»Eine andere Welt« (19) – Kap. XVII: Ein Nachmittag im zoologischen Garten (1) von Grandville & Plinius dem Jüngsten
Eintrag No. 746 — Zur Inhaltsübersicht.
Die Illustrationen einer alten französischen Ausgabe habe ich dem flick-Album von blaque jaques entnommen.
Je mehr wir von der Natur kennen lernen, desto mehr wissen wir, dass wir noch nichts von ihr wissen.
Über die Nachtseite der Natur. Th. II, S. 1543.
Wie der Schönheit die Laune, so steht der Natur das Ungeheuer.
Neueste Naturphilosophie. Th.. VI, S. 798.
Eindrücke und Dokumente für die Aprilrreise erwartend, setzt Puff die Lektüre von Kracks Manuskript fort.
»Ich bemerkte heute zum ersten Mal, dass rauschende Freuden die Melancholie in ihrem Gefolge haben, der Lärm des Maskenballs umschwirrt mich noch und verscheucht mir allen Schlaf. Die reine Landluft wird mir gut tun, ich eile sie einzusaugen.
»Vor meinen Füßen öffnete sich ein unbegrenzter Raum, ohne Baume, ohne Pflanzen, ohne Blumen. Eine sanfte Dämmerung vertritt die Stelle des Schattens und des Laubes, eine warme balsamische Luft die der Pflanzendürfte; Nichts unterbricht das Schweigen und die Einsamkeit, die ringsum herrschen. Ich schreite vor, indem ich dem Echo, das mir nicht antwortet, die sanften Klänge eines empfindsamen Liedes Preis gab.
»Doch plötzlich, als ich die Bemerkung mache, dass diese Gegend mir nicht allein nicht bevölkert, sondern ganz öde zu sein scheint, vernehme ich einen dumpfen und abgemessenen Lärm in der Ferne. Ohne Zweifel ein Pferd, auf dem ein Reiter sitzt, sage ich zu mir. Aber es war nicht eigentlich ein Pferd und auch nicht eigentlich ein Reiter. Soviel ich während des raschen Vorrübersprengens wahrnehmen konnte, hatte das Geschöpf, das sein eigentümliches Roß zu der Verfolgung eines grünen Bären (von dem ich später erfuhr es sei ein Bär-Boa) antrieb, viel vom Menschen, obwohl seine Füße die eines vierfüßigen Tieres und sein Kopf eben nicht ganz menschlich waren. Ich glaubte zugleich das Bellen eines Hundes zu vernehmen, sah aber nur den runden Rücken einer Schildkröte, welche eifrig die Fährte des Wildes zu verfolgen schien. Zu welchem Geschlechte gehören denn die Geschöpfe, die ich so eben erblickte und wie kommt es, dass Schildkröten wie Windhunde laufen? Ich ging eine halbe Meile weit fort, ohne mir die Frage lösen zu können.
»Überschlage ich es recht, so wandelte ich wohl anderthalb deutsche oder zwei Postmeilen weit, ohne mich von meinem Erstaunen zu erholen. Ich fühlte mich ermüdet, legte mich auf dem Sande hin und schlief ein. Mein Schlummer war ganz traumlos; Morpheus schloß mir hartnäckig das Tor von Elfenbein, durch welches die Träume ziehen, die die Götter und Erdgeborenen erfreuen.
»Da weckte mich das Gebell wieder, ich sah die Schildkröte mit dem Hühnerhundskopfe, die mich kläffend umsprang. Einige Schritte weiter lag das seltsame Roß ausgestreckt auf dem Boden. Der Herr desselben schritt auf seinen beiden Pferdehufen näher und redete mich mit einigen Worten an, die ich mir in meine Sprache übersetzte mit: ›Gehorsamer Diener, mein Herr!‹
»Ich lasse alle weiter Präliminarien dieses Zusammentreffens weg; es genüge Dir zu erfahren, dass dieses überaus höfliche Ungeheuer nichts anderes ist als ein alter Zentaur, den die Naturforscher des Landes damit beauftragt haben, auf die seltenen Tierarten Jagd zu machen, um den neugestifteten zoologischen Garten damit zu bereichern. Der scientistische Jäger nahm mich hinten auf sein Roß, wir durchzogen mehrere Dörfer, und begegneten unterwegs zwei Lieferanten von fremden Bestien, die den zoologischen Garten versorgten, und gerade ein Amphibiendromedar dorthin brachten. Mein Führer teilte mir nun so viel Interessantes über diesen neu gestifteten Garten mit, dass ich mich beeilte ihn zu besuchen.
