molochronik
Mittwoch, 16. April 2014

»Warum ›Groschen‹ und nicht ›Cent‹?«

Habe vor einigen Tagen spät Nachts noch die weitergeleitete Frage einer Leserin beantwortet, warum ich an einer bestimmten Stelle meiner Übersetzung von Ted Chiangs Story »Geschichte Deines Lebens« aus dem Band »Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes« der Begriff ›Groschen‹ und nicht ›Cent‹ verwendet habe. — Überraschenderweise waren Golkonda-Herausgeber Hannes & Karlheinz von meiner Antwort so erfreut, dass sie als Newsblog-Eintrag auf der Verlagsseite verbreitet wurde.

Ich will meine Antwort den MoloChronik-Lesern nicht vorenthalten und biete sie also auch in meiner mir eigenen Textformatierung hier an:

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Frage: Warum wird ›Groschen‹ verwendet und nicht ›Cent‹? (Seite 43, Zeile 16 in »Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes«)

Antwort: Gerehrte Fragestellerin.

GOtt sei Dank eine Frage nach einer Übersetzung-Detail-Entscheidung, die ich beantworten kann. (Es ist nämlich keineswegs so, dass ich jede einzelne Übersetzungs-Entscheidung, die auf meinem Mist gewachsen ist, im Nachhinein selbst noch nachvollziehen könnte.)

Warum an der genannten Stelle ›Groschen‹ und nicht ›Cent‹?

Kurze Antwort: Weil im Original eben nicht ›cent‹ steht, sondern ›one slim dime‹.

Aber: ›one slim dime‹ hieße wortwörtlich eigentlich in etwa ›ein mickriges / lausiges Zehn-Cent-Stück‹. Im deutschsprachigen Raum gab es in Österreich vor der Einführung des Euro noch Groschen; in der BRD (in der ich groß geworden bin) war umgangssprachlich damit ein 10-Pfennig-Stück gemeint. Trotzdem nicht ganz das Gleiche wie ein amerikanisches 10-Cent-Stück.

Also längere Antwort: Wichtiger als das wörtliche Übersetzen einzelner Ausdrücke an und für sich ist bei einer Übersetzung von Prosa, Erzählungen, Romanen (zumindest meiner Ansicht nach), die Stimmung, den Rhythmus, den Erzählton zu treffen und möglichst viele der kulturellen, sozialen, zwischenmenschlichen, psychologischen etc. Anspielungen, Anklänge in die deutsche Fassung rüberzuholen, wie nur geht.

Die Stelle im Original:

Gary held up the tent flap and gestured for me to enter. »Step right up,« he said, circus barker-style. »Marvel at creatures the likes of wich have never been seen on God's green earth.« »And all for one slim dime,« I murmured, walking through the door.

Wesentlich scheint mir hier, dass Gary — etwas albern, aber das macht ihn ja liebenswert — ein kleines Rollenspiel beginnt, absichtlich ironisch dramatisiert (um die Spannung zu mildern, sich gleich einer ganz großen, nicht nur wissenschaftlichen, neuen Sache gegenüber wieder zu finden) und sich des altertümlichen Sprachgehabes eines Jahrmarktschreiers bedient. DAS rüberzubringen lag mir am Herzen, und dass die Erzählerin mit ihrer eher beiläufigen, zurückhaltenden Art dennoch bei diesem Rollenspiel mitmacht, indem sie umgangssprachlich (›one slim dime‹) antwortet.

Deshalb also in der deutschen Fassung:

Gary hielt den Zelteingang auf, und bedeutete mir mit einer Handbewegung einzutreten. »Hereinspaziert, hereinspaziert«, sagte er wie ein Zirkusausrufer. »Bestaunen Sie Kreaturen, wie sie auf Gottes schöner Erde noch nie zu sehen waren.« »Und das alles nur für ein paar Groschen«, murmelte ich, als ich durch die Öffnung trat.

Trotzdem, so könnte man beharren, ist one slim dime‹ eben eigentlich ein Groschen‹, ja ganz genau eben ein 10-Pfennig-Stück‹. Aber wie klingt das als Satz?

Letztendlich entscheide ich mich oftmals, was besser klingt, solange es im Grunde eher mehr als weniger inhaltlich stimmt. Buchstäbliche Bedeutung ist eben nicht alles beim Übersetzen.

Ich hoffe, diese Antwort ist hilfreich.

Herzliche Grüße Alexander Müller / molosovsky

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