molochronik
Donnerstag, 16. Juni 2011

»Eine andere Welt« (14) — Kap. XII: Wie im Tiergarten! von Grandville & Plinius dem Jüngsten

Eintrag No. 722Zur Inhaltsübersicht.

Die Illustrationen einer alten französischen Ausgabe habe ich dem flick-Album von blaque jaques entnommen.

XII. Wie im Tiergarten!

Nach Sevilla! Nach Sevilla! Clemens Brentano.

Sandsteinbildsäulen, Bäume, die Sande nicht gedeihen, Kot, Staub.

Seidene Kleider, Sammethüte, seltsame Frisuren und eben solche Fußbekleidungen. Ein Mann, der sich stolz von einem Hunde an der Leine fortziehen lässt, auf dessen Halsband man die Inschrift liest: »Ich gehöre dem Grafen Alcibiades von Neu-Foundland.«

Dandies auf den Fußsteigen, vorrüberrollende Wagen, einige niedrig wie Lehnstühle auf vier Rädern, andere so hoch, dass der Kutscher auf dem Bocke dem Wetterhahn auf dem Turm einer Dorfkirche gleicht.

Auf jeden Fall befinde ich mich in einer Hauptstadt. Aber in welcher? That is the question.

Ich mag noch so scharfe Blicke durch die Kutschenfenster werfen, ich sehe nichts als Perücken oder Hüte auf Holzköpfen und in einigen Wagen Gliederpuppen, die mit dem größten Luxus und der größten Sorgfalt angeputzt sind.

Es scheint hier zu Lande Mode zu sein, sich auf den öffentlichen Promenaden durch Stellvertreter von Holz, Gyps oder Wachs repräsentieren zu lassen. Man zeigt sich elegant im Bilde: Kleider, Kopfputz, Shawls, Diamanten, Alles was die Schönheit, den Reichtum, den Luxus und den Geschmack einer Person zur Erscheinung bringt, ist vorhanden, nur sie selbst ist abwesend. Es gibt kein geistreicheres Mittel, sich öffentlich ohne alle Mühe zu zeigen. — Wozu auch die Person, die ist überflüssig. — Man begibt sich ja nur auf die Promenade um neue Moden zu sehen. — An die Feierlichkeiten der Mode denkend rief der Prophet: »Gliederpuppen! Alles ist Gliederpuppen!«

Das gewahre ich auf der Chaussee! Lustwandelnde Halbstiefelchen, Röcke, die die Nase hoch tragen und Mantillen den Arm reichen, Stiefel, die den Hut keck auf das linke Ohr setzten, kurz eine Fortsetzung desselben Systems. Die Schneider, Hutmacher, Schuster, Modehändler haben das Mittel gefunden, die Menschen wegzulassen, die ihnen als Aushängeschilder dienten, und das Aushängeschild hat sich vereinfacht und ist Mensch geworden.

Endlich finde ich einen Menschen unter so vielen Gliederpuppen, ein Unbekannter näherte sich mir, eine Reitpeitsche in der Hand, und zwingt mich, eine vorrüberreitende Amazone zu bewundern.

»Es ist die Gräfin von Haferlust«, erzählt er mir, »die erste Reiterin ihrer Zeit; sie hat eine Maschine mit Doppeldruck erfunden um die Jokeis mager zu machen. Sie können an dem ihrigen des Resultat ihres Systems sehn. Das Pferd, das sie reitet, ist der Blitz vom Donner und der Aurora, das ihres Jokeis Diana, von Actaeon und Iphigenie; edlere Rosse gibt es nirgends, nirgends echteres und graziöseres Vollblut.«

Ich muss mich in einer außerordentlich gebildeten Hauptstadt befinden; selbst die Pferde zeigen ihre Ahnen auf! — Aber genug davon; verlassen wir den zudringlichen Cicerone und gehen wir zu Tische.

Das Beefsteak, das ich mir hatte geben lassen, war weiter Nichts als eine sinnige Anwendung des Caoutschuk für die Ernährung des Menschengeschlechts. Ich bin nicht ganz außer Sorge über die Folgen meines Mittagsmals. — Indessen, was ist zu tun, lesen wir die Zeitungen; die Politik befördert die Verdauung.