»Aber eine genaue Beschreibung desselben würde mich zu weit führen. Ich lasse also den Zufall und die Laune eben so bei der Schilderung walten, wie sie es mit mir während des Besuches taten und teile Dir, um doch nicht zu unwissenschaftlich zu sein, die nötigen scientistischen Notizen über die einzelnen Stücke dieser ebenso reichen als merkwürdigen Sammlung mit, wie ich sie dem beschreibenden Verzeichnisse entlehnte, das am Eingang verkauft wird.
»Diese Tiere, halb Fische halb Weiber, werden gewöhnlich in der ficilischen Meerenge gefunden. Ihre vorzügliche Beschäftigung besteht darin, die Schiffer durch ihren Gesang anzulocken und diese dann ihrem unersättlichen Hunger zum Opfer zu bringen. Die Natur hat sie mit einer seltenen und wunderbar schönen Stimme begabt. Ohne Mühe erreicht dieselbe eine fast unglaubliche Höhe, schlägt die prachtvollsten Triller und führt die schwersten Coloraturen aus. Man hat versuchen wollen, sie für die Bühne zu dressieren, aber es war unmöglich sie zu diesem Zwecke zu zähmen, auch konnten sie das trockene Klima der Kulissenwelt nicht vertragen. Ihre Stimme ist übrigens so zart und mächtig, dass die Seefahrer in diesen Gewässern sich häufig genötigt sehn, ihre Ohren mit Jungfernwachs zu verstopfen. Über die Fortpflanzung dieser Tiergattung schwebt die Wissenschaft noch immer im Dunkeln. Die Vermutung, dass die lange am Rhein gesehene und eben so oft besungene als singende sogenannte Lorelei eine versprengte Sirene gewesen (wie als versprengte Walfische gibt), ist durch die neuesten Forschungen zur Gewissheit erhoben worden.
»Rings um das Bassin der Sirenen hatten sich viele wissbegierige Besucher des Gartens versammelt; mir selbst lag daran zu erfahren, welchen Eindruck meine Erscheinung auf diese verräterischen Tiere machen würde. Mehrere junge Leute haben sich bis zur Raserei in diese hübschen Ungeheuer verliebt. Ein Wächter ist beständig gegenwärtig, um sie am Singen zu verhindern. Die leiseste Note, die sie anschlügen, würde unzählige Selbstmorde veranlassen, denn zwei Drittel der männlichen Bevölkerung stürzten sich ohne Zweifel in das Bassin. Die strenge Bewachung der Sirenen gehört zu den peinlichen {im alten Sinne des Wortes ›lästig‹, ›schmerzhaft‹, hier also gemeint: ›mit höchster Anstrengung zu leistenden‹} Amtspflichten des Direktors vom zoologischen Garten. Sein Vorgänger wurde ohne Pension entlassen, weil er einer Sirene einmal die einfache Skala zu singen gestattete; ich billige diese Maaßregel von ganzer Seele und bin überzeugt, die Freunde der Ordnung und der öffentlichen Sittlichkeit stimmen mit mir darin überein.
Wenden wir uns jetzt zu einer anderen Gattung. Wir finden ganz in der Nähe, so wie auf der folgenden Seite des Katalogs:
»Diese Tiere wurden in verschiedenen Reichen gesammelt, wo die Eingeborenen ihnen fast göttliche Ehren, wie ehemals die Ägypter dem Apis und Ibis, erwiesen. Ohne Zweifel hat die Erinnerung an jene Art von Cultus sie stolz gemacht und hindert sie, in gutem Einvernehmen mit einander zu leben. Übrigens arten diese Gattungen von Tage zu Tage mehr aus und einige derselben sind schon gänzlich ausgestorben.
»Stolz! Du richtest auch die Tiere zu Grunde: welche Lehre für die Menschen!«