»Eine andere Welt« (6) – Kap. IV: Die Erde in der Vogelperspektive von Grandville & Plinius dem Jüngsten
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Die Illustrationen einer alten französischen Ausgabe habe ich dem flick-Album von blaque jaques entnommen.
Gott! Wie klein sind die Menschen! Altes Volkslied.
Schwadronarius, Neugott und Aerostograph, beurteilt die Menschen aus der Vogelperspective und empfindet dieses Herzeleid 6000 Fuß hoch über dem Niveau des Straßenpflasters.
Die schönste Verwünschungen des Altertums halten keinen Vergleich aus mit der gedankenreichen Anrede, welche Schwadronarius' Munde entströmte, als er die Erde verließ. Die Schnelligkeit seines Aufsteigens fand nur in der Schnelligkeit seiner Worte einen würdigen Nebenbuhler. Die Gegenstände, welche seine Blicke trafen, dienten allein dazu, die Flut seiner lyrischen Improvisation zu vermehren. Über einer Reitbahn ließ er den Ballon anhalten, aber nicht um den Raum, den er durchschnitten, zu messen, sondern nur um gegen die Menschen im Allgemeinen und die Kunstreiter im Besonderen neue Redensarten zu schleudern.
»Das sind Menschen, die ihr Leben damit verbringen, Wendungen und Verrenkungen auf der Croupe eines Pferdes zu machen; Frauen, die ihren Ruhm darin suchen, durch einen mit Ölpapier beklebten Reif zu springen und in fleischfarbenen Tricots und flatternden kurzen Gewändern ihre Künste hoch zu Ross zu producieren, Alles nach den Worten: ›Hupp! Hupp! Hupp!‹, oder ›Hopp! Hopp! Hopp!‹ mit Begleitung von türkischer Musik.«
Kaum war er damit fertig, so trieb ein Windstoß seinen Ballon nach der linken Seite und Schwadronarius schwebte jetzt über der Terrasse eines Gartens, dessen Bezeichnung sehr viele, mehr oder minder interessante Romane enthalten. Ein Jüngling und eine Jungfrau plauderten miteinander auf dieser Terrasse sehr leise, dicht aneinander sich drängend. Unten schlich ein Mann, Vater, Oheim oder Vormund vorsichtig auf dem Fußsteige längs der Gartenmauer näher. Schwadronarius lächelte über die vergeblichen Anstrengungen, die er ihn machen sah, um sie zu überraschen, als er plötzlich gerade in dem Augenblicke, wo die Jungfrau dem Jüngling den Scheidefuß zu geben im Begriff stand, in der Ersteren sein Bäschen Gertrude erkannte, für die er die zärtlichsten Liebeslieder in Musik gesetzt und ihr gewidmet hatte. Da begriff er zum ersten Mal, dass ein Gott lieben und leiden könne, wie ein gemeiner Schäfer. Nun hätte er gern seinem Rächer beigestanden und gesehen, wie dessen Zorn und Regenschirm den verhassten Nebenbuhler traf, aber er fühlte zu sehr das Bedürfnis, seine neue Würde zu retten, und stieg daher majestätisch wieder empor.
Unserem göttlichen Aeronauten bot sich, als er so hoch über den Straßen, den Häusern und Vorstädten dahinschwebte, noch manches Schauspiel zwar umsonst, aber nicht eben ergetzlich dar. Unwillkürlich richtete er den Blick auf ein Ballet unter offenem Himmel, das einige junge Savoyarden und einige alte Pudel aufführten.
»Unglückliche Kinder! Unglückliche Hunde!«, rief er. »Dazu verwendet der Mensch Eure Jugend, Eure Anmut, Eure Frische! Unschuld, Alter, Hunde, Alles macht er seinem Vergnügen dienstbar. Wahrlich, ich werde mich nicht mehr um ihn kümmern!«
Dieser Entschluss hinderte ihn jedoch nicht, eine vorübergehende Amsel zu fragen, was sie von den Menschen halte.
»Der Mensch«, pfiff die Amsel, »ist ein plattes Wesen. Er verabscheut uns und beneidet uns sein ganzes Leben hindurch um die Fähigkeit, zu fliegen. Endlich stirbt er aus Verdruss darüber, dass die Flügel, die er sich macht, an der Sonne schmelzen. Das ist meine Meinung über den Menschen.«
Schwadronarius tat nun dieselbe Frage an den Kranich.
»Der Mensch«, entgegnete der Kranich, »ist ein sehr plattes Wesen. Er versucht vergebens, uns nachzuahmen. Auf Locomotiven strebt er uns einzuholen und ist eifersüchtig, dass unsere Flügel uns weiter tragen als ihn seine Eisenbahnen.«
Eine Lerche sang ihm auf dieselbe Frage folgende Antwort:
»Der Mensch ist ein außerordentliches plattes Wesen. Die Vortrefflichkeit meines Gesanges bringt ihn zur Verzweiflung. Er versuche es einmal, wie ich einen Triller im Aufsteigen zu schlagen, seine Töne zwischen Himmel und Erde erschallen zu lassen und ein Solo, umgeben von den Strahlen der aufgehenden Sonne, zu singen. Der Mensch ist neidisch und ohne Fähigkeiten. Das ist meine Meinung.«
Eine junge Nachtigall flötete ihm dieselbe Ansicht über den Menschen zu.
»Die Vögel haben Recht«, sagte Schwadronarius, »ich teile ganz ihre erhabene Ansicht und habe die Plattheit des Menschen nie besser begriffen als jetzt.« Nachdem er diesen Gedanken in sein Album geschrieben, beschloss er ihn dem ersten Zugvogel mitzuteilen, der ihm begegnen würde. Eine wilde Ente, die nach Europa flog, um sich dort von einer Leberkrankheit kurieren zu lassen, war so gefällig, das Blatt mitzunehmen.
Schwadronarius schwebte gerade über Paris und gewahrte tief unten auf dem Vendomeplatze die Napoleonssäule.
»Ich sehe«, fuhr er fort, »dieses großartige Denkmal menschlichen Ruhmes. Kutscher und Wasserträger, Herzoginnen und Hökerinnen {= herumziehende Händlerin}, vornehme Herren und gemeines Volk, kurz alle Welt umkreist das Monument; zwischen der hundert Fuss hohen Säule und den Menschen sehe ich keinen Unterschied; sie scheinen mir sämmtlich gleich hoch zu sein. — Von dem Gesichtspunkte aus, auf dem ich mich befinde, ist der Ruhm gleich dem Nichts.«
Befriedigt von dieser Definition schwang sich Schwadronarius wieder zur Sonne empor.
Als seine Blicke zum letzten Mal auf der Erde ruhten, sah er das Pflaster des Boulevard von Fiakern {= zweispännige Pferdekutsche}, Kutschen und Wagen voll Masken überschwemmt. Ein verwirrtes misstöniges Geschrei drang bis zu ihm. Er wollte sich von diesem für das Auge eines Philosophen so traurigen Scenen entfernen, aber eine Windstille hielt seinen Ballon fest. Diese Zeit benutzte er, um sein Tagebuch zu schreiben, hielt es jedoch für passend, seinem Obergott die Geschichte mit Gertrude zu verschweigen. Wir verdanken diese Episode der Schwatzhaftigkeit eines Hänftlings; sie beweist, dass Alles, selbst von oben gesehen, seine Nachtseite haben kann.
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