. Na und? Die jungen Frauen hätten deshalb nicht gleich geglaubt, daß ihre eigenen Verhaltensmaßstäbe gekünstelt oder flüchtig sind — genauso wenig, wie heutige junge Frauen, die im Manhatten des Jahres 2005 arbeiten, glauben, daß ihre New Yorker-Welt mit ihren Umgangsformen und Sitten durch Zufall bestimmt werden oder auf wackeligen Fundamenten ruhen, nur weil ihre Großmütter in Brooklyn immer noch Russisch sprechen oder Russischen Denkgewohnheiten anhängen.
Revolutionäre Zauberer
Eine weitere Frage von Maria Farrell:
Das macht auf die Natur der Zauberei in der Welt von John Uskglass aufmerksam, (und sagt uns etwas darüber, warum in JS&MN Magie sich dagegen sträubt, als nette Metapher für irgendetwas zu fungieren). Wenn Magie etwas nicht ist, dann soetwas wie die Atombombe. Ist die Atombombe erstmal erfunden, wird sie zum Besitzt von Regierungen — ihre Verwendung wird (mehr oder minder) durch Politiker, Generäle und womöglich Terroristen kontrolliert. Doch Zauberei liegt in den Händen von Zauberern und Elfen — sie gewährt den sie ausübenen Personen beachliche Macht. Verständlicherweise macht dies Regierungen nervös.
Es erscheint mir unwahrscheinlich, daß Strange und Norrell die englische Zauberei wiederbelebt haben könnten, wenn sie nicht so ausgeprägt ideale Vertreter ihrer Gesellschaftsklasse, und entsprechend ohne Zweifel sicher darin gewesen wären, den Status Quo aufrecht zu erhalten. Regierung und Armee hätten ihnen nichts zu tun gegegben. Alle Anstrengungen der Regierung wären vielmehr darauf aus gewesen, sich der beiden zu entledigen. Nur ein so langweiliger Mensch wie Norrell konnte die englische Zauberei zurückbringen.
England und die Engländer
Mehrere Crooked Timberiten spekulieren über den revolutionären Subtext von JS&MN. Henry schreibt:
Über den ganzen Verlauf von JS&MN verstreut, finden sich kleine ironische Spitzen auf Kosten der arroganten und selbstgefälligen englischen Oberschicht. Am Ende des Buches öffnet Strange die Pforten zwischen England und dem Elfenreich, und sorgt damit für eine Demokratisierung der englischen Zauberei. Bei der Zusammenkunft von Zauberern in York sind auch Händler und eine Frau anwesend, Miss Redruth (und es gibt noch die zwei Schwestern von Miss Redruth, die ebenfalls Zauberinnen sind, allerdings zu sehr mit ihren Studien beschäftigt sind, um dem Treffen beizuwohnen). Zugleich hören sowohl Stephen als auch Childermass auf Diener zu sein. Offensichtlich geht hier etwas Revolutionäres vor sich, doch in wie weit ist es eine gesellschaftliche oder politische Revolution?
Trotz aller ironischen Bemerkungen, sind der Kritik an gesellschaftlichen und politischen Umständen an der damaligen Zeit in JS&MN Grenzen gesetzt. Zum einen habe ich mich erheblich bemüht, die Welt so zu sehen, wie sie sich den Figuren aus ihrer Binnenperspektive darstellt. Ich bezweifle, daß mir das besonders gut gelungen ist — es ist eine schwierige aber dennoch unternehmenswerte Aufgabe. Die Figuren der Oberschicht sollten sowohl einige der Tugenden, als auch der Makel ihrer Klasse haben. Strange, Wellington und Sir Walter sehen sich selbst zuerst einmal als Gentleman; ihre Vorstellungen, was es bedeutet ein Gentleman zu sein, beinhalten mehr als nur eine Reihe von Rechten; es gibt auch eine entsprechende Anzahl an Verpflichtungen (die eigene Klasse, die Untergebenen und das Land betreffend).
Keine Sekunde streite ich ab, daß England in der Regency-Epoche von Klassenunterschieden bestimmt wurde, oder das Frauen damals nur wenig Rechte hatten. Trotzdem war ich vorsichtig, wie sehr ich Figuren des neunzehnten Jahrhunderts mit Belangen und Anliegen des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts ausstatte. Wenn wir Frauen, Diener und die niederen Klassen im Großen und Ganzen danach beurteilen, wie sehr sie berfreit oder unterdrückt wurden, dann versäumen wir meiner Ansicht nach, diese Menschen als das zu sehen, was sie tatsächlich waren. Sie werden dann nur zu einem weiteren Spiegel, in dem wir unsere eigenen Belange betrachen. (Ich sollte klarstellen, daß ich mich nur auf Frauen und Diener weißer Hautfarbe beziehe. Gegenüber Sklaverei kann es keine andere Haltung geben, als unsere heutige. Die Stellung von Menschen mit afrikanischen Wurzeln, war im frühen neunzehnten Jahrhundert bestenfalls äußerst heikel, schlimmstenfalls ein wahrgeworderner Alptraum.)