»Kellner, die Zeitung!«

Der Kellner bringt mir das Modejournal. —

»Nicht doch, ich will ein politisches Blatt.«

Der Wirt selbst belehrte mich, dass das Modejournal die einzige politische Zeitung sei, welche hier erscheint und von der conservativen Partei herausgegeben wird; zwar haben die Liberalen auch die Concession erhalten, ein Blatt zu gründen, diese Concession ward ihnen aber bereits nach der Ausgabe des Prospectus wieder entzogen, da derselbe eine Stelle, in welcher die Censur gelobt wurde, enthielt, denn das Princip der Regierung ist, das Volk müsste stets tun, als wisse es gar Nichts von der Existenz der übrigens in diesem Lande sehr strengen Censur. Darauf machte er mich mit der Constitution des Staates bekannt, in welchem ich die Ehre habe mich zu befinden. Für die größten Dichter gelten hier die Verfasser der besten Rebus, die Referenten über die Moden werden am meisten gelesen, und sämmtliche Staatsmänner müssen, ehe sie in die höheren Dikasterien treten, als Practicanten bei einem Schneider gearbeitet haben. Der Landtag zerfällt in zwei Kammern, welche sich versammeln, um über die vom Ministerium vorgeschlagenen neuen Moden und Kleiderschnitte zu beraten. In diesem Augenblicke hatte die Opposition einigermaßen den Sieg davongetragen in einer Debatte über die Camails-Paletots {= der Mantel, den der Herr im letzten Bild dieses Kapitels trägt}, deren Annahme die ministerielle Seite heftig bekämpfte. Die Minister waren nahe daran ihre Entlassung einzureichen; wenigstens gab das der leitende Artikel im »Modejournal« deutlich zu verstehen. Er lautete folgendermaßen:

Mühlbachflorenz, am u. f. w. Die Opposition hat einen Sieg davongetragen, dessen Folgen dem ganzen Staate sehr gefährlich zu werden drohen. Schon bei der Motion hinsichtlich der Palatinen {= Stellvertreter des Königs} mit Hermelinchenschwänzchen für die Referendarien liess die radicale Partei ihre Absichten durchschimmern. Die Kleiderordnung soll umgestossen und die Vermischung der Trachten proclamiert werden. Ein so gefährliches System kann unmöglich Geltung erhalten; die Gutgesinnten werden sich dagegen verbinden und wir fordern alle wohlmeinenden Bürger auf, unserer Ansicht beizutreten.

Das Ministerium ist entschlossen die Kammern aufzulösen und neue Wahlen vornehmen zu lassen. »Festigkeit, Mut, Einigkeit!«, das sei unser Wahlspruch; die Nation mus den Camail-Paletot verwerfen. Die Geschlechter dürfen unmöglich die sie unterscheidende und characterisierende Tracht aufgeben; schreckliche Verwirrung würde die Folge sein, aber nimmermehr soll die Hydra der Anarchie ihren tausendköpfigen, scheußlichen Hals zu erheben wagen.

Wir benutzen diese Gelegenheit unseren Lesern mitzuteilen, dass die gestreiften Unaussprechlichen noch immer gern gesehen werden und dass der Erfinder der Geheimratstinktur, um das Ausfallen der Haare und Zähne zu verhüten, ein Patent und die Stieglitzmedaille für Mode und Schönheit, mit der Erlaubnis zum Tragen am graugelben Bande, erhalten hat.

Kaum habe ich diesen Artikel zu mir genommen, so bringt mir der Kellner eine noch feuchte Flugschrift der Oppositionspartei, getitelt: »Über die bürgerliche Kleiderfreiheit«, mit dem Motto, »Jeder ist sein eigener Schneider!«, in der ich nachstehenden Passus finde:

Die Nation wird bei ihrem feinem Geschmack schon wissen, auf wessen Seite sie tritt, wenn die Regierung wirklich so unüberlegt handelt, die Kammern auflösen zu wollen. Unsere Frauen lieben das Vaterland und werden, wir zweifeln nicht daran, mit patriotischer Gesinnung die Männertracht anlegen; die Edelsten des schönen Geschlechtes beginnen schon mit Meerschaumpfeifen und Ischibouts {= Chibouque: türkische Tabakspfeife mit langem Rohr} an öffentlichen Orten zu erscheinen. — Kann es ein schöneres Attribut für sie geben als den feinen, weißen Meerschaum, dem Venus selbst entstieg? Eben so wird der Camail-Paletot den Frack verdrängen und wir haben einen großen Schritt weiter getan, unserem erhabenen Ziele entgegen: der Gleichheit der Geschlechter, die die einzige gesunde Basis aller Politik ist.

Wir ergreifen eifrig die Gelegenheit, die Nation darauf aufmerksam zu machen, dass ein echter Vaterlandsfreund mehr gestreifte Unaussprechliche {= Umschreibung für Männer-Dessous, enganliegende Strümpfe} trägt, und warnen sie zugleich vor der Geheimratstinktur, die gerade befördert, was ihr talentloser Erfinder zu verhindern prahlerisch sich anmaßte.

»Glücklicher Puff!«, rief ich, als ich auch dies gelesen hatte, »du nährst dich mit Caoutschuk statt mit Beefsteak und wrist als Augenzeuge einer Staatsumwälzung beiwohnen!«

(Fortsetzung nächstens)

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