In JS&MN gibt es natürlich ein politisches Thema über das ich mir viel mehr Gedanken gemacht habe, als über Klassenkämpfe oder das Ringen der Geschlechter. Die Teilung Englands in Norden und Süden, und nur wenige Leser haben dieses Thema zur Kenntnis genommen, es sei denn, sie kommen aus dem Norden Englands. Das Ungleichgewicht zwischen dem wilden, vernachlässigten Norden und dem weltlicheren, aber reicheren Süden, wird durch Newcastle als Hauptstadt von John Uskglass ausbalanciert.
Das Englische zeichnet sich auf alle Fälle durch eine Reihe von Widersprüchen aus. Das war immer schon so, und ich habe versucht, das in JS&MN widerzuspiegeln. Strange, der perfekte englische Zauberer, ist zur Hälfte Schotte und wurde nur ein, zwei Meilen von der walisischen Grenze entfernt geboren. Wellington, der ideale englische General, wurde in Irland geboren. (Auch wenn er gegenüber dem Land seiner Geburt keineswegs dankbar war. »Nur weil ein Mann in einem Stall zur Welt kam, ist er noch lange kein Pferd.«) Selbst John Uskglass, der Rabenkönig, der auf vielerlei Weise ein verlohrengegangenes Englischsein und England repräsentiert, behauptet Normanne zu sein (in Kapitel 45 von JS&MN), was letztendlich bedeutet, daß seine Vorfahren über Frankreich nach England gekommene Wikinger waren.
Wenn also die Revolution in JS&MN nicht politischer oder gesellschaftlicher Natur ist, was für eine Revolution findet denn dann statt? Es ist wohl nicht überraschend, daß es sich um eine magische Revolution handelt. Die englische Zauberei gehört nun allen Engländern und Engländerinnen, und nicht mehr nur den Angehörigen einer bestimmten Klasse, oder eines bestimmten Geschlechts. Henry Farell meint, daß JS&MN davon handelt, was es bedeutet Engländer zu sein. Diese Aussage möchte ich ein klein wenig verbessern, wenn ich kundtue, daß der Roman davon handelt, was England darstellt — die Hügel und Bäume, der Regen und die Steine. Am Ende des Buches wollte ich eher der Landschaft eine Stimme zu geben, und weniger den gesellschaftlich Unterlegenen. Das ist eine poetische, romantische Idee — aber eine Idee, die sich weniger für großartige Analysen eignet. Ich versuche das zu erklären, indem ich zwei meiner Meinungen darüber offenleghe, zu was Fantasy fähig ist. (Fantasy kann offentlich tausenderlei Dinge tun — folgendes sind nur zwei davon.)
Fantasy ist erstens dazu geeignet, den Kleinen und Schwachen Macht, Stärke und Bedeutung zu verleihen. Entsprechend zieht die kleinste und schwächste Person — Frodo Beutlin, um ein willkürliches Beispiel zu geben — los, um eine ›Aufgabe von höchster Wichtigkeit‹ zu erledigen. Und wie sich herausstellt, ist er der einzige, der diese Aufgabe erfüllen kann. Genauso verhält es sich mit Stephen Black.
Zweitens kann Fantasy (und SF) das Gegenteil bewirken. Statt Personen mit Bedeutung aufzuladen, kann man mit ihr auch Menschen als etwas Geringes und Demütiges darstellen. Damit läßt sich, für wie kurz auch immer, unsere Sicht der Dinge umkehren, weg von uns selbst; man kann damit einen Blick darauf gewähren, daß menschliche Wesen nicht ständig, für alle Zeiten und unwiderruflich das Zentrum des Universums sind. C.S. Lewis lenkt mit Der König von Narnia[8] unseren Blick weg von uns selbst und hin zu Gott. (Aus den Kindern werden Könige und Königinnen — was sich ausnimmt, als ob den Schwachen Macht verliehen würde. Doch als selbstbewußte Kinder der Mittelschicht wirken die Kinder niemals wirklich schwach oder klein.) In Thursbitch lenkt Alan Garner[9] unsere Sicht weg von uns selbst, und hin zu einem tatsächlich vorhandenen, historischen Tal in Nordengland, das für alle derartigen Orte in Nordengland steht, die erfüllt sind von ihrer eigentümlichen, nichtmenschlichen Natur. Ich stehe ganz auf Alan Garners Seite: die Landschaften Englands (besonders des nördlichen Englands) sind ein Teil der Zauberei, den wir tatsächlich sehen und berühren können.
Derartige Fantasy gefällt mir sehr, zum Teil wohl deshalb, weil das etwas ist, was wir Fantasyautoren viel besser können, als jene, die literarisch-realistische Fiktionen schaffen. Die Fiktionen des rein literarischen Schreibens bleiben immer entschieden am Menschlichen bezogen. Doch die Welt um uns herum erscheint mir dafür um vieles größer zu sein, um das zu tun.
Über all das hier Vorgebrachte nachzudenken und darüber zu schreiben war faszinierend (und auch ganz schön anrengend). Es tut mir nur leid, daß ich auf diese überaus guten Fragen, lediglich so unzureichende Antworten geben kann.
